Vermutlich werden mich diejenigen verstehen, die die Zeit des Aufbruchs in den 1960er bis 1980er Jahren im Westen miterlebt haben. Die Löhne und Gehälter stiegen, die Unternehmen nahmen Kredite auf, um neue Geschäfte abzuschließen und stellten Menschen ein, die sie noch besser qualifizierten, es ging aufwärts. Niemand konnte sich vorstellen, dass es einmal aufhören würde.
Der Grund war einfach zu erklären: Das westliche Establishment musste im Wettbewerb gegen den heimtückischen Kommunismus zeigen, dass es in seinem System den Menschen besser ging als im antikapitalistischen Teil der Welt. Ungern, aber aus Angst vor dem Osten zahlten die Unternehmen bis zu 56 Prozent Steuer auf ihre Gewinne; nur wenige wagten es, sich als Steuerparadiesler zu outen. Die Gewerkschaften gewannen immer wieder Arbeitskämpfe und so konnte das System zeigen: „Seht ihr, Massen, euch geht es viel besser als drüben“. Um es mit Kees van der Pijl auszudrücken:
„Das Kapital und der Westen befanden sich nach der Weltwirtschaftskrise und nach zwei Weltkriegen in einer relativ schwachen Position. Wenn, was Wolfgang Streeck den ,Gesellschaftsvertrag‘ nennt, der Kapitalismus erneuert und ein Wiederauftreten des Faschismus oder ein Abgleiten in eine geplante Wirtschaft nach sowjetischem Muster verhindert werden sollten, waren Konzessionen unvermeidbar“ (1).
Als der große Konkurrent im Osten 1989 wegfiel, wurde alles anders. Das Establishment zog die Samthandschuhe aus. Es ging nicht mehr darum, Einkommen und Vermögen „fair“ zu verteilen. Reichtum galt plötzlich nicht mehr als obszön. Reiche wurden nun immer schneller immer reicher. Arme wurden gerade noch so vom Staat versorgt, dass sie nicht ihr Leben im Kampf gegen das System einsetzen wollten. Und der Mittelstand sah sich plötzlich unter Druck, verlor immer mehr sichere Arbeitsplätze, stabile Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit. Ein Einkommen reichte nicht mehr, um über die Runden zu kommen.
„Nach einer Periode der Krisen und Kompromisse war der zweite Kalte Krieg vollkommen anderer Art als der erste. Jetzt gruppierte sich der Westen neu hinter einer aggressiven Roll-Back-Strategie. Wenn wir ein Vorbild für den derzeitigen ,neuen‘ Kalten Krieg suchen, finden wir ihn hier. Der zweite Kalte Krieg hob die Souveränität auf, welche der UdSSR und ihrem Block, der Dritten Welt und den Arbeiterorganisationen gewährt worden war. Diese Suspension war Teil eines neuen Herrschaftskonzeptes, des Neoliberalismus. Indem man den politischen Liberalismus radikal dem ,Markt‘ unterordnete, versuchte der Neoliberalismus eine flächendeckende Souveränität des Kapitals zu etablieren, in der Art, wie sie im englischsprachigen ,Locke’schen Herzland‘ entwickelt worden war“ (2).
Firmen wanderten ab in Länder mit niedrigeren Lohnkosten, immer mehr sichere Arbeitsplätze gingen verloren, wurden ersetzt durch einen florierenden „Niedriglohnsektor“. Dafür wurden billige Importe ins Land geholt, mit denen den Massen vorgegaukelt wurde, dass Globalismus ein Segen für sie wäre, ohne dass sie bemerkten, was wirklich passierte.
„Das Prinzip des Liberalismus, mit anderen Worten die formale Gleichstellung, wurde tiefer in die sozialen Strukturen eingeprägt und verdrängte bisherige soziale Schutz-Vereinbarungen. Die sozialen Strukturen in den Ländern, in die die Produktion verlagert wurde, waren in den meisten Fällen nicht auf funktionierende soziale Kompromisse gegründet; diese Länder mussten mit allen Mitteln den Export steigern, um harte Währung zur Bedienung des Schuldendienstes zu erwirtschaften. Dies erforderte eine Restrukturierung, die die Welt in neue Runden der extremen Gewalt warf, wovon künftig noch mehr zu erwarten sind“ (3).
Und so fangen wir viel zu spät an zu begreifen, was in Deutschland passierte. Um im Pogrom des globalen enthemmten Geld-Kapitalismus gute Mine zum bösen Spiel zu machen, entschloss sich die einstige Arbeitnehmerpartei SPD zur Anpassung, statt zum gefährlicheren Kampf. Sie reduzierte die Arbeitnehmerrechte, die soziale Absicherung und versuchte krampfhaft, das Land für die „Märkte“ attraktiv zu halten, statt die viel riskantere, mühsamere Politik einer Gegenströmung zu vertreten, die allerdings gegen die inzwischen vereinten Medien ohnehin nur eine geringe Chance gehabt hätte, in der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Es war das Ende der Arbeitnehmerpartei SPD. Natürlich gewann die konkurrierende CDU/CSU die nächste Wahl 2005 und konnte den begonnenen Abbau der sozialen Errungenschaften der Nachkriegsjahre weiterführen. Die Massen wurden durch „Brot und Spiele“ – günstige Ferienflüge, billiges Plastikspielzeug aus China, Mobiltelefone, Bundesliga sowie mit unzähligen Quizshows und Krimis im öffentlich-rechtlichen Rundfunk et cetera vom Denken über die Zukunft abgehalten.
Mit der Einführung des Euros hatte sich die Situation für die deutschen Firmen dramatisch verändert. Durch den Abbau der Lohnstückkosten bei hoher Qualität und einer zu niedrigen Inflationsquote wurden deutsche Waren im EU-Ausland vergleichsweise viel zu billig, unterboten lokale Anbieter, die den Abbau der Arbeitnehmerrechte noch nicht so recht mitgemacht hatten oder die in korrupten Systemen verfangen waren.
Um Waren aus Deutschland zu importieren, nahmen ausländische Akteure Kredite auf, gerne bei deutschen Banken. Die deutschen Firmen blieben so Exportweltmeister, sammelten viel Kapital, so dass sie keine Kredite aufnehmen mussten, sondern in Banken investierten. Während deutschen Arbeitnehmern gesagt wurde:
„Strengt euch an, wir stehen im weltweiten Wettbewerb, auch gegen China, ihr seid zu teuer“.
Dann kam die Krise. Die Länder, die viel zu viel in Deutschland gekauft hatten – weil es so einfach und billig gewesen war –, hatten ihre eigene Industrie vernachlässigt, konnten plötzlich die Kredite nicht mehr bedienen. Die Bundesregierung sprang ein, rettete die Banken, übernahm die leidenden Kredite – letztlich auf Kosten des Staates beziehungsweise der Steuerzahler, und das dicke Ende ist noch offen, die Krise wurde verschleiert.
Damit hatte der deutsche Normalsteuerzahler das deutsche Establishment zum zweiten Mal subventioniert. Zuerst finanzierte er die Erfolge der produzierenden Industrie durch massive Einbußen bei Sozialleistungen und Einkommen. Danach deckte er die Verluste der Banken ab, als der Staat die Schulden „auflöste“.
Und in Davos, beim Treffen der Reichen und Superreichen und ihrer politischen Vertreter, wurde auch dieses Jahr wieder festgestellt:
Die Reichen werden immer reicher, die Armen bleiben arm, und der Mittelstand schafft die Last bald nicht mehr zu tragen – oh wie schlimm.
Das Gegenmodell
Griechenland war sozusagen ein Laborversuch, wie weit man gehen konnte, die Menschen auszuquetschen, leiden zu lassen, ohne dass es zu einem Bürgerkrieg kommt. Am besten noch unter der politischen Verwaltung einer Gruppe, die ursprünglich für die Rechte der Massen und gegen die Korruption des Establishments eingetreten war. Das war äußerst erfolgreich, wenn auch kriminell, wie man nach Anschauen der Dokumentation „Die Troika“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen glauben könnte (4). Auf diesen Erfahrungen basiert nun die Politik für den Rest der EU und für Deutschland.
Nun wird das Modell ausgerollt – bei wachsender Überwachung, stringenter Abwehr von „alternativen Ideen“, Zensur der neuen Medien, um jeden Dissens unter Kontrolle halten zu können. Alles, was Reichweite erzeugen könnte, wird eliminiert oder so mit Zweifeln eingedeckt, dass die meisten Menschen doch noch den Status-Quo vorziehen. Und schließlich geht es um das Abschotten gegenüber Ideen, wie sie etwa in China ausprobiert werden. Armutsbekämpfung als wichtigstes Ziel der Politik? Wie kann das sein? Das kann doch nur eine Diktatur sein!
Natürlich hat China aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den unzähligen Regime-Wechsel-Aktionen des Westens gelernt und selbst ein soziales Kontrollsystem eingeführt, um staatsgefährdenden Dissens frühzeitig zu orten und eliminieren zu können – also genau das, was derzeit im Westen nachgemacht wird. Aber China lernte auch aus dem Aufstieg des kapitalistischen Westens nach dem Krieg, wandte die gleichen Methoden an, aber ohne dem Turbo-Finanzkapitalismus die Zügel zu überlassen, wie der Westen es tat. Das heißt das Erfolgsmodell China basiert auf einer Kopie des Kapitalismus westlicher Prägung, wie er im Konkurrenzkampf der Gesellschaftssysteme aufgestellt worden war. Jedoch: Das Kapital darf dort nur profitieren, wenn die Massen davon profitieren.
Nun ist natürlich nichts schwarz und weiß. Natürlich gibt es Auswüchse, Fehler und Schwächen, Ausbeutung, Korruption und Machtmissbrauch. Natürlich kann ein solches System nur wachsen, wenn es die individuellen Rechte dem Kollektiv unterwirft. Aber die Entwicklungsländer und Schwellenländer schauen gebannt nach China. Denn durch dieses Modell sehen sie eine Möglichkeit, der Ausbeutung durch den Turbo-Finanzkapitalismus des Westens zu entgehen.
Der neue Wettbewerb der Systeme
Das Problem des Westens ist die Tatsache, dass er den neuen Wettbewerb der Systeme zwischen dem chinesischen Modell und dem eigenen, turbo-finanzkapitalistischen Modell nicht gewinnen kann.
So ist im Mittleren Osten Schumpeters Modell der schöpferischen Zerstörung, die von der damaligen US-Außenministerin Condoleeza Rice 2006 in Tel Aviv für die beabsichtigte Neustrukturierung dieser Region ausgerufen worden war, krachend gescheitert. Der Beginn dieser Politik war ein Angriff Israels auf den Libanon, der bis dahin als „Schweiz des Nahen Ostens“ bekannt war. Nach diesem Krieg lag das Land zwar in Trümmern, und hat sich bis heute noch nicht erholt, aber es wurde nicht das gewünschte Opfer. Der Neuaufbau nach der Vertreibung der israelischen Invasoren durch die Hisbollah führt das Land unweigerlich immer tiefer in die Gruppe der Widerstandsländer.
Der Irak, Syrien, der Iran, Afghanistan und weitere Länder orientieren sich in Richtung des chinesischen Wirtschaftsmodells, wollen dem Westen Widerstand leisten. Und der Westen weiß, dass die Region verloren ist, will aber diese Entwicklung so lange wie möglich verhindern. Nicht zuletzt um Israel noch nicht seinem Schicksal zu überlassen, was aber früher oder später passieren wird. Denn Israel, als westlicher, rassistischer Apartheid-Kolonialstaat wird innerhalb der nächsten 50 Jahre zwangsläufig in eine demokratische, multi-religiöse, multi-ethnische Gesellschaft verwandelt werden, und solche Gesellschaften lassen sich viel weniger leicht durch ein Imperium steuern.
Als Folge wanderte der Fokus der Politik der „schöpferischen Zerstörung“ nach Lateinamerika, beginnend mit Venezuela. In der Vergangenheit hatten die USA dort jene Politik betrieben, die sie dann in den Mittleren Osten brachten, wie etwa den Contra-Krieg gegen Nicaragua (6). Nun kehren sie also wieder zurück zu ihren alten Schlachtfeldern. Aber zurück nach Deutschland.
Deutsche Nachwuchsimperialisten
Dass wir in Deutschland längst in einem Parteienstaat ohne jede Gewaltenteilung und unter Missachtung der Erfahrungen der Vergangenheit und des deutschen Grundgesetzes leben, habe ich ausführlich in meinem Essay „Finis Germania oder Deutschlands Demokratie ist verloren“ beschrieben (5). Die Politik des deutschen Establishments ist nach dem Wegfall der Arbeitnehmerpartei SPD die eines reinen Vasalls der USA, aber mit „Ausstiegsszenario“.
Dieses Szenario besteht darin, sich möglichst überall in der Welt als Nachwuchs-Mini-Imperium anzubieten, ohne aber das große Vorbild allzu arg zu verärgern. So hofft man, aus dem Niedergang der USA Brösel vom großen Kuchen abbrechen zu können, und selbst in der Folge eine mini-imperiale Rolle spielen zu dürfen.
Finanziert wird dies natürlich durch die Massen der arbeitenden und tatsächlich leistenden Bevölkerung Deutschlands. Während die Reichen und Superreichen daran arbeiten, die Zahlen auf ihren Konten in Realwerte umzuwandeln und weiter zu steigern, zum Beispiel durch so genannte Reformen, die den weiteren Verkauf von Allgemeineigentum an jene Superreiche vorsehen: Flughäfen, Autobahnen, Häfen, Staatsunternehmen, Krankenhäuser, Altenheime, Schulen, Universitäten – kaum ein Bereich ist mehr sicher vor Privatisierungen.
Chance vertan
Die große Chance der Nachkriegszeit wurde verschenkt. Wir sind wieder dort, wo das deutsche Kaiserreich einst war. Statt neue Konzepte der Krisenbewältigung durch Kooperation, Interessenausgleich und Diplomatie zu stärken, setzt das deutsche Establishment auf Stärke, Dominanz, den totalen Sieg, Unterwerfung. Im Verhältnis zur USA könnte man die deutsche Geopolitik auch volkstümlich so ausdrücken: „Nach oben buckeln, nach unten treten“ – und immer auf eine Schwäche des Imperiums wartend, ob man sie für sich selbst nutzen kann.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Kees van der Pijl, Der Abschuss – Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg, 2018, PapyRossa Verlag, Seite 29
(2) Ebd. Seite 30-31
(3) Ebd. Seite 36
(4) https://www.youtube.com/watch?v=KYcuLmFUyjE
(5) https://www.nibe-versand.de/Essays-Jochen-Mitschka/Finis-Germania-oder-Deutschlands-Demokratie-ist-verloren::105.html
(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Contra-Krieg
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