Der hohe Blutzoll und die Zerstörung ganzer Städte und Landstriche gebieten es, dem tödlichen Treiben ein sofortiges Ende zu setzen. Zurzeit ist das Gegenteil der Fall. Russlands schleichender Vormarsch, die ukrainische Verteidigung mittels einer Strategie der verbrannten Erde und das Vollpumpen der Ukraine mit westlichen Waffen ergeben ein toxisches Gemisch von mörderischem Hauen und Stechen, wie es Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gesehen hat.
Die Schuldfrage ist in einer solchen Situation zweitrangig. Um sie soll es hier nicht gehen. Eine realistische, sprich das Leben auf den Kriegsboden zurückbringende Einschätzung tut Not. Die Losung dafür: Land für Frieden, also Grenzveränderungen, um die Waffen zum Schweigen zu bringen. Mit anderen Worten: die seit 2014 in ihrer Territorialität gescheiterte Ukraine in anderer, kleinerer Form auferstehen lassen.
Der Aufschrei dagegen wird laut sein. „Das wäre eine Niederlage für die Ukraine“, werden jene tönen, die sich seit über einem Jahr ohne Wenn und Aber und mit enormen Geldsummen Kiew an die Brust geworfen haben. Gemessen an den ersten beiden Kriegszielen des Kreml, nämlich der Angliederung des Donbass an die Föderation und dem Herauslösen möglichst großer Teile Neurusslands aus der ukrainischen Staatlichkeit, haben sie recht.
Aber die Ukraine könnte ohne ihre östlichen und südlichen Gebiete bestehen bleiben. Sie hat, daran darf hier erinnert werden, seit ihren Anfängen im Jahre 1917 schon mehrere, anfangs auch gleichzeitig nebeneinander bestehende und einander überlappende Staatlichkeiten erlebt.
Das wohl schlagendste Argument für den Abtausch Land gegen Frieden liegt in der Bevölkerungsstruktur des Landes, um das es geht, begründet. Die Mehrheit der Menschen im von Russland annektierten Donbass hat mit der Ukraine denkbar schlechte Erfahrungen gemacht. Sie sprechen nicht nur russisch, sie verstehen sich oft auch als Russen. Und Städte wie Odessa und Cherson, typische Siedlungen des unter den Zaren besiedelten Landstrichs, wurden nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 von den national inspirierten Kiewer Regierungen grob vernachlässigt.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an einen Besuch in der ukrainischen Botschaft in Wien. Als er dort um ein Visum ansuchte und gefragt wurde, wohin die Reise gehen sollte, staunten die versammelten Konsulatsmitarbeiter, als er die Stadt Odessa nannte. Nach einer kurzen Pause begannen die ukrainischen Beamten laut zu lachen, und einer meinte: „Jetzt sind wir auch schon für diese russische Stadt zuständig.“ Eine in der Zeitschrift Ossietzky erschienene Reportage zum „Land an der Grenze“ leitete ich Mitte 2009 mit dem Satz ein:
„Die Ukraine ist kein einheitliches Staatsgebilde. In politischen, gesellschaftlichen, ja sogar in territorialen Fragen fehlt ein Minimalkonsens“ (1).
Dieser Befund aus dem Jahr 2009, der freilich auch schon Mitte der 1990er-Jahre sichtbar war, hat sich in grausamer Form bewahrheitet. Seit dem Jahr 2014 wird um die Grenzen des Landes auch mit Waffen gekämpft. Den Protesten gegen Präsident Wiktor Janukowitsch auf dem Kiewer Majdan im Winter 2013/2014 folgte die verfassungswidrige Vertreibung des Gewählten am 22. Februar 2014. Für eine rechtmäßige Absetzung hätte es einer Zweidrittelmehrheit in der Werchowna Rada, dem Parlament, bedurft. So viele Abgeordnete waren bei der Sitzung gar nicht im Haus (2), rechte Schlägertruppen fingen schon am Zugang zum Gebäude Parlamentarier der von Janukowitsch gegründeten „Partei der Regionen“ ab. Dieselben rechtsradikalen Kräfte waren es auch, die eine kurz vor der Vertreibung von Janukowitsch mit seinen Gegnern in Anwesenheit und mit Unterschrift des damaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier besiegelte friedliche Machtübergabe zur Makulatur werden ließen.
Die verfassungswidrige Entfernung des gewählten Präsidenten am 22. Februar 2014 wird im Osten und Süden der Ukraine — nicht ganz zu Unrecht — Putsch genannt. Dort, im Donbass und in den neurussischen Gebieten, hatte Janukowitsch seine Wählerbasis. Ein Blick in die Ergebnisse der Präsidentenwahlen 2010 zeigt die Dimension der Spaltung des Landes. Bei der Stichwahl am 7. Februar 2010 votierten in Donezk, Lugansk und Mariupol mehr als 90 Prozent für Janukowitsch, in Charkow, Odessa und auf der Krim waren es zwischen 70 Prozent und 90 Prozent (3). Kein Wunder, dass sich überall dort Kräfte des Anti-Majdan versammelten, die den Regimewechsel qua Verfassungsbruch in Kiew nicht so einfach hinnehmen wollten. Sie organisierten Kundgebungen und Demonstrationen und begannen, oft mithilfe der jeweiligen Stadtoberen, Amtsgebäude zu besetzen. Die Antwort aus Kiew auf den Anti-Majdan hieß Krieg.
Am 2. Mai 2014 flog die Luftwaffe der Ukraine mit Kampfhubschraubern erste Einsätze gegen die Anti-Majdan-Kräfte in Slowjansk. Der Übergangspremier Arseni Jazenjuk hatte die Aktion kurzerhand als Antiterror-Einsatz definiert. Fünf Tage später begab sich der Rechtspolitiker vor die Tore der ostukrainischen Stadt, die zwischenzeitlich von Anti-Majdan-Kräften gehalten wurde, und übergab den Truppen der Kiewer Zentralregierung Schützenpanzer des Typs BTR-4E. Den Angriffen der Belagerer auf Slowjansk fielen bereits in den ersten Kriegstagen 16 Menschen zum Opfer (4). Noch in derselben Woche Anfang Mai 2014 rollten ukrainische Panzer gegen Mariupol und sprengten dort eine antifaschistische Versammlung, die des Sieges der Roten Armee gegen Nazideutschland gedachte. Und in Odessa begann die Hatz auf Anti-Majdan-Aktivisten am 2. Mai, indem rechte Schlägertrupps das Zeltlager der Regimekritiker stürmten und die Protestierenden ins nahe Gewerkschaftshaus trieben, dieses anzündeten und daraus Fliehende erschlugen.
Mehr als 40 Menschen — die meisten bis zur Unkenntlichkeit verbrannt — bezahlten ihre Gegnerschaft zur neuen Regierung mit dem Leben. Die frühere Ministerpräsidentin Julija Timoschenko reiste sogleich nach Odessa, aber nicht, um den Opfern des Angriffs beziehungsweise ihren Angehörigen ihr Beileid auszudrücken, sondern um „den Patrioten zu danken“ (5), die die Protestierenden in den Tod gehetzt hatten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beendete damals ihren Bericht über die Tragödie von Odessa mit dem Satz: „Es war der Moment, in dem Odessa in zwei Lager zerfiel: Patriot oder Verräter, Majdan oder Anti-Majdan.“ Über die acht Jahre Bürgerkrieg, die mehr als 10.000 Menschenleben forderten, ist den deutschen Medien — und der Politik — diese Erkenntnis des Auseinanderbrechens der Ukraine abhandengekommen.
Heute wird so berichtet, als ob der russische Einmarsch von der Bevölkerung im Osten der Ukraine als feindlicher Überfall gesehen wurde. Dem war nicht so, viele erhofften sich Befreiung.
Die zerstörerische Kraft des Krieges wird wohl im Nachgang bei sehr vielen die Einschätzung vor Ort geändert haben. Umso wichtiger ist es, den Waffengang zu beenden und an dem Moment wieder anzusetzen und aufzubauen, bevor Waffen statt Gesprächen das Terrain beherrschten.
Dem Kampf Kiews gegen die als inneren Feind wahrgenommene russischsprachige Bevölkerung, deren politische Führer als Terroristen eingestuft wurden, entsprach auf der Gegenseite der Unwille, zur Majdan-Ukraine gehören zu wollen. Die Politik einer harschen Ukrainisierung beseitigte jeden Zweifel. Dazu gehörte zuvorderst die Diskriminierung der russischen Sprache, die letztlich deren Gebrauch im öffentlichen Raum verbietet. Nur wenige Tage nach dem Regimewechsel im Februar 2014 hob die Werchowna Rada das erst zwei Jahre gültige Sprachgesetz auf, das in Regionen mit mehr als 10-prozentigem Anteil muttersprachlich russischer oder, im Südwesten, ungarischer Bevölkerung das Russische beziehungsweise das Ungarische zu einer Regionalsprache erhoben hatte. Die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine, die je nach Statistik zwischen 30 Prozent und 50 Prozent ausmacht, wusste damit, wohin die Reise mit der Majdan-Regierung ging; da half auch die — kurzfristige — Blockierung des Gesetzes durch den Übergangspräsidenten nichts.
Der Unwille der russischen beziehungsweise russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes, sich einer Ukrainisierung zu unterwerfen, materialisierte sich auch schon vor dem Jahr 2014. Auf der Krim kam es am 20. Januar 1991, also noch in der Endphase der Sowjetunion, zu einem Referendum über eine Autonomie, dessen Ziel es war, unabhängig von der Ukraine in die postsowjetische Zukunft entlassen zu werden. 93,2 Prozent der Bevölkerung votierten damals für einen autonomen Status (6). Das Ergebnis wiederholte sich am 16. März 2014, als nach der Abtrennung der Halbinsel von der Ukraine die BewohnerInnen — jetzt schon unter Russland-freundlicher Verwaltung — zu 95 Prozent ihre Zustimmung zur Sezession und damit für den Beitritt zur Russischen Föderation gaben. Kiew erkannte dies freilich nicht an.
Am 11. Mai 2014, also kurz nach den ersten kriegerischen Auseinandersetzungen um den Donbass, fanden Referenden in den Oblasten Donezk und Lugansk statt. Nach ukrainischem Recht waren sie — wie die drei Monate zuvor erfolgte Vertreibung von Präsident Janukowitsch — verfassungswidrig; zudem können aufgrund der damals schon bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse Manipulationen nicht ausgeschlossen werden. Ihre Ergebnisse geben dennoch Aufschluss über die Einstellung der ostukrainischen Bevölkerung zur Kiewer Zentralregierung. Und sie widerspiegeln die oben erwähnten Wahlresultate aus dem Jahr 2010. In Donezk sprachen sich knapp 90 Prozent für die staatliche Eigenständigkeit aus, in Lugansk waren es 95 Prozent. Kiew und die OSZE erklärten die Referenden für illegal. Auch Moskau wollte zu diesem Zeitpunkt von unabhängigen Volksrepubliken nichts wissen und setzte auf Verhandlungen; diese führten dann im Februar 2015 zu den Ergebnissen in Minsk, die eine Föderalisierung der Ukraine statt einer Abspaltung des Ostens beinhalteten — woran sich wiederum Kiew nicht hielt.
Nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine vom 24. Februar 2022 fanden dann Ende September 2022 Referenden in vier ost- und südukrainischen Oblasten statt: Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschschja. Sie hatten deren Eingliederung in die Russische Föderation zum Inhalt und sollten damit wohl die russische Okkupation legitimieren. Allein die Tatsache, dass große Teile des Territoriums, dessen Bevölkerung über die Zugehörigkeit zu Russland abstimmte, nicht unter der Kontrolle der Volksrepubliken oder der russischen Armee standen, zeigt den dubiosen Charakter dieses Vorhabens. Als ernsthafte Aussage können die Abstimmungsergebnisse, noch dazu mitten in Kampfhandlungen, nicht gewertet werden. Zwischen 87 Prozent (in Cherson) und 99 Prozent (in Donezk) gaben der Russischen Föderation ihr Jawort.
So fragwürdig die Ansetzung all dieser Volksbefragungen auch sein mag, zeigen diese doch, dass die Mehrheitsbevölkerung im Osten und Süden der Ukraine — insbesondere auf der Krim und im Donbass — die Politik der Ukrainisierung, wie sie von den dominierenden nationalen Kräften in Kiew betrieben wird, ablehnt und nicht darauf wartet, von ukrainischen Truppen „befreit“ zu werden. Dieser Befund erleichtert bei nüchterner Betrachtung eine neue Grenzziehung.
Die erste gewichtige internationale Stimme, die sich für neue Grenzziehungen im Raum Ukraine/Russland ausspricht, kommt aus den USA. Der einflussreiche kalifornische Thinktank „Rand Corporation“, der seit mehr als 75 Jahren die US-amerikanischen Streitkräfte berät, veröffentlichte im Januar 2023 eine Studie, die genau dies vorschlägt. Samuel Charap vom „International Institute for Strategic Studies“ und Miranda Priebe vom Rand-„Center for Analysis of U.S. Grand Strategie“ schlagen zwecks Vermeidung einer Eskalation des Krieges hin zu einem Russland-NATO-Konflikt vor, eine „stark militarisierte Grenze ähnlich jener zwischen BRD und DDR während des Kalten Krieges“ (7) entlang einer auszuverhandelnden Waffenstillstandslinie zu etablieren. Realistisch erscheint ihnen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Papiers die Frontlinie vom Dezember 2022. Die russischen Streitkräfte hätten bei diesem Vorschlag etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums für sich reklamiert (8). Die Ukraine bliebe als verkleinerter Staat, dessen zukünftige Neutralität auch von den USA und von Russland garantiert würde, bestehen. Der Wiederaufbau auf beiden Seiten der neuen Grenze könnte beginnen.
Hannes Hofbauer, Stefan Kraft „Kriegsfolgen: Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert “
Quellen und Anmerkungen:
(1) Hannes Hofbauer, Lenin am Schwarzen Meer. In: Ossietzky Nr. 22/2009, siehe: https://www.sopos.org/aufsaetze/4aeeaf0d07f2c/1.phtml.html
(2) Siehe dazu: Gabriele Krone-Schmalz, Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. München 2015, Seite 23
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_der_Ukraine_2010
(4) Klaus Joachim Herrmann, Premier bringt Panzerwagen bis Slowjansk. Aus: Neues Deutschland vom 8. Mai 2014, siehe: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Ukraine1/angriff9.html
(5) https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-krise-die-tragoedie-von-odessa-13467886.html
(6) https://www.sudd.ch/event.php?lang=de&id=ua031991
(7) Samuel Charap/Miranda Priebe, Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict, siehe: https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html
(8) Siehe: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/militaer-analyse-ukraine-geopolitik-us-denkfabrik-rand-corporation-diesen-krieg-kann-keiner-gewinnen-kehrt-jetzt-vernunft-ein-li.313682
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.