Eile und Hektik halten Einzug in die Schule — und mit ihnen der Effizienzimperativ. Doch Lernen lässt sich nicht beschleunigen. Schule braucht Zeit. Eine Erinnerung an ihren Ursprung.
Die Schule hat einen wunderschönen Namen. Er stammt aus dem Altgriechischen. Aristoteles‘ geschliffener Begriff müsste Programm sein: scholé, was so viel wie Muße heißt (1).
Die Schule, die scholé, wäre jener Ort, an dem sie noch möglich sein müsste, eine gewisse Muße. Ein Ort, an dem man füreinander Zeit hat und einander zuhört, zueinander findet und sich aneinander reibt, miteinander lernt und gemeinsam zu Neuem unterwegs ist. Das ist der tiefe Sinn von Schule.
Bildung basiert auf scholé. Lernen kann man nicht beschleunigen. Lernen kennt keine Autobahnen, keine Schnellstrassen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege und da gehören Bergpfade dazu. Manchmal auch Unterholz und Dickicht. Und natürlich Umwege. Darum braucht Lernen Zeit. Eben: scholé!
Intensives Wiederholen gegen das Vergessen
Was prägen und bleiben soll, muss zum Erlebnis werden. Was trainiert und automatisiert sein will, muss erarbeitet werden. Das weiß jede Sportlerin, das ist jedem Musiker bewusst. Für beides ist Ver-Weilen nötig. Doch Weile braucht Zeit. Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass der Mensch um die sechs bis acht Wiederholungen braucht, um eine Information vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen. Ohne Wiederholungen nimmt das Vergessen seinen unerbittlichen Lauf. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens (2).
In der beschleunigten Bildungspraxis gehen solche Einsichten allzu schnell vergessen; dabei wären sie aufgrund zahlreicher psychologischer Studien erwiesen.
Für alles zu wenig Zeit!
„Ich hetze und hechle von einem Inhalt zum andern und komme mit meinen Schülern kaum zum Vertiefen, zum Üben schon gar nicht“, klagte mir ein Junglehrer. Er ist nicht allein. Wer in Lehrerzimmer und Schulen hineinzoomt, hört immer wieder ähnliche Stoßseufzer: kaum Rast, stets die Last der Hast, Dauerdruck und Zeitzwang. Zur Resonanz, zum Nacherleben, Nachdenken, Nach-Gespräch bleibe im Nonstop-Programm des Lehrplans kaum mehr Raum.
Selbst zum Erzählen einer guten Geschichte fehle das Gefäß. Zu vieles müsse in zu wenig Zeit durchgenommen sein. Die Phasen des Repetierens und Automatisierens kämen zu kurz. Manches bleibe darum an der Oberfläche.
Ein dichtes Pensum und gedrängtes Programm stehen dem Erkennen und Verstehen der Kinder im Weg. Sie verhindern gar gutes Lernen.
Pausen in der Pausenlosigkeit
Auch der liebliche Ausdruck „Pause“ geht etymologisch auf einen altgriechischen Begriff zurück: paūsis. Das Wort blieb erhalten, weil es etwas menschlich Elementares bezeichnet: Rast, Ruhe, Stillstand. Das „Innehalten“ ermöglicht ein Voraus- und ein Nachdenken. Beides, das Prometheische wie das Epimetheische, ist unabdingbares Element echter Kultur und Bildung. Dazu braucht es aber Zeit und Muße für Er-innerung, Ver-innerlichung, Wahr-nehmung.
Das Pausenlose gefährdet dieses Anhalten und Reflektieren: Innehalten als inspirative Zone des Verweilens, als kreativer Raum des Nachdenkens und Begrifflich-Werdens des Gedachten. Es ist ein verweilendes Denken, dem keine App zu Hilfe eilt.
Der Zeitgeist heißt Rasanz
Der Zeitindex ändert sich. Heute muss alles schnell gehen. Für alles haben wir zu wenig Zeit. Im Kleinen und im Großen. Wir alle erfahren unsere Epoche als dynamisches Gebilde. Tempo und Rasanz sind ihre Merkmale. Das bringt uns in Atemnot, auch in den Schulen. „Le temps mange la vie“, hat der französische Dichter Charles Baudelaire in einem Gedicht geschrieben. Ein lapidarer Satz. Die Zeit zehrt das Leben auf.
Von „Zeitfressern“ erzählt auch Momo, die struppige kleine Heldin im poetischen Märchen-Roman von Michael Ende. Die Grauen Herren von der Zeitsparkasse rauben den Menschen die Zeit — bis auf Momo. Sie hat und nimmt sich Zeit. „Denn Zeit ist Leben“ (3). So heißt es in Endes Kindergeschichte für Erwachsene. Auf die Schule übertragen: Lernen ist nur dort möglich, wo Leben ist und Zeit.
Mut zum Gegenhalten
Die Schule darf sich darum die Zeit und Muße nicht stehlen lassen; sie darf nicht zur a-scholia verkommen. Schule und Unterricht hatten schon immer den Auftrag, auch gegenläufig zu wirken und Gegenhalte-Kräfte zu aktivieren. Vielleicht passt dazu der Gedanke des vergessenen Schriftstellers Jean Paul. In seinem Erziehungsbuch plädiert er dafür, die Kinder gegen den Zeitgeist zu erziehen.
Warum? Der Zeitgeist, so argumentiert er, würde selbst schon genug Wirkung entfalten. Schule wie Elternhaus müssten für die kompensatorische Balance sorgen. Und für Balance sorgen heißt heute: die scholé stärken — gegen den Turbo-Zeitgeist.
Die Hektik müsse darum aus den Schulen raus, fordert der renommierte Neurowissenschaftler Gerhard Roth seit Langem (4). Bildung lässt sich nicht in der Hast raschen Durchnehmens erwerben. Sie braucht scholé. Bildung ist zwar eine schöne Sache, doch der Weg dorthin ist anstrengend und alles andere als Fast Food. Die Schule ist kein Take-away für Bildung, wo sich alle anmelden und alle den ersehnten Abschluss wie eine Billigpizza erhalten. Es ist das simple Geheimnis aller Bildung: dass sie Engagement und Einsatz erfordert. Bildung ist nicht ein Zustand, auch kein Input-Output-Verfahren, sondern persönlicher Prozess und individuelle Entwicklung eines Menschen — und der Würde der menschlichen Existenz. Das dauert seine Zeit.
Die Philosophen fragen
Die Philosophen haben die Schule den Pädagogen überlassen, schreibt der Jurist Bernhard Schlink in seinem Roman „Der Vorleser“. Auch das ist vorbei. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung macht es deutlich: Heute liegt die Schule in den Händen von Empirikern und Ökonomen. Da kann es nicht schaden, einen Philosophen nach dem Wesentlichen und Eigentlichen der Bildung zu fragen.
Schulen brauchen Zeit fürs Vertiefen
Im Rahmen seines St. Galler Vortrags mit dem Titel: „Überleben die humanistischen Bildungsideale die digitale Wende?“ meinte der Philosoph und Physiker Julian Nida-Rümelin:
„Wichtiger denn je ist das zentrale humanistische Bildungsideal, das sich in zwei Begriffe fassen lässt: Es geht um Persönlichkeitsbildung und Urteilskraft. Junge Menschen müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst ein verlässliches Urteil zu bilden. Angesichts eines immensen Angebots an Informationen, Meinungen und Ideologien müssen Schüler und Studenten unterscheiden lernen. Sie müssen Zeit haben, Argumente abzuwägen. Das ist es letztlich, was die Schule vor allem braucht: Zeit, um zu vertiefen“ (5).
Momo bringt den Menschen die gestohlene Zeit zurück. Eine zeitlose Botschaft — auch für die Schulen. Scholé braucht Zeit.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. dazu Klaus Bartels: Mehr Mut zur Musse. Kleine Kulturgeschichte der Liebe zum Beruf. Zürich: Bank J. Vontobel o. J., S. 11.
(2) Klaus Zierer: Die Grammatik des Lernens. Was bei der Digitalisierung im Bildungsbereich nicht vergessen werden darf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 04.10.2018, S. 7.
(3) Michael Ende: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stuttgart: K. Thienemanns Verlag 1974, 5. Aufl. S. 57.
(4) Vgl. Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta 2011.
(5) Julian Nida-Rümelin, Silicons Valleys aufgeblähte Utopie, in: Luzerner Zeitung, 26.09.2018, S. 15.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „[Bildung braucht „scholé“]”( https://www.journal21.ch/bildung-braucht-schole)“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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