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Leistet Widerstand!

Leistet Widerstand!

Gegen die Massensuggestionen der Kriegstreiber hilft nur die Besinnung auf das eigene Gewissen und die eigene Kraft.

Der französische Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland (1) wendet sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in leidenschaftlichen Aufrufen, Artikeln und Briefen gegen die Kriegshysterie und den Chauvinismus der Deutschen und Franzosen. Rollands Werke durchzieht ein Leitmotiv: der Hass auf den Krieg, der die Völker voneinander entfernt und die Liebe zerstört.

In seinem Antikriegs-Roman „Clerambault — Geschichte eines freien Gewissens im Krieg“ (2) führt Rolland uns an die beginnende Massenpsychose vor dem Ersten Weltkrieg auf französischer Seite heran. Mit dem Schlachtruf „In drei Wochen sind wir wieder zu Hause!“ rückten die Soldaten singend ein, auch um damit ihre Angst zu überspielen. Das war vor über 100 Jahren. Es lohnt sich, sich einmal in aller Ruhe in die damalige Zeit einzulesen und sie mit der heutigen zu vergleichen.

Agénor Clerambault, der Protagonist oder Held der Geschichte ist Dichter, Idealist und zunächst Kriegsbefürworter. Allmählich wandelt er sich zum Kriegsgegner und wird schließlich auf offener Straße von einem Fanatiker erschossen. Diese Geschichte, die heftige Kritik am bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem übt, stößt auf scharfe Ablehnung sowohl im bürgerlichen Lager als auch bei den linken Sozialisten, die Rolland Pazifismus, Individualismus und Skeptizismus vorwerfen. Doch für Rolland gleicht der Krieg einer „kosmischen Krise“, einem „Phänomen kollektiver Pathologie“. Rolland selbst schreibt in der Einleitung:

„Gegenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der Krieg es überschattet. Sein wirkliches Thema ist das Versinken der Einzelseele im Abgrund der Massenseele. Und dies ist für mein Empfinden ein für die Zukunft der Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die vorübergehende Oberherrschaft der einen oder der anderen Nation.

Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber wie immer auch man den Ursprung des Krieges begründe, mit welchen Thesen und Gründen man ihn erklären möge — keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das Kapitulieren der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.

Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem abgestorbenen Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, gedeckt ist, hat die Geistigen Europas verleitet, sich zu dem Glaubensartikel zu bekennen, es gäbe für den Menschen kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu sein. Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.

Ich aber scheue mich nicht zu sagen: Wer sich zum blinden Diener einer so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt, wie es die Staaten von heute sind, in denen eine Handvoll Menschen in ihrer Unfähigkeit, die Vielfalt der Völker zu begreifen, durch die Lügen der Presse, den unersättlichen Mechanismus des vereinheitlichten Staatswesens den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten, Leidenschaftlichkeiten und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten aufzwingt — wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft, sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich selbst. Wer den anderen von Nutzen sein will, muss vorerst frei sein. Auch Liebe ist wertlos, solange sie die eines Sklaven ist.

Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt am meisten not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte Unterwerfung durch die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit der Vaterländer, abstumpfender Unitarismus im Sozialismus — kehren wir zur Form des Herdenlebens zurück. Nur langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde entrungen. Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung erschöpft sei, und er lässt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn mit sich ... Auf darum! Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, dass der Kreislauf noch nicht erfüllt sei!

Wagt es, euch von der Herde abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muss, so er ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu denken — wenn es not tut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt für alle denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen, wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit zuliebe euer Gewissen und eure Gedanken fälscht, dient ihr der Menschheit, sondern indem ihr ihre Unantastbarkeit gegen gesellschaftlichen Machtmissbrauch verteidigt; denn sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, so seid ihr untreu gegen sie. Sierre, März 1917, R. R.“ (3).

Im zweiten Teil des Romans schildert Romain Rolland die Versuche seines Protagonisten Agénor Clerambault, mit seinen Mitmenschen zu sprechen, um sie für seine Antikriegsgedanken zu gewinnen, und auf welche Mechanismen des teils unbewussten Widerstands er bei seinen Diskussionspartnern stößt. Eine Erfahrung, die man auch heute macht:

„Clerambault versuchte mit dem einen oder dem andern zu sprechen. Überall aber stieß er auf denselben Mechanismus unterirdischen, halb unbewussten Widerstandes. Sie waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder eigentlich mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt wie eine Ente vom Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen zum Zweck ihrer Bequemlichkeit mit einer ganz unschätzbaren Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich nämlich auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas nicht sehen oder hören wollen. Und haben sie schon durch irgendeinen peinlichen Zufall irgendetwas bemerkt, was ihnen lästig ist, so verstehen sie die Kunst, es sofort wieder zu vergessen.

Wie viele Bürger gab es doch in allen Vaterländern, die genau wussten, wie es um die beiderseitige Verantwortlichkeit im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle Rolle ihrer politischen Führer kannten, aber sie zogen vor, sich selbst zu betrügen und sich so zu stellen, als wüssten sie nichts davon. Schließlich gelang es ihnen sogar, das genaue Gegenteil zu glauben.

Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich, kann man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen flohen, die — wie Clerambault — ihnen behilflich sein wollten, sich selber zu erwischen. Um sich davonzumachen, schämten sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten Männer nicht, alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe anzuwenden, deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder bedienen.

Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen könnte, sprangen sie beim ersten ungeschickten Wort Clerambaults auf, rissen es aus dem Zusammenhang, fälschten es, wie es ihnen passte, um sich darüber dann künstlich aufzuregen, laut mit aufgerissenen Augen zu schreien, sich entrüstet zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße zu werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das Gegenteil bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen sie auf, schlugen die Türen zu: Jetzt habe ich genug. Um dann zwei Tage oder zehn nachher die breitgeschlagenen Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen wäre.

Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in bewusster Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus, sie reizten ihn durch freundliches Entgegenkommen, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte, um dann plötzlich loszubrechen. Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, dass es ihm an gesundem Menschenverstand fehlte, (‚gesund‘ sollte natürlich heißen: an ‚meinem‘, an ‚unserem‘).

Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier keine Angst hatten und gern die Diskussion aufnahmen in der Hoffnung, das verirrte Schaf wieder zur Herde heimzuführen. Sie diskutierten nicht die Anschauung Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei, und appellierten an seine gute Gesinnung.

‚Gewiss, gewiss. Sie haben im Grunde recht, im Grunde denke ich ganz so wie Sie, fast so wie Sie. Oh, ich verstehe Sie, lieber Freund ... Aber, lieber Freund, seien Sie vorsichtig, vermeiden Sie es doch, die Gewissen der Kämpfer zu beunruhigen ... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft. Man darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht sofort. Die Ihre wird sehr schön sein ... in fünfzig Jahren. Man darf nicht hastiger sein wollen als die Natur, man muss warten ... warten, bis die Zeit für sie reif sein wird ...

Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter oder die Dummheit der Ausgebeuteten müde geworden ist? Können Sie denn nicht verstehen, dass die klaren und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie zugunsten der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen auf das Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der Natur widerstreben, der sie zu dienen vorgeben, dass sie gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter den sich zu beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man einen Teil, und gerade den besten ihres Sinnes, zum Schweigen bringt? Diese Auffassung, die dem Leben seine kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften der Masse unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten, die große Masse der Armee ohne Führung zu lassen ...

Wenn ein Kahn sich nach einer Seite neigt, wollt ihr mich hindern, mich auf die andere zu setzen, um ein Gegengewicht zu schaffen? Oder soll sich die ganze Besatzung auf die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die fortgeschrittenen Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt. Ohne sie geht der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt, das ist für mich nebensächlich. Wer sie ausspricht, muss sich darauf gefasst machen, gesteinigt zu werden, wer sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos. Er ist gleichsam ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem Auftrag zu entziehen?‘“ (4).


Quellen und Anmerkungen:

(1) Romain Rolland (1866 bis 1944): 1886/69 Studium an der École Normale Supérieure in Paris; 1889/91 und 1892/93 in Rom; 1891 bis 1912 Dozent für Kunstgeschichte und Musik; während des Ersten Weltkriegs beim Roten Kreuz in Genf; 1915 Nobelpreis für Literatur; 1936 Reise in die Sowjetunion, Begegnung mit Gorki; Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Siehe Werkverzeichnis.
(2) Reinbeck bei Hamburg (1988). Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Zweig. Ersterscheinung 1920 im Pariser Verlag Ollendorff. Ursprünglicher Titel „Einer gegen alle“ (1917).
(3) ebenda, S. 11f.
(4) ebenda, S. 105ff.


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