Am Abend des 20. Juni 2019 stand die Welt, folgt man unseren Medien, nur wenige Minuten vor einem Krieg zwischen den USA und Iran und einem Flächenbrand im gesamten Nahen Osten. Was den US-Präsidenten dann doch noch bewogen hat, den Angriff auf Iran abzusagen, ist eine wichtige Frage. Der US-Präsident hat getwittert, der Tod von 150 Menschen beim geplanten Angriff — so hatten ihn, heißt es, seine Militärs informiert — wäre für ihn in Anbetracht einer vom Iran abgeschossenen unbemannten Drohne „keine verhältnismäßige“ Antwort gewesen. … Auf Menschenleben Rücksicht zu nehmen, das klingt nach einem ehrenwerten Motiv.
Die USA und Iran …
Interessant, was demgegenüber der ehemalige deutsche Staatssekretär Willy Wimmer in einem Interview vom 21. Juni geäußert hat:
„Der nächste Krieg [der USA], auch wenn er die Wahlkampfspender zufrieden stellen sollte, könnte der letzte Krieg für das sein, was wir unter USA verstehen. In der Anti-Iran Koalition […] können unter einem Präsidenten Trump die Interessen dieser Staaten gegenüber dem Iran nur bedient werden, wenn sich die USA selbst zur Disposition stellen. Wir haben das schon in Nordkorea und in Venezuela gesehen. Die USA werden ausgetestet, und ich sehe bei tatsächlichen und möglichen Rivalen der USA niemanden, der den Iran zu opfern bereit sein könnte.“
Und wie viele Menschenleben die von den USA ausgehende und nun weiter beschleunigte Sanktionsspirale gegen Iran schon gekostet hat und weiterhin kosten wird, ist schon gar kein Thema. Karin Leukefeld hat in einem Interview vom 15. Juni 2019 mit Idriss Jazairy, dem Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates zu den Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Menschenrechte der Bevölkerung des betroffenen Landes, mit Blick auf Syrien erneut auf dieses weitgehend totgeschwiegene Unrecht aufmerksam gemacht.
Dieses Beispiel aus der aktuellen Weltpolitik ist nur ein Beispiel für die These, dass wir den öffentlichen Aussagen unserer Politiker und Medien in international angespannter Zeit kaum noch trauen können und die tatsächlichen Ziele und Zusammenhänge der Politik oftmals verdeckt bleiben. Diesbezüglich hat sich in den 100 Jahren seit Versailles kaum etwas verändert. Welche Folgen hat dies?
… und der Versailler Vertrag
Am 28. Juni 2019 jährt sich zum hundertsten Mal die deutsche Unterzeichnung des Vertrages von Versailles. Über diesen Vertrag gibt es eine Unmenge an Literatur. Hier sei nur kurz Wikipedia zitiert:
„Die deutsche Delegation durfte an den Verhandlungen [über den Vertrag] nicht teilnehmen, sondern konnte erst am Schluss durch schriftliche Eingaben wenige Nachbesserungen des Vertragsinhalts erwirken. Der Vertrag konstatierte die alleinige Verantwortung Deutschlands und seiner Verbündeten für den Ausbruch des Weltkriegs und verpflichtete es zu Gebietsabtretungen, Abrüstung und Reparationszahlungen an die Siegermächte. Nach ultimativer Aufforderung unterzeichnete Deutschland am 28. Juni 1919 den Vertrag unter Protest im Spiegelsaal von Versailles. Nach der Ratifizierung und dem Austausch der Urkunden trat er am 10. Januar 1920 in Kraft. Wegen seiner hart erscheinenden Bedingungen und der Art seines Zustandekommens wurde der Vertrag von der Mehrheit der Deutschen als illegitimes und demütigendes Diktat empfunden.“
Heute gehen viele Sachverständige davon aus, dass der Versailler Vertrag eine enorme Schwächung für die demokratischen Kräfte der noch jungen deutschen Weimarer Republik bedeutete und die Feindschaften zwischen den im Ersten Weltkrieg gegeneinander stehenden Staaten nicht beendete — im Gegenteil. Und auch, dass Hitlers Propaganda und die erneute Kriegsvorbereitung gerade wegen des Versailler Vertrages von zu vielen Deutschen unwidersprochen blieben.
Propaganda und Interessen
Die Propaganda der Siegermächte des Ersten Weltkrieges sah nach 1918 allerdings ganz anders aus. Schon während des Krieges hieß es, zuerst aus Großbritannien, dann auch aus den USA, der Krieg der Alliierten gegen Deutschland sei „the war to end wars“ beziehungsweise „the war to end all wars“, schließlich der Krieg, „to make the world save for democracy“. Wäre der „deutsche Militarismus“ ein für allemal besiegt, dann stünde Frieden und Demokratie in der Welt nichts mehr im Wege.
Heute wissen wir, dass es auch die Interessen US-amerikanischer Großbanken an der Rückzahlung ihrer enormen Kriegskredite gab, die sie Frankreich, Großbritannien und Russland gewährt hatten — was bei einer Niederlage dieser Mächte sehr unwahrscheinlich geworden wäre. Auch ein britisches Interesse daran, den lästigen, vor 1914 stark aufstrebenden Konkurrenten auf dem Festland entscheidend zu schwächen. Auch ein französisches Interesse, den „Erzfeind“ jenseits des Rheins auf Dauer unten zu halten. Die Liste ließe sich verlängern.
Wessen Interessen?
Aber wessen „Interessen“ waren dies, wenn der Preis dafür — zuerst im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg — ein millionenfacher Blutzoll und zerstörte Länder waren. Die Interessen der Völker waren es nicht. Und so war auch der Versailler Vertrag kein Friedensvertrag, sondern eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Eine Lehre nach Versailles und dessen Folgen hätte nach 1945 sein können: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit. Das hat die Welt bis heute nicht geschafft — Teile der Charta der Vereinten Nationen waren ein redlicher und ernsthafter Versuch; aber auch hier bedeutete das Konstrukt des Weltsicherheitsrates und der Siegermächte als Vetomächte einen fundamentalen Bruch der Rechtsgleichheit.
Zur Gerechtigkeit gehört die Wahrheit, soweit man sie kennt und zu akzeptieren bereit ist. Wahrheit nach einem Krieg darf nicht mit Siegerpose und Verachtung für den Unterlegenen einhergehen — sie passt nur dann zur Gerechtigkeit, wenn sie jedem tatsächlich (objektiv) gerecht wird. Es darf kein oben und unten geben. Es allen (subjektiv) „recht zu machen“ ist nicht das Ziel. Rachegelüste wegen erlittenen Unrechts passen nicht zur Gerechtigkeit, weder auf Seiten der Sieger, noch auf Seiten der Besiegten. Wahrheit ist auch keine wirkliche Wahrheit, wenn sie den Weg zur Versöhnung verbaut. Auch die muss jedem gerecht werden. … Und einiges mehr kommt hinzu.
Das alles zu verwirklichen ist sehr anspruchsvoll und setzt den Willen und langen Atem aller Beteiligten voraus. Noch sind wir weit entfernt davon — und das Bemühen hat offensichtlich nachgelassen.
Bis heute werden die Völker belogen, wenn es um Krieg und Frieden geht. Der Vertrag von Versailles und dessen Folgen hätte die Menschheit lehren können, dass es so nicht geht. — Die Aufgaben der Menschheit sind groß.
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