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Legale Massentötung

Legale Massentötung

Die zerstörerische Wirkung des Zigarrettenkonsums könnte man nur durch ein weltweites Verbot in den Griff bekommen. Teil 2.

Was ist zu tun?

Im Kapitel 30 (1, S. 549 ff) beschäftigt sich Proctor mit der Frage, was getan werden muss, um den massenhaften vorzeitigen Tod durch Tabakrauchen zu verhindern. Die Tabakindustrie wolle uns glauben machen, dass das Tabakproblem gelöst ist, so Proctor. Aber in Wirklichkeit sei die Situation so, dass die meisten Todesfälle durch Tabakrauchen noch vor uns liegen.

Während im 20. Jahrhundert insgesamt etwa 100 Millionen Menschen am Tabakrauchen weltweit verstorben sind, müssen wir im 21. Jahrhundert mit etwa 1 Milliarde vorzeitiger Todesfälle rechnen, wenn wir so weiter machen wie bisher, meint der Autor von „Golden Holocaust“. Diese weltweite Zigarettenkatastrophe habe schon begonnen. Es wäre als großer Erfolg zu werten, wenn es durch eine effektive Tabakkontrolle gelänge, den Zigarettenkonsum einzudämmen und so die Zahl der weltweiten Todesfälle durch Tabakrauchen im 21. Jahrhundert auf 300 oder 400 Millionen zu begrenzen.

Um dieses Ziel zu erreichen, unterbreitet Proctor in seinem Buch 20 Vorschläge mit jeweils ausführlichen Begründungen, von denen die ersten zehn nach seinem Urteil weltweit zwingend umgesetzt werden müssten. Diese zehn Vorschläge möchte ich kurz vorstellen (deutsche Übersetzung durch mich).

Der erste Vorschlag ist, dass Rauchen in den Innenräumen aller öffentlichen Einrichtungen mit Publikumsverkehr und im Freien verboten werden muss. Das müsse beispielsweise auch für öffentliche Parks und Badestrände gelten, aber ebenso für Appartementkomplexe und andere Wohnformen, wo der Tabakrauch von einer Wohneinheit leicht in die nächste gelangen kann.

Zweitens schlägt Proctor vor, die Zigarettensteuer und damit den Preis der Zigaretten deutlich zu erhöhen. Wissenschaftlich gut untersucht ist, dass bei einer Preiserhöhung um 10 Prozent pro Packung der Zigarettenverbrauch um 4 Prozent sinkt. Einige werden einwenden, das sei unfair gegenüber den Armen. Deshalb müssen aus der erhöhten Tabaksteuer Programme zur Raucherentwöhnung finanziert werden, auch die Kosten der dabei eingesetzten Medikamente.

Die Erhöhung der Tabaksteuer müsse spürbar sein, damit ein möglichst großer Effekt erzielt wird.

In den USA kostet eine Packung Zigaretten etwa 5 Dollar, in einigen Ländern Europas hingegen umgerechnet 10 bis 12 Dollar. Eine Verdopplung des Preises in den USA erscheint Proctor deshalb nicht unmöglich. Weiterhin sind steuerfreie Zonen für Tabakwaren abzuschaffen und der illegale Handel ist zu beenden. Das könne am Besten gelingen, wenn der Staat die Tabaksteuer direkt am Ort der Produktion erhebt, also bei den Zigarettenmaschinen der Tabakindustrie.

Drittens müsse jede Form von direkter oder indirekter Zigarettenwerbung unterbunden werden. In vielen Ländern — wie bei uns in Deutschland — ist schon ein Verbot der Tabakwerbung in einigen Medien wie der Printpresse, bei Rundfunk und Fernsehen in Kraft. Dieses Verbot müsse auf alle weiteren Formen der Werbung auf Plakaten und im Kino sowie kulturelles Sponsoring ausgedehnt werden und auch die sehr wirksame Markenwerbung auf den Zigarettenpackungen einschließen. Die Zigarettenpackung sollte aus einer einfachen weißen Schachtel mit darauf gedruckten großen Warnhinweisen in Bild und Text bestehen.

Proctors vierter Vorschlag lautet, auf den Zigarettenpackungen möglichst große und abschreckende Warnhinweise anzubringen und deshalb drastische Bilder zu verwenden. Psychologen haben die Wirkung von Warnhinweisen untersucht und festgestellt, dass in Kanada Bilder mit Mund- und Zahnkrankheiten und in Brasilien Bilder mit Frühgeborenen den größten abschreckenden Effekt hatten.

Fünftens sollte der Verkauf von Zigaretten überall verboten werden, außer in speziell vom Staat lizenzierten Geschäften. In den meisten Staaten der Welt wird der Kauf von Zigaretten viel zu leicht gemacht. In einigen Staaten der USA ist hochprozentiger Alkohol nur in speziellen Geschäften zu erwerben, und das Gleiche müsse auch für Zigaretten gelten. Zigarettenautomaten seien ebenfalls zu verbieten, ebenso die kostenlose Verteilung von Zigaretten zu Werbezwecken.

Proctors Vorschläge Nummer sechs bis zehn möchte ich der Vollständigkeit halber kurz erwähnen. Sein sechster Vorschlag: alle Spielfilme für Jugendliche ohne Begleitung Erwachsener zu verbieten, in denen geraucht wird; Vorschlag sieben: alle Subventionen für den Tabakanbau zu streichen; Vorschlag acht: die finanzielle Unterstützung für Maßnahmen zur Tabakprävention und zur Raucherentwöhnung zu erhöhen, und Vorschlag neun bezieht sich auf Vermittlung von Maßnahmen zur Tabakprävention, die im Kindesalter beginnen, mit Bildern unterstützt und kreativ durchgeführt werden sollten.

Zehntens schlägt Proctor vor, mehr als bisher auf die Stimmen der Raucher zu hören. Die Hälfte der Raucher will das Rauchen beenden, und wir müssen wissen, was sie darüber denken und was getan werden kann, um ihnen den Ausstieg zu erleichtern. Das betrifft insbesondere diejenigen, die schon an einer typischen Raucherkrankheit leiden.

Nach Proctors Auffassung müssen diese Vorschläge als wichtigste kleine Schritte unbedingt weltweit umgesetzt werden, um die globale Zigarettenkatastrophe im 21. Jahrhundert zu begrenzen und einzudämmen. Bekanntlich stehen deren konsequenter Umsetzung aber sehr mächtige Wirtschaftsinteressen entgegen.

Das Rahmenübereinkommen der WHO

Die meisten Vorschläge Proctors sind im „Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs“ (WHO Framework Convention on Tobacco Control- abgekürzt: FCTC) enthalten, das die Weltgesundheitsorganisation 2003 beschlossen hat (3). Dieser völkerrechtliche Vertrag trat 2005 in Kraft. Bis 2011 ist das Rahmenübereinkommen von 169 Staaten in der UNO unterzeichnet worden, darunter von Deutschland, Österreich und der EU. Inzwischen hat es noch eine größere Zahl von Staaten ratifiziert. Die USA sind der einzige große Staat, der das WHO-Rahmenübereinkommen bisher nicht ratifiziert hat.

Ziel des Rahmenübereinkommens ist, die heutigen und künftigen Generationen vor den verheerenden gesundheitlichen, sozialen und die Umwelt betreffenden Folgen des Tabakkonsums und des Passivrauchens zu schützen.

Der Vertrag ist nach Proctor kein Wundermittel, aber eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung, sodass die Staaten außer bildlichen Warnhinweisen mehrere Maßnahmen einführen könnten: zum Beispiel die Steuer auf Tabakwaren erhöhen, Tabakwerbung in Print- und anderen Medien einschließlich des Sponsoring von Kultur- und Sportveranstaltungen verbieten, Zigarettenautomaten verbieten, die Beteiligung der Zigarettenindustrie an der staatlichen Tabakkontrollpolitik verbieten und die Bezeichnung von Zigaretten als „leicht“, „mild“ oder als sonst wie „gesund“ in der Werbung verbieten, um nur einige der Inhalte des Abkommens zu nennen (1, S. 547 ff.).

Europäische Rangliste zur Tabakkontrolle

Im Jahre 2006 wurden erstmals auf einer Skala die Aktivitäten der einzelnen europäischen Länder auf dem Gebiet der Tabakkontrolle festgehalten, gemessen und verglichen (4 bis 7). Dabei werden die folgenden sechs Parameter mit Punkten bewertet, wobei die maximal zu erreichende Punktzahl (PZ) in Klammern bei den einzelnen Parametern angegeben ist und die maximale Gesamt-Punktzahl 100 beträgt.

Der erste bewertete Parameter ist der Verkaufspreis für Zigaretten und Tabakwaren (maximale PZ 30), der zweite der Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz und in öffentlichen Einrichtungen (maximale PZ 22), dann kommen die Ausgaben für öffentliche Informationskampagnen gegen das Rauchen (maximale PZ 15), Werbeverbote (maximale PZ 13), Warnhinweise (maximale PZ 10) und Behandlungsangebote für Raucher (maximale PZ 10).

Wenn man diese sechs Parameter der europäischen Untersuchung mit Proctors Vorschlägen vergleicht, dann wird man feststellen, dass die ersten vier Parameter der europäischen Untersuchung seinen ersten vier Vorschlägen entsprechen. Proctors fünfter Vorschlag, der Verkauf von Tabakwaren in besonders lizenzierten Geschäften, fehlt in der europäischen Untersuchung. Stattdessen werden die Ausgaben für öffentliche Informationskampagnen gegen das Rauchen bewertet und ob Ärzte Rauchern Behandlungsangebote machen.

Die erste Auswertung der europäischen Daten erfolgte 2005 und ergab für Deutschland in der europäischen Rangliste von 30 untersuchten Ländern Platz 22 (4). In der 2007 erneut durchgeführten Bewertung landet Deutschland auf Patz 27 von 30 Ländern (5). Nur Griechenland, Luxemburg und Österreich wurden noch schlechter eingruppiert. Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass in Deutschland zum Beurteilungszeitpunkt (August 2007) die meisten Nichtraucherschutzgesetze auf Bundes- und Länderebene noch nicht in Kraft gesetzt worden waren. Unter deren Berücksichtigung „erklomm“ Deutschland 2010 Rangplatz 26 (6).

Die letzte Auswertung der Daten aus 2016 (7) ergab, dass bei einer Datenerhebung in mittlerweile 35 europäischen Ländern an der Spitze der Rangliste das Vereinigte Königreich (UK) mit einer Gesamtpunktzahl von 81 (von möglichen 100) Punkten stand, gefolgt von Irland mit 70 und Island mit 69 Punkten. Auf den beiden letzten Ranglistenplätzen wurden Deutschland mit 37 Punkten und Österreich mit 36 Punkten eingestuft.

Daraus ergibt sich, dass Deutschland auf dem Gebiet der Tabakkontrolle, diesem wichtigen Gebiet der Gesundheitsvorsorge und Prävention, im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern auch 11 Jahre nach Beginn der vergleichenden europäischen Auswertung weiterhin einen ganz erheblichen Nachholbedarf hat.

Das liegt daran, dass Deutschland die meisten in der FCTC benannten Maßnahmen nur unvollständig umgesetzt hat, das heißt, es hat bisher der politische Wille dazu gefehlt (8).

„Bei der Tabakkontrolle liegen wir auf einem der letzten Plätze in Europa“, bedauert Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences (9). In absoluten Zahlen ausgedrückt: Deutschland liegt mit 16,3 Millionen Rauchern unter den Top Ten der Staaten mit den meisten Rauchern. In Deutschland sind täglich 300 Todesfälle durch Rauchen zu verzeichnen, und einer aktuellen Studie zufolge stirbt jeder Siebte am Rauchen — damit liegt die Bundesrepublik sogar über dem weltweiten Durchschnitt (10).

Beendigung des Tabakrauchens

In den letzten Abschnitten seines Buches beschäftigt sich Proctor damit, dass es in der Theorie einen Weg gibt, um mittel- bis langfristig etwa 90 Prozent der Tabaktoten zu verhindern (1, S. 556 ff.): ein weltweites Verbot des Verkaufs und der Herstellung von Zigaretten. Proctor fragt sich, warum dieser Weg nicht beschritten wird und warum über ein Ende des weltweiten Zigarettenkonsums so selten nachgedacht wird. Warum erscheint uns diese Lösung so undenkbar?

Das Argument, dass ein Alkoholverbot in den USA sich als Fehlschlag erwiesen habe, lässt er nicht gelten. Er verweist darauf, dass Alkohol und Tabak sehr unterschiedlich zu beurteilen sind. Alkohol sei „a recreational drug“ („eine Freizeitdroge“). Die meisten Menschen würden seiner Meinung nach alkoholhaltige Getränke aus Gründen der Entspannung und Geselligkeit gerne trinken und verantwortlich damit umgehen. Nur circa 3 Prozent der Alkoholtrinker würden abhängig werden.

Das sei beim Nikotin ganz anders. Nikotin sei keine Freizeitdroge. Die meisten Raucher würden sich zwar wünschen, Nichtraucher zu sein, und fast alle Raucher würden bedauern, dass sie überhaupt mit dem Rauchen angefangen haben. Sie rauchen aber trotzdem weiter, weil 80 bis 90 Prozent abhängig sind.

Proctor führt weiter aus, dass der Gebrauch giftiger Stoffe wie bleihaltige Farben, Asbest oder Arsen mit gutem Grund gesetzlich verboten sind und viele gefährliche Verhaltensweisen wie zu schnelles Autofahren sanktioniert werden. Zigaretten, die einen viel größeren Schaden anrichten, sind es aber nicht, obwohl 50 Prozent der Raucher an einer durch das Rauchen ausgelösten Krankheit vorzeitig sterben.

Sein Schluss-Plädoyer lautet deshalb: Es geht um saubere Luft für die Allgemeinheit und um die Verhinderung unnötigen Leidens und vorzeitigem Tod bei hunderten
Millionen Rauchern einschließlich derjenigen, die noch nicht geboren sind. Deshalb müssen die Herstellung und der Verkauf von Zigaretten abgeschafft werden.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Proctor RN. Golden Holocaust. Origins of the cigarette catastrophe and the case for abolition. University of California Press, Berkeley-Los Angeles-London 2011
(2) https://www.rubikon.news/artikel/legale-massentotung
(3) Deutsches Krebsforschungszentrum (2011). Perspektiven für Deutschland: Das Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs. WHO Framework Convention on Tobacco Control (FCTC). Heidelberg
(4) Joossens L, Raw M. The tobacco control scale: a new scale to measure country activity. Tobacco Control 2006; 15: 247- 253
(5) Joossens L, Raw M. Progress in Tobacco Control in 30 European Countries 2005 — 2007. Responsible Editor: Swiss Cancer League, Effingerstrasse 40, CH-3001 Berne
(6) Joossens L, Raw M. The Tobacco Control Scale 2010 in Europe. https://www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/PDFs/Kampagnen/TCS_2010_Europe.pdf
(7) Joossens L, Raw M. The Tobacco Control Scale 2016 in Europe.
https://www.cancer.be/sites/default/files/tobacco_control_scale.pdf
(8) Schaller K, Mons U. Tabakprävention in Deutschland und international. Bundesgesundheitsblatt- Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 2018; 11: 1429 — 1438
(9) http://www.durchblick-gesundheit.de/article/178484
(10) https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2817%2930819-X/fulltext


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