Ralf Wurzbacher: Herr Haas, dieser Tage sieht man sich schon Anfeindungen durch Mitbürger ausgesetzt, sobald man zu zweit oder zu dritt auf einer Parkbank hockt und die Sonne genießt oder gemeinsam mit Frau und Kindern einkaufen geht. Wie begegnen Sie, der Sie sich seit langem mit massenpsychologischen Phänomenen befassen, solchen Erscheinungen?
Harald Haas: Wir leben glücklicherweise trotz der gegenwärtigen Aussetzung von Grundrechten nach wie vor in einem Rechtsstaat. Ich vertraue grundsätzlich auf die Institutionen des Staates. Dennoch sehe ich mit Sorge, dass die Zwangsmaßnahmen der Regierung neben anderem auch ein hässliches Denunziantentum wieder ans Tageslicht befördert haben, von dem wir glaubten, es seit vielen Jahrzehnten überwunden zu haben. Die Schicht der Kultur erweist sich als sehr dünn. Es entstand in meiner Wahrnehmung in den letzten Tagen eine Art von kollektiver Paranoia, eine Angstmasse. Die Angst vor dem nicht greifbaren Virus, die ständige Polizeipräsenz und die Überwachung durch andere Bürgerinnen und Bürger schafft bei vielen Mitmenschen erstmals das Gefühl der totalen Überwachung. Menschen, die nichts verbrochen haben, erzählen mir, dass sie sich das erste Mal seit 1945 beziehungsweise 1955 (österreichischer Staatsvertrag, d. Red.) regelmäßig besorgt umsehen, wenn sie das Haus verlassen.
Nun passiert dies ja alles in der Absicht, ältere Mitbürger auf dem Weg der „social isolation“ vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen. Das wollen Sie doch niemandem vorwerfen?
Das ist ein durchaus nobles Ansinnen, die Frage ist nur, wo der Schutz endet und wo eine Form von „Schutzhaft“ beginnt. Ich persönlich sehe darin auch den Versuch einer gesellschaftlichen Spaltung und glaube nicht, dass zum Beispiel die „Alten“ viel Freude daran haben werden, vielleicht später einmal für die unglaublichen volkswirtschaftlichen und psychischen Kollateralschäden der gegenwärtigen Zwangsmaßnahmen als Sündenböcke verantwortlich gemacht zu werden.
Was ist in Ihren Augen derzeit das treibendere Moment bei den Menschen? Der Glaube daran, dass es unabdingbar ist, seine Freiheit für die Alten und Schwachen einschränken beziehungsweise aufgeben zu müssen. Oder die Ansage der Regierung, dass das seine Richtigkeit hat.
Menschen formen in Zeiten einer Bedrohung von außen, besonders dann, wenn es etwas Diffuses, nicht Greifbares wie ein Virus ist, eine Masse, in der sie Schutz und Zuflucht suchen. In dieser Masse geben sie ihre individuelle Ich-Identität auf, die Masse entwickelt eigene Identität und Richtung und wird wesentlich von den Ängsten und Erwartungen ihrer Mitglieder bestimmt. Wie in einem kommunizierenden Gefäß ist es so, dass, wenn die Angst hoch ist, die Vernunft gering ist. Wir beobachten nicht nur in Österreich die Formierung einer Art von Angstmasse, diese sehnt sich nach einem Führer, der ihr suggerieren kann, dass er sie einerseits vor ihrem Zerfall schützen und andererseits alle Bedrohungen von außen abwehren kann. Einem solchen Führer beziehungsweise einer solchen Führung folgt sie gemeinhin weitgehend bedingungslos und gehorsam, er muss nur Erfolge vorweisen können, um seinen Nimbus aufrecht zu erhalten. Es wäre gerade deshalb vonnöten, eine verantwortungsvoll agierende Führung zu haben, die in einem ganzheitlichen Kontext denkt.
Die Angst ist es also, die die Menschen gerade in Krisenzeiten so folgsam macht. Aber hätten Sie mit einer Dynamik wie der jetzigen gerechnet?
Brecht hat es ja literarisch erfasst, als er schrieb: „Hinter der Trommel her trotten die Kälber, das Fell für die Trommel liefern sie selber.“ In der beschränkten Wahrnehmung der Mitglieder der Massen gilt nur mehr eine Wahrheit, die nahezu bedingungslos akzeptiert wird, und sei es der von oben verordnete Käfig, der Rettung verspricht. Dabei gibt es anscheinend ganz andere erfolgreiche Beispiele der Seuchenbekämpfung wie etwa in Südkorea, Taiwan oder Singapur. Ursprünglich wurde angenommen, dass gerade diese Staaten von der Corona-Pandemie besonders getroffen würden. Derzeit dürfte die Lage dort aber großteils unter Kontrolle sein, ganz ohne Verordnung derart tiefgreifender Maßnahmen wie hierzulande, auch ohne Panik, dafür aber mit einem klaren Plan. Oder nehmen wir den eher entspannten, auch von Experten getragenen schwedischen Weg. Solche Ansätze müssten auch bei uns diskutiert werden, ohne sie gleich zu verurteilen oder totzuschweigen.
Erleben sie also in Österreich dieselbe Art von Gleichschaltung der publizierten Meinung, wie sie gerade in Deutschland vorherrscht?
In der Tat begeben sich auch hier beim Thema Corona abweichende Meinungen in die Gefahr der sozialen Ächtung. Dazu kommt, dass wir in Österreich meiner Meinung nach kaum über eine „Revolutionskultur“ verfügen. Wir sind in den letzten hundert Jahren weitestgehend ohne besonderes Zutun von einer Staatsform in die andere geglitten. Überall im Land stehen zum Beispiel Statuen oder hängen Bilder des Franz Joseph Habsburg. Der Mann war, soweit mir bekannt ist, nicht nur für den Tod von 15 Millionen Menschen hauptverantwortlich, sondern hat über sechs Jahrzehnte hinweg alles unterdrückt, was nach Bürgerrechten, gesellschaftlicher Entwicklung und liberalem Rechtsstaat roch — doch Franz Joseph Habsburg ist ein ehrenwerter Mann.
Was konkret läuft in den Köpfen der Menschen ab, wenn sie die Angst erfasst?
Abseits vom Agieren in der Masse scheint sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt zu haben, dass es um „Freiheit oder Gesundheit“ geht. Die Massenpsychologie lehrt uns, dass Führer von Massen unter anderem auch von der Behauptung und der ständigen Wiederholung dieser Behauptung leben, die sich schließlich in den Köpfen der Menschen als Wahrheit festsetzt. Es ist aber keineswegs so, dass wir nur dieses alternativlose „Entweder — Oder“ haben. Es gäbe auch ein „Sowohl — Als Auch“, das heißt die gemeinsame Bewältigung einer Krise mit bestärkten, mündigen und selbstwirksam verantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürgern und weitestgehend ohne Zwangsmaßnahmen. Druck von oben hat dies aber noch nie gefördert.
Würden Sie sagen, dass die tonangebenden Experten und die Politik in der gegenwärtigen Situation die Angst gezielt schüren und immer weiter steigern, um die Gefolgschaft der Menschen zu sichern?
Die Psychodynamik der Massen ist eine kollektiv unbewusste, ebenso wie deren Führer wohl auch psychodynamisch unbewussten Triebkräften ausgesetzt sind. Führer und Geführte bedingen einander gegenseitig und können einander so auch „hochschaukeln“. Bei den Experten weiß ich nicht, ob sie immer nur aus hehren Motiven heraus handeln, es winkt immerhin auch Reputation und viel Geld. Es scheint für mich so zu sein, dass viele Regierungen eher nur einer Form von Wahrheit, die durch die von ihnen beauftragten Experten geschaffen wird, folgen.
Ist auch das eine Frage von Psychologie?
Ich sehe ein grundsätzliches Problem: Wissenschafter haben „sine ira et studio“ eine jeweilige, meist auf ihr Fach eingeschränkte Fachmeinung. Politiker sollten jedoch wie es Max Weber beschrieb, über Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsgefühl verfügen, sie sollten einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und die jeweilige Fachexpertise der Wissenschafter nur zu einem Teil ihrer Entscheidungsgrundlage machen. Dies geschieht nach meiner Ansicht eher nicht, es werden „Wahrheiten“ kreiert. Dazu kommt, dass die doch vergleichsweise hohen Gehälter von Experten wie von Politikern auch in der Krise in voller Höhe weiterlaufen. Sie leben zudem meist in höherklassigen Behausungen und Home-Office ist ihnen wohl vertraut. Mit Ausnahme des Nobelrestaurants, das nun vorübergehend nicht besucht werden kann, ändert sich an ihrem Leben vielleicht nicht wirklich viel.
Wenn das stimmt: Wie sollen sie ein Gefühl für die Nöte und Ängste der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung entwickeln, die auf engstem Raum mit ihren Familien eingepfercht sind, die von den über sie verhängten Zwangsmaßnahmen in ein tiefes Loch voller materieller und sonstiger Ängste geworfen werden? Es wäre interessant zu beobachten, ob die Entscheidungen von Experten wie Politikern anders ausfallen würden, wären sie plötzlich derselben existentiellen Not ausgesetzt, wie ein erheblicher Teil der Bevölkerung sie derzeit erleidet.
Ist das Agieren der Regierenden — vorausgesetzt sie handeln in bestem Wissen und Gewissen — nicht damit zu entschuldigen, dass der Zweck die Mittel heiligt?
In Demokratien stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit, des Nutzens für die Allgemeinheit, des Maßes und der kulturellen oder rechtlichen Begleitung. Etwa: Wo bleibt die parlamentarische Kontrolle? Das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ist ein Ermächtigungsgesetz, das meiner Meinung nach die für unser Staatssystem enorm wichtige parlamentarische Kontrolle der Regierung bisher vermissen lässt. Letztendlich ist aus meiner Sicht nicht auszuschließen, dass am Ende konstatiert werden muss: „Operation gelungen, Patient tot.“ Was ist denn der Zweck? Wo wollen wir am Ende der „Corona-Krise“ gesellschaftlich und volkswirtschaftlich stehen?
Sie sprachen von Kollateralschäden. An was alles denken Sie dabei?
Es geht mir hier um die Menschen. Viele fühlen sich eingesperrt. Die Befürchtungen der Frauenhäuser, dass es vermehrt zu häuslicher Gewalt kommen wird, erscheinen gerechtfertigt. Das dauernde Zusammenleben auf oft engstem Raum wird unweigerlich zu Konflikten im jeweiligen Mikrokosmos führen, von denen wir nicht unbedingt erwarten können, dass sie nachhaltig-konstruktiv gelöst werden können. Schon jetzt zeigen sich die psychischen Belastungen recht deutlich: Die Kinder können noch nicht erfassen, worum es geht. Sie spüren aber die Nöte und Sorgen der Erwachsenen und leiden darunter, die Bedrohung ist da, hat aber keinen Namen und erscheint deshalb umso schlimmer. Die Jugendlichen entwickeln sich biologisch weiter, werden aber in ihrer psychosozialen Entwicklung massiv gehemmt. Sie benötigen ihre Peergroups, um sich zu messen, abzureagieren und Selbstbewusstsein auszubilden, können aber derzeit vollkommen ungenügend alles nur mit ihren Eltern ausmachen.
Die Erwachsenen leiden unter existentiellen Nöten und wohl auch in verstärktem Ausmaß unter Partnerschaftskonflikten, was sich wiederum auf ihr soziales Bezugssystem auswirkt. Die sogenannten Alten wiederum dürfen das für sie lebenswichtige soziale Leben bestenfalls eingeschränkt genießen. Sie sind aber auch aufgrund ihrer Gelassenheit eine wichtige Stütze und ein Ruhepol für die anderen Generationen. Wird dieser Austausch eingeschränkt, bewirkt dies nachhaltig negative Folgen für die ganze Gesellschaft.
In normalen Zeiten rühmen sich die westlichen Nationen ja sehr gerne mit ihren mündigen, aufgeklärten, kritikfähigen und freiheitsliebenden Bürgerinnen und Bürgern. Sind Sie selbst erstaunt, wie schnell und einfach die Bevölkerung sich ihr demokratisches Bewusstsein austreiben lässt — praktisch kein bisschen anders als die „obrigkeitshörigen“ Chinesen?
Die Menschen verfügen grundsätzlich über die gleiche psychische Struktur, egal, wo sie geboren werden. Kollektive Prägungen erfolgen dann in den frühen Lebensjahren. Ich gehe davon aus, dass es bei meinen Mitmenschen durchaus demokratisches Bewusstsein gibt, das jedoch derzeit von einer Psychodynamik der Masse überlagert wird. Gerade in solchen Zeiten bedarf es verantwortungsvoller Führung, die eben nicht die Gunst der Stunde ausnutzt. Ich bemerke, dass der Widerstand sich durchaus regt und auch artikuliert wird, doch beschränkt sich dies vorläufig auf eine Minderheit.
Eine andere, sonst zu jeder Gelegenheit beschworene demokratische Errungenschaft ist die Meinungsfreiheit und -vielfalt. Zu Corona gibt es in den etablierten Massenmedien seit Wochen nur eine Meinung, die der Regierung beziehungsweise der sie beratenen Virologen. Warum schlucken die Leute so bereitwillig diesen Einheitsbrei?
Aus meiner Sicht, weil die Menschen gerade in der Not nur sehr beschränkt dazu in der Lage sind, komplexe Sachverhalte zu analysieren, und daraus Schlüsse zu ziehen. Es geht wohl um eine Reduktion auf das Wesentliche, einfache Botschaften beziehungsweise „Wahrheiten“, die leicht zu verstehen sind und Orientierung bieten.
Inzwischen mehren sich die Stimmen aus der Wissenschaft, die die behauptete Gefährlichkeit und Einzigartigkeit des Sars-CoV2-Erregers in Zweifel ziehen, sich gegen Panikmache und Hysterie wenden und die staatlich verhängten Maßnahmen als überzogen erachten. Wann könnte in Ihren Augen der Punkt erreicht sein, an dem das zu mehr als nur ein paar kritischen Zeitgenossen durchdringt und die Stimmung kippt?
Ich bin kein Experte hinsichtlich Virologie oder Epidemiologie. In meiner Wahrnehmung liefern jedoch kritische Geister wie zum Beispiel der Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg durchaus schlüssige Argumente, es müsste jedoch ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs darüber stattfinden. Die Angstmassen in Europa, die den Zwangsmaßnahmen ihrer Regierungen ausgesetzt sind und darunter leiden, werden eher nicht durch Fakten ins „Kippen“ gebracht werden, sondern durch schiere Not. Erste bedenkliche Ansätze dafür gibt es jetzt schon in Süditalien. Massen brauchen den Moment der „Entladung“, die harmlos sein kann wie gemeinsames Singen, die aber auch gewaltvoll erfolgen kann. Die Führer solcher Massen sehen sich vor die Herausforderung gestellt, diese am Ausbruch zu hindern.
Eben auch dadurch, dass Andersdenkende ignoriert oder diffamiert werden?
Ich beobachte eine verschärfte Tonart der Politik gegenüber Kritikern. Der österreichische Bundeskanzler hat Medienberichten zufolge bei einer Pressekonferenz am 30. März davon gesprochen, dass er es für ein großes Problem halte, dass es auch unter den Experten noch zu viele „Verharmloser“ gebe. Wenn er damit diejenigen meint, die eine kritische Haltung gegenüber den Zwangsmaßnahmen der Regierung zeigen und dies auch argumentativ begründen können, darunter viele mit bester internationaler Reputation, dann halte ich das für eine besorgniserregende Entwicklung, die Spaltung und Sündenböcke generieren könnte. Jede Masse strebt nach Einheit, wer als „Abweichler“ gilt, wird sanktioniert und ausgestoßen, damit schafft die Masse auch wieder Einheit.
Der österreichische Innenminister hat in einem Radiointerview in Hinblick auf die Zwangsmaßnahmen gesagt, dass 95 Prozent der Bevölkerung fantastisch kooperieren würden, fünf Prozent hätten es noch nicht begriffen und da gehe die Polizei sehr konsequent vor. Nachdem zu diesem Zeitpunkt gerade einmal rund 2.900 Menschen wegen Widerstands gegen die Zwangsmaßnahmen angezeigt worden waren und fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung circa 440.000 Menschen sind, kann er die polizeilich bekannten Delinquenten wohl nicht gemeint haben. In dieser Zeit ist eine Gallup-Umfrage veröffentlicht worden, der zufolge 95 Prozent der Bevölkerung sich bereit zeigten, auf Freiheitsrechte zu verzichten, wenn dafür die Corona-Gefahr eingedämmt werden könnte, fünf Prozent waren nicht dazu bereit. Es wäre interessant zu wissen, ob der Innenminister sich auf diese Umfrage bezog. Wenn ja, ist dies in meinen Augen eine weitere besorgniserregende Entwicklung, denn man könnte daraus schließen, dass vielleicht ein weiteres unserer Grundrechte, die Meinungsfreiheit in Gefahr sein könnte.
Was die Sache noch schlimmer macht: Wer die Abweichler mit Dreck bewirft, wird dafür auch noch belohnt.
Die Belohnung für die „Corona-Blockwarte“ dürfte eher weniger von Seiten der Obrigkeit erfolgen, sondern woanders begründet sein. Selbst mit wenig Selbstwert ausgestattet, könnten sie sich einmal groß fühlen, indem sie andere vorführen und erniedrigen. Sie könnten aber auch dem Mechanismus der Projektion folgen, indem sie eigenes, das sie nicht leben dürfen und unterdrücken müssen auf andere projizieren. Niemand will eingesperrt sein. Trotzdem ordnen die meisten sich gehorsam unter, wenn auch widerwillig. Dadurch entsteht eine Dissonanz, die ein Ventil sucht. Man projiziert das eigene Ungelebte auf andere, bekämpft gewissermaßen sich selbst im Anderen, wenn man die Fehler anderer aufzeigt oder sanktioniert.
Wenn Sie den Gang der Ereignisse beobachten: Welche Befürchtungen für die Zukunft ruft das in Ihnen wach?
Der Politologe in mir ist in höchstem Maße darüber erschrocken, wie Grundrechte, die über Jahrhunderte hinweg erkämpft und seit Jahrzehnten hochgehalten wurden, mit einem Streich zumindest zeitweise weggewischt wurden. Die Zwangsmaßnahmen, die wir jetzt erleben, werden unser Land gesellschaftlich und politisch verändern. Wir können nicht ausschließen, dass solche Befugnisse künftig öfter genutzt werden, schließlich könnte die nächste Krise schon am Horizont dräuen. Der österreichische Gesundheitsminister hat in einem Radiointerview gesagt, er freue sich darauf, nach Überstehen der Corona-Krise auch die Klima-Krise mit einer ähnlichen politischen Konsequenz anzugehen. Ich persönlich empfinde das als bedrohlich.
Wie weit könnte der Weg von einer Corona-Politik nach dem Muster „Basta und Schnauze halten“ zu nachhaltig autokratischen Tendenzen wie etwa in Ungarn und Polen sein?
Ich hege durchaus die Hoffnung, dass unsere einige Jahrzehnte länger dauernde demokratisch-pluralistisch-rechtsstaatliche Tradition eine solch extreme Entwicklung nach wie vor hemmen, im besten Fall verhindern kann. Was mich sorgt, ist aber, dass Befugnisse vor allem der Sicherheitskräfte, die in Zeiten der Krise ausgeweitet werden, am Ende permanent angewandt werden dürfen. Wir haben meines Erachtens in den letzten Jahren ständige Einschränkungen unserer liberalen Rechte hinnehmen müssen, gegen andere Beschränkungsversuche hat sich die Zivilgesellschaft mit Hilfe der Justiz bisher erfolgreich gewehrt. Die gegenwärtige Krise darf nicht dazu benutzt werden, uns auf Dauer weiterer Freiheitsrechte zu berauben. Hinsichtlich der nachhaltigen Aufarbeitung dieser Krise wird es meiner Ansicht nach auch unbedingt notwendig sein, dass die für Zwangsmaßnahmen und daraus resultierende Schäden verantwortlichen Politiker im Rahmen aller rechtsstaatlich gegebenen Möglichkeiten zur Rechenschaft gezogen werden.
Haben Sie keine Resthoffnung, dass es vielleicht ganz anders kommt? Etwa derart, dass sich die Menschen demnächst als Konsequenz aus der Krise gegen kaputtgekürzte Krankenhäuser auflehnen, gegen die kapitalistische Wachstumsideologie, gegen globalisierte Liefer- und Produktionsketten oder die Auswüchse des Konsumwahns?
Wünschenswert wäre es sicher, die Frage ist, wer mitmacht. Der erwachsene Mensch ist das Produkt seiner — vor allem auch frühkindlichen — Biographie, wobei dies eine Erklärung, aber keine Entschuldigung bietet. Dabei wirkt sich antiautoritäre Erziehung genauso negativ aus wie autoritäre, beide erzeugen grenzenlose Wesen. Während sich die einen bedingungslos der Masse unterordnen, fühlen sich andere in keinster Weise gebunden oder sozial verpflichtet. Eine ideale Gesellschaft besteht aus Individuen, die selbstbewusst und selbstwirksam reife Entscheidungen für sich und das Kollektiv treffen können. Menschen, die ihre eigenen Grenzen kennen und die anderer respektieren.
Es bedürfte aber eines „neuen Menschen“, einer Welt-Gesellschaft, deren Mitglieder in einer Art und Weise aufwachsen, die es ihnen erlaubt, sich frei zu entwickeln. Menschen, die von Beginn ihres Lebens lernen, dass sie soziale Wesen sind, denen es erlaubt ist, sich selbst zu lieben und dadurch einen empathischen Zugang zu anderen Menschen zu entwickeln. Auch in unserer modernen Gesellschaft zielt die Kindererziehung nach wie vor weitgehend darauf ab, ein „funktionierendes“ Mitglied zu werden, sich unterzuordnen und zu gehorchen. Ich halte die heute lebenden Menschen diesbezüglich für eine bereits weitestgehend verlorene Generationen. Es bedürfte verantwortungsvoller Führung, sie in einigermaßen menschliche Bahnen zu lenken und dort zu halten, ebenso wie der human-orientierten Erziehung zukünftiger Menschen.
Wie also sieht die Blick in die Zeit nach Corona aus Sicht des massenpsychologisch Geschulten aus?
Jene, die prophezeien, dass unsere Welt nach Corona eine andere sein werde, haben wohl recht. Es könnte durchaus sein, dass eine überstandene Krise uns näher zusammengebracht hat, dass der kalte Technologieglaube einem humanistischen Ansatz gewichen sein wird, dass Globalisierung neu verstanden wird. Essentiell wird es jedoch sein, ob wir uns im Sinne Fromms zu einer nekrophilen oder einer biophilen Gesellschaft verfestigt haben werden. Einer Gesellschaft, die entweder dem Tode, dem Kalten, der Vergangenheit, Gesetz und Ordnung zugewandt ist oder dem Leben, der Entwicklung, dem Wachstum, der Ehrfurcht vor dem Leben, letztlich Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit.
Harald Haas, Jahrgang 1965, ist Politologe und Psychologe aus Österreich. Er arbeitet zu den Schwerpunkten politische Psychologie, Massenpsychologie, Interkulturelles und Leadership. Er blickt auf langjährige Forschungsaufenthalte im Nahen Osten (Syrien, Palästina) zurück und hat an diversen Universitäten im In- und Ausland gelehrt.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.