Am 26. Mai 1789 — vor nunmehr genau 230 Jahren — hielt Friedrich Schiller seine berühmt gewordene Antrittsvorlesung an der Jenaer Universität. In seinen Ausführungen charakterisierte er einen im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit immer häufiger anzutreffenden Menschentyp, den er als den Brotgelehrten bezeichnete. Als sogenannte Brotchristen waren zuvor schon die zahlreichen Mitläufer der Kirche bezeichnet worden, die lediglich zur Erlangung von materiellen oder persönlichen Vorteilen der Kirche beigetreten waren (1).
Der Brotgelehrte dagegen ist ein Mensch, der sich in seiner Tätigkeit weniger an wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert zeigt, sondern weitaus mehr an seinem persönlichen Wohlergehen. Es geht ihm zuallererst um die Sicherung von Lohn und Brot sowie um sein gesellschaftliches Ansehen und seine Karriere, denn — so Schiller — „nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung“ (2). Ebenfalls gilt ihm eine einmal gefundene Wahrheit oder eine erlangte Erkenntnis nur wenig beziehungsweise gar nichts, wenn sie sich nicht gleichzeitig „in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt“ (3).
Solchen Menschen geht es eigentlich nur um die Sicherung ihrer eigenen materiellen Existenz, wodurch sie selbst auf dem Gebiet „der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich“ herumtragen. Wie diese den „Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens“ aufzuhalten vermögen, auch das beschreibt Schiller:
„Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte“ (4).
Außerdem wird sich — so Schiller — dieser Typ eines Gelehrten meist schon „beim Eintritt in seine akademische Laufbahn“ für die besonders nützlichen Wissenschaften entscheiden und sich von allen geisteswissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Disziplinen, den sogenannten brotlosen Wissenschaften, möglichst fernhalten. Er wird also von Anfang an „keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern“ (5). Handelt es sich doch beim Brotgelehrten um einen Menschen, der erst dann „die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt“, wenn es darum geht, „die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann“ (6) — und das möglichst ungestört ein Leben lang.
Das direkte Gegenstück zum Brotgelehrten ist der philosophische Kopf. Dies wiederum ist ein Wissenschaftler, der nicht „seine Wissenschaft von allen übrigen absondert“, sondern der bestrebt ist, „ihr Gebiet zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wiederherzustellen — herzustellen sage ich, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden. Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist“ (7).
Es gab sie also schon zu Schillers Zeiten, diese zwei grundlegend verschiedenen Arten von Akademikern, die sich bis heute vor allem durch ihre Nähe oder durch ihre Unabhängigkeit gegenüber den jeweils Herrschenden unterscheiden.
Aber auch dadurch, wie sie in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich vorgehen. Ob sie bereit sind, den „Zusammenhang der Dinge“ zu beachten und ihre „Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen“, oder ob sie dies nicht tun und „abgeschnitten“ beziehungsweise „herausgerissen“ aus diesen Zusammenhängen denken und handeln (8). Schillers Fragestellung bleibt also aktuell: Brotgelehrter oder philosophischer Kopf?
Kultureller Wandel und akademische Bildung
Im Jahre 2009 erinnerte eine Studentin an Schillers Antrittsvorlesung von 1789 und verfasste einen Essay mit dem Titel „Wir sind alle Brotgelehrte“ (9). Darin wies sie auf den kulturellen Wandel sowie auf die sich daraus ergebenden Veränderungen in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen hin und charakterisierte die gegenwärtige Situation der schulischen Bildung wie folgt:
„Vieles deutet darauf hin, dass heutzutage andere Wertvorstellungen gelten, als jene, die Schiller lehren wollte. Die westliche Kultur vermittelt, dass man nie genug Zeit habe und dass Geld sehr wichtig sei im Leben. Schon bei kleinen Kindern ist das heutzutage der Fall. Am besten wird man schon mit fünf Jahren eingeschult, wer intelligent ist, darf Schulklassen überspringen. Die gymnasiale Oberstufe wird von drei auf zwei Jahre verkürzt, wobei das Wiederholen von Jahrgangsstufen bei schlechten Noten abgeschafft werden soll. Die SchülerInnen werden, so schnell es geht, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt und, so gut es geht, auf ihn vorbereitet“ (10).
An den Universitäten und Hochschulen studiere man heute vor allem „zeitfixiert und prüfungsorientiert“ sowie „über Drittmittelprojekte oder der Bachelorarbeit direkt der Wirtschaft zu“. Auf diese Weise würden in Deutschland vor allem „Perfektionisten spezieller Begabungen ausgebildet oder — anders ausgedrückt — ‚pedantische Fachidioten‘“ (11).
Das vorherrschende Konkurrenzdenken führe zudem bereits schon in jungen Jahren „zu einer Hemmung des freien Gedankenaustausches“. Auch sei das Studium heute durch eine „reine Wissensweitergabe“ gekennzeichnet, die „der Unbegrenztheit des Wissens nicht gerecht“ werde. Die Folge davon ist, dass die Studierenden das Wissen oft nur noch auswendig lernen, „statt persönliche Leistungen zu erbringen“ (12).
Ein individuell wählbares Fächerangebot werde durch verengte Studiengänge verhindert, weshalb auch die notwendige Interdisziplinarität vollkommen verloren gehe. Blicke über den Tellerrand seien somit kaum mehr möglich. Das Fazit ihres Essays lautet:
„Eine Freiheit ist verloren gegangen, die nötig ist, um den Geist frei entfalten zu können. Unter den vorherrschenden beschränkten Rahmenbedingungen ist es schwierig, Kreativität, Originalität und eine individuelle Persönlichkeit zu entwickeln“ (13).
Auch brachte die fortschreitende Bürokratisierung der wissenschaftlichen Bildung, die großen Wert auf formale Abschlüsse sowie auf zu erwerbende Titel legt, „in großer Zahl einen neuen Typus des Studenten hervor, dem die höhere Bildung völlig gleichgültig war“, der sie aber vor allem aus wirtschaftlichen Gründen oder aber zur Verbesserung seines Images „über sich ergehen lassen musste“ (14).
Solch ein Studierender zeigt auch wenig Interesse, den vermittelten Lehrstoff kritisch zu hinterfragen oder gar die wissenschaftliche Forschung mit neuen Ideen zu bereichern und damit voranzubringen. Als wirklich wichtig erscheint dann nur noch der Erwerb solcher Kenntnisse, die man für sein eigenes berufliches Fortkommen irgendwie zu brauchen glaubt.
Wer aber, unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, nach dem Studium ein gesichertes Gelehrtendasein an den Universitäten und Hochschulen dauerhaft führen möchte, muss sich zunächst erst einmal tüchtig strecken. Er muss sich über einen längeren Zeitraum — Promotion, Habilitation — ganz schön abstrampeln und außerordentlich gut funktionieren, denn es „kostet viele Publikationen über Spezialgebiete, um überhaupt vom Forschungsassistenten zum Lebenszeitbeamten aufzusteigen“ und dabei möglichst einen Lehrstuhl oder eine Professur zu erlangen (15).
Doch trotz unkündbaren Beamtenstatus scheint immer noch einseitiges Spezialistentum sowie eine durch Anpassung an die jeweils herrschenden Mächte gekennzeichnete Haltung weit verbreitet zu sein, denn „der durchschnittliche deutsche Intellektuelle und Professor arrangiert sich, einer sehr alten und über die verschiedensten Regime beständigen Tradition folgend, weiterhin und weitgehend mit Institutionen, die Macht haben…“, so auch die Einschätzung von Franz Buggle, der selbst über viele Jahre Professor an deutschen Universitäten war (16).
Buggle hat diese Worte vor über 20 Jahren geschrieben. Ob der „durchschnittliche deutsche Intellektuelle und Professor“ auch heute noch dieser Einschätzung entspricht, kann hier nicht entschieden werden. Hat sich doch erst kürzlich gezeigt, dass Wissenschaftler durchaus noch dazu in der Lage sind, sich zumindest in existentiellen Fragen der Menschheit auch gegen die wirtschaftlich und politisch Mächtigen zu stellen und sich dabei mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu solidarisieren.
Andererseits sind in den letzten Jahren Entwicklungen eingetreten, die die Anforderungen an die Wissenschaft und damit auch an die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft nachhaltig verändert haben. So hat der gewachsene Einfluss der Wirtschaft dazu geführt, dass die Unabhängigkeit der Wissenschaft zunehmend in Frage gestellt wird, und sie erst dann das notwendige Ansehen erhält, „wenn sie am Markt erfolgreich ist, den jene beherrschen, die über finanzielle Mittel zur Erstellung von Expertisen verfügen“ (17).
Der moderne Wissenschaftsbetrieb wird charakterisiert durch die Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien, durch Drittmittelforschung, durch die wachsende Abhängigkeit von den Geldern und Interessen der Privatwirtschaft, staatlicher Einrichtungen und externer Sponsoren sowie durch die prekären Arbeitsverhältnisse der wissenschaftlichen Mitarbeiter in Form von befristeten Arbeitsverträgen.
Auf diese Weise verliert die wissenschaftliche Forschung zunehmend ihre Unabhängigkeit. Dagegen wird sie immer mehr in den Dienst der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse gestellt, was sich wiederum auch auf das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auswirken muss.
Schließlich passt sich das neue Verständnis von wissenschaftlicher Leistung — so auch das Fazit des Politikwissenschaftler Werner Ruf — „wie in einem Räderwerk in die hegemonial vorgegebenen politischen und ökonomischen Strukturen ein. Wissenschaftliche Auseinandersetzung verlagert sich von inhaltlicher, methodischer, auf Erkenntnisgewinn abzielender diskursiver Debatte zur Konkurrenz um Mittel, Anerkennung und Marktanteile“ (18).
Schulische Bildung als Ausbildung für den Arbeitsmarkt
Mit der fortschreitenden Zersplitterung der Welt und des Denkens ging eine Aufspaltung der Wissenschaften einher. Diese führte zur Herausbildung einer Vielzahl von Einzeldisziplinen und zu deren weiterer Spezialisierung in immer neue Teil- und Untergebiete. Das hat eine Gesamtsicht auf die Welt sowie auf den Menschen zunehmend verhindert und inzwischen nahezu unmöglich gemacht.
Eine direkte Folge dieser Entwicklung ist der sogenannte Fachgelehrte mit seinem einseitigen Spezialistentum. Natürlich weiß ein solcher Mensch, zumindest innerhalb seines speziellen Arbeitsbereiches, meist glänzend Bescheid und ist damit alles andere als ungebildet. Andererseits mangelt es ihm aber oft schon an grundlegender Bildung in den anderen Wissenschaftsbereichen, da er sich vielfach nur um solche Dinge kümmert, die ausschließlich in direkter Verbindung mit seinem eigenen Fachgebiet und mit seinen beruflichen Interessen stehen.
Als Spezialist ist er „in seinem winzigen Weltwinkel vortrefflich zu Hause; aber er hat keine Ahnung von dem Rest“, und wir werden ihn spätestens dann — wie Ortega y Gasset meint — als „einen gelehrten Ignoranten“ bezeichnen müssen, wenn es ihn dazu treibt, „auch außerhalb seines Spezialgebietes das große Wort führen zu wollen“. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn er sich in Fragen, von denen er eigentlich nicht viel versteht, „mit der ganzen Anmaßung eines Mannes aufführen wird, der in seinem Spezialgebiet eine Autorität ist“ (19).
Zudem schuf die kulturell bedingte Spaltung zwischen Geist und Materie auch eine wachsende Fremdheit zwischen den beiden großen Bereichen der Wissenschaft. So haben Geistes- und Naturwissenschaften bis in die heutige Zeit „kaum eine gemeinsame Sprache“ gefunden, „in der sie auch nur miteinander reden könnten, und oft genug sind beide sogar auf diese Fremdheit stolz“ (20).
Große Wissenschaftler wie Heisenberg, Einstein oder Schrödinger verfügten dagegen noch über eine derart umfassende Allgemeinbildung, vor allem auf philosophischem Gebiet. Diese machte es ihnen möglich, zu einer Art fachübergreifender Synthese des vorhandenen Wissens zu gelangen, ohne die sie sicherlich auch kaum zu ihren wissenschaftlichen Erfolgen, zu ihren — oft völlig neuartigen — Einsichten und Schlussfolgerungen gekommen wären.
In der heutigen Zeit hat jedoch schon die schulische Bildung vor allem den Anforderungen des Marktes zu genügen. Das öffentliche Bildungswesen wurde deshalb — wie andere gesellschaftliche Bereiche auch — zunehmend ökonomisiert, wobei die Herausbildung von beruflicher Handlungsfähigkeit sowie die Einübung rein funktionaler Kompetenzen meist wichtiger erschienen als eine breit angelegte Bildung oder die Erlernung der Fähigkeit zum kritischen Denken.
Es wird zwar noch viel — und in letzter Zeit sogar wieder zunehmend — vom Wert der Bildung gesprochen, doch diese hat nun vor allem der erfolgreichen Ausführung eines bestimmten Berufes zu dienen und wird mehr und mehr zur bloßen Ausbildung. Ihr Stellenwert reduziert sich auf das erfolgreiche Bestehen auf dem Arbeitsmarkt, auf die Sicherung des Lebensunterhalts und auf die Gewährleistung des sozialen Prestiges, während alle darüber hinaus gehenden Fähigkeiten und Bildungsinhalte, die lange Zeit das eigentliche Menschsein ausmachten, meist nur noch als überflüssig oder gar als unnütz betrachtet werden.
Man fordert zwar höhere Bildungsinvestitionen, begrenzt die Bildung aber zugleich „auf ihre berufliche Verwertbarkeit, auf das, was Unternehmen nachfragen“ (21). An die Stelle der Bildungsbürger vergangener Zeiten tritt zunehmend die Halbbildung der neuen „Leistungsträger, der Techniker des praktischen Wissens“ (22).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Schmidt, Alvin J: Wie das Christentum die Welt veränderte. Gräfelfing 2009, S. 31.
(2) Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: Schillers Werke in fünf Bänden. Dritter Band. Berlin und Weimar 1974, S. 277.
(3) Ebd.
(4) Ebd.
(5) Schiller, a.a.O., S. 276.
(6) Ebd.
(7) Schiller, a.a.O., S. 278.
(8) Schiller, a.a.O., S. 280; S. 278.
(9) Stein, Anita: Wir sind alle Brotgelehrte. Beitrag zum Essay-Wettbewerb der Leuphana Universität Lüneburg 2009: Was ist der Bildungsauftrag der Universität?
(10) Ebd.
(11) Ebd.
(12) Ebd.
(13) Ebd.
(14) Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. Hamburg 1995, S. 343; S. 175f.
(15) Rust, Holger: Die Revolution des Spießertums. Wenn Dummheit epidemisch wird. Berlin 1999, S. 185.
(16) Buggle, Franz: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift. Aschaffenburg 2012, S. 376.
(17) Ruf, Werner: Marktgerechter Frieden. Der Neoliberalismus hat die Friedensforschung entpolitisiert und sie den Gesetzen der Rentabilität unterworfen. In: Rubikon, 02. März 2019.
(18) Ebd.
(19) Ortega y Gasset, Jose: Der Aufstand der Massen. Frankfurt am Main und Wien 1997, S. 110f.
(20) v. Weizsäcker, Carl Friedrich: Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart 1990, S. 436.
(21) Schui, Herbert: Die große Aggressionsverschiebung. In: Hintergrund. Das Nachrichtenmagazin, 9. Januar 2015.
(22) Ebd.
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