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 In Katerstimmung

In Katerstimmung

Im Jahr zwei nach der deutschen Wende breiteten sich im Osten gemischte Gefühle aus.

Ein Jahr „Deutschland einig Vaterland“ liegt hinter uns, ein Ereignis von historischer Bedeutung, das nur wenige in so kurzer Zeit für möglich gehalten hatten. Haben sich unsere Hoffnungen und Wünsche erfüllt?

Ich bin froh und traurig zugleich, bin hin und her gerissen von meinen Hoffnungen, Wünschen und Träumen und der erlebbaren Realität. Die euphorische Freude über die Grenzöffnung liegt weit zurück. Vergessen fast sind die hunderttausendfachen Umarmungen und die Tränen, gemeinsam geweint. Hatte uns das nicht gezeigt, dass wir ein Volk sind?

Längst vorbei alles, was vorher war, vorbei die mutigen, nahezu aussichtslosen, gefährlichen Proteste gegen die selbstherrliche, anmaßende, scheinbar so fest zementierte Macht der alten SED-Führung. Das große Gefühl solidarischen Miteinanders auf den Straßen der Städte dieses Landes — vorbei. Uns hatte das aus unserem Gebücktsein zum aufrechten Gang gebracht. Die aufkommende Demokratie mit dem importierten, schmutzigen Parteiengezänk des Wahlkampfes im Frühjahr 1990 hat notwendige Gemeinsamkeit dem Kampf um die Macht geopfert. Das ist der Alltag und dieser Alltag hat uns längst eingeholt mit allen Problemen, die wir wegen der Tränen in unseren Augen nicht gesehen hatten.

40 Jahre Trennung, Hasspropaganda und kalter Krieg haben Spuren hinterlassen und unterschiedliche Wertvorstellungen, Lebenspositionen und Standpunkte gefördert. Da wachsen Missverständnisse, auch weil unsere Erwartungen einfach nicht realistisch waren.

Warum sollte ein Unternehmer hier ein Konkurrenzunternehmen fördern, wo er doch selbst genug produziert und er vor allem an neuen Märkten interessiert ist? Mit unseren ausgehungerten Bedürfnissen sind wir ein optimaler Markt! Hatten wir von der Marktwirtschaft wirklich erwartet, sie werde nur unsere Läden füllen und unseren Bauch?

Die notwendige Konsequenz ist bitter, weil sie bei uns an die Substanz geht. Unsere eigenen Möglichkeiten, die Produktion zu steigern, die Wirtschaft zu stabilisieren, sind gering. Noch arbeiten ganz wenige Betriebe effektiv genug, um dem unbarmherzigen Wettbewerb standzuhalten. Wir werden lange die Hilfen aus den alten Bundesländern brauchen. Manche lassen uns das bitter spüren.

Doch da sind nicht nur die Probleme zwischen Ost und West. Ich sehe auch hier bei uns eine Fülle von Schwierigkeiten, die den innerdeutschen Integrationsprozess belasten. Der Tag der deutschen Einheit liegt so fatal nah am 7. Oktober. Und zu viele, die jetzt scheinbar begeistert demokratisch gesamtdeutsch wirken, waren zum letzten DDR-Jubelfest noch stramm und treu bei der pseudo-sozialistischen Sache. Die Blockparteien, bis zuletzt im Geschirr der SED, erleben nun unverhofft eine demokratische Renaissance. Hier in Schwerin standen am 23. Oktober 1989 noch führende CDU-Politiker Schulter an Schulter mit der SED auf deren Tribüne, während 60.000 mit brennenden Kerzen durch die Stadt und um den Pfaffenteich zogen. Heute ist alles gewendet, vor allem für die eigene Karriere.

Wir waren leider nicht in der Lage, unsere eigenen Angelegenheiten einigermaßen vernünftig zu ordnen. Keiner der wirklich Verantwortlichen wurde zur Rechenschaft gezogen, das hat Folgen. Die Unsicherheiten und Ängste allerorten sind aber nicht nur das Ergebnis der verfehlten Politik der SED über Jahrzehnte, sie sind auch erzeugt durch Konzeptionslosigkeit während des Übergangs und durch das Fehlen wirksamer Übergangsrahmenbedingungen. Die politischen Parteien schweigen, was überzeugende Gesellschaftsprogramme angeht. Gerade solche Konzepte könnten Orientierung geben und Zukunftshoffnung erzeugen. Doch sehe ich nirgends Überlegungen, unsere speziellen Erfahrungen unseres Lebens in diesen 40 Jahren, unsere daraus gewonnene Weltsicht und unsere Haltung in gesamtdeutsche Zukunftsvorstellungen zu integrieren.

Fast alles vollzieht sich als einfache Übernahme in im Westen übliche Bedingungen. Aber das neue Deutschland kann doch nicht einfach nur eine vergrößerte Bundesrepublik sein. Damit nehmen wir dem deutschen Volk die Chance einer gemeinsamen neuen Position.

Das ist dumm und gefährlich, weil so unsere notwendige Identität verloren geht und unser Selbstwertgefühl noch weiter herab gesetzt wird. Das alles ist am Ende mitverantwortlich für wachsenden Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und öffentlich ausgetragene Gewalt.

An der Schwelle des Jahres zwei der deutschen Einheit stehe ich nun mit ziemlich gemischten Gefühlen, obwohl doch eigentlich Freude herrschen müsste. Es macht vielen große Schwierigkeiten, die neuen gesellschaftlichen Verwaltungsstrukturen zu verstehen. Dabei müssen wir sie doch auf Anhieb beherrschen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Viele haben ihren Arbeitsplatz verloren und mit ihm den Optimismus, viele fürchten um ihren Arbeitsplatz. Zur Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt kommen die Verunsicherungen durch die Steigerungen der Kosten für Mieten, Heizung, Strom, Gas, Gebühren.

Die Nichtanerkennung hier geleisteter Berufsjahre beleidigt uns und lässt uns spüren, dass unser Leben als vergeblich bewertet wird. Das alles hilft unserem Selbstbewusstsein nicht.

Wir müssen versuchen, die gegenseitigen Missverständnisse, entstanden durch falsche Erwartungen und überzogene Hoffnungen einerseits und Unkenntnis, Intoleranz und Überheblichkeit andererseits mit Geduld und in persönlichen Gesprächen und Begegnungen aufzulösen. Wir sind nicht die Steinzeittölpel, auch wenn wir mit vielen der neuen Bedingungen unsere Schwierigkeiten haben.

Ich träumte davon, dass dieses einheitliche Deutschland ein Land werden könnte, das mit offenen, freundlichen Händen auf seine Nachbarn zugeht. Dass wir nicht vergessen, dass wir in der Schuld unserer ehemaligen Bruderländer stehen, weil wir ohne sie keinen Herbst 89 gehabt hätten. Die Tschechen und Slowaken mit ihrem Prager Frühling 1968 und die Polen mit der Solidarnosc-Bewegung von 1980 waren viel früher bereit, dem stalinistischen System den Kampf anzusagen. Da zuckten die meisten hier noch die Achseln.

Die Ungarn haben mit der Grenzöffnung die Umsturzbewegung im Ostblock ausgelöst. Alle diese Völker müssen nun den schweren Weg der Neuordnung allein gehen. Uns dagegen gibt die Hilfe der Altbundesländer ganz andere Perspektiven. Ich meine, dass es unsere gesamtdeutsche Pflicht sein muss, Hilfe bei diesem schwierigen Prozess anzubieten. Gerade wir Ostdeutschen hatten doch langjährige Verbindungen, die jetzt zur Brücke zwischen Ost und West werden könnten.

Ich träumte davon, dass das Ende des kalten Krieges und der globalen Spannungen eine wirkliche internationale Entspannung schafft, die die Rüstung in allen Teilen der Welt überflüssig werden lässt.

Welch immensen Ressourcen wären das für die Hilfe der Völker im Osten, in der Dritten Welt und für den notwendigen Schutz der Umwelt. Längst sind hier globale Programme nötig, die so finanziert werden könnten.

Die Welt ist leider nicht friedlich geworden. Spannungsherde schießen wie Pilze aus dem Boden, nicht nur im Nahen Osten. Die ehemals sozialistischen Völkergemeinschaften in Jugoslawien und der Sowjetunion brechen auseinander. Die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen, wie jetzt in Jugoslawien, sind regelrecht vorprogrammiert. Wird eine friedliche Welt überhaupt möglich sein?

Und wird eine friedliche Welt überhaupt möglich sein, wo wir doch hier in Deutschland statt der dringend erforderlichen Gemeinsamkeit der Demokraten vor allem Parteiengerangel um Machterwerb und Machterhalt erleben? Die gewonnene Einheit ist eine große Chance, ich bin aber nicht sicher, ob wir uns diesen Anforderungen als gewachsen erweisen.



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