Bei all der zunehmenden Hektik, den rund um die Uhr hereinrauschenden Nachrichten und den Twitter-Ausbrüchen, ist es für die meisten westlichen Länder, insbesondere die USA, ein Leichtes, die Grundlagen der Beziehungen zwischen Eurasien und seiner westlichen Halbinsel Europa zu vergessen.
Asien und Europa tauschen seit mindestens 3.500 v. Chr. Waren und Ideen aus. Historisch gesehen mag der Handelsfluss einige gelegentliche Erschütterungen erlitten haben, zum Beispiel im 5. Jahrhundert durch eindringende Reiternomaden in die eurasischen Steppen. Aber im Grunde war er bis zum Ende des 15. Jahrhunderts stabil. Wir können ihn im Wesentlichen als eine Jahrtausende alte Verkehrsachse bezeichnen — von Griechenland bis Persien, vom Römischen Imperium bis China.
Eine Landroute mit unzähligen Abzweigungen durch Zentralasien, Afghanistan, Iran und die Türkei verband Indien und China mit dem östlichen Mittelmeer und dem Schwarzen Meer und führte schließlich zu dem, was man als die alte Seidenstraße kannte.
Im 7. Jahrhundert standen die Land- und Seehandelswege in direkter Konkurrenz zueinander. Und die iranische Hochebene spielte in diesem Prozess immer eine Schlüsselrolle.
Die iranische Hochebene umfasst historisch gesehen Afghanistan und Teile Zentralasiens, die sich im Osten bis Xinjiang und im Westen bis nach Anatolien erstrecken. Im persischen Reich drehte sich alles um den Überlandhandel; Persien war der wichtigste Knotenpunkt zwischen Indien und China und dem östlichen Mittelmeerraum.
Die Perser setzten die Phönizier an der syrischen Küste als ihre Partner ein, um den Seehandel im Mittelmeer zu organisieren. Die Unternehmer in Tyrus etablierten ihrerseits Karthago als Knotenpunkt zwischen dem östlichen und westlichen Mittelmeer. Aufgrund ihrer Partnerschaft mit den Phöniziern mussten die Perser unweigerlich mit den Griechen — einer Seemacht — in Konflikt geraten.
Wenn die Chinesen, die heute die Neue Seidenstraße voranbringen wollen, den „Austausch von Mensch zu Mensch“ als eines ihrer Hauptmerkmale hervorheben, dann meinen sie den Jahrtausende alten Dialog zwischen Europa und Asien. Dabei hätte es im Lauf der Geschichte sogar zwei große, direkte Begegnungen geben können, die aber dann nicht zustande kamen.
Die erste wurde verursacht durch den Sieg Alexanders des Großen über Dareios III. von Persien. Doch dann mussten Alexanders Nachfolger, die Seleukiden, gegen die aufsteigende Macht in Zentralasien, die Parther, kämpfen, die Persien und Mesopotamien übernahmen und schließlich den Euphrat zum „Limes“ zwischen sich und den Seleukiden machten.
Die zweite abgebrochene Begegnung ereignete sich, als Kaiser Trajan im Jahr 116 n. Chr. nach dem Sieg über die Parther den Persischen Golf erreichte. Doch dessen Nachfolger Hadrian zog sich zurück, sodass die Geschichte nichts verzeichnete, was eine direkte Begegnung zwischen Rom, über Persien, mit Indien und China gewesen wäre — oder anders gesagt: eine Begegnung des Mittelmeers mit dem Pazifik.
Mongolische Globalisierung
Der letzte westliche Abschnitt der alten Seidenstraße war, genau genommen, eine maritime Seidenstraße. Vom Schwarzen Meer bis zum Nildelta reihten sich italienische Städte und Handelsniederlassungen wie die Perlen einer Kette aneinander, eine Mischung aus Häfen und Endpunkten für Karawanen. Von dort aus wurden asiatische Produkte in italienische Häfen verschifft.
Die Handelszentren zwischen Konstantinopel und der Krim bildeten einen weiteren Zweig der Seidenstraße quer durch Russland bis Nowgorod, das kulturell der byzantinischen Welt sehr nahe stand. Von Nowgorod aus lieferten Kaufleute aus Hamburg und anderen Hansestädten asiatische Waren an die Märkte im Baltikum, in Nordeuropa und bis nach England — parallel zu den südlichen Routen, die von den italienischen Seerepubliken befahren wurden.
Zwischen dem Mittelmeer und China verlief die alte Seidenstraße natürlich hauptsächlich auf dem Landweg. Aber es existierten auch einige wenige Seerouten. Die wichtigsten Zivilisationsorte waren aber nicht maritim, sondern landwirtschaftlich und handwerklich geprägt. Bis zum 15. Jahrhundert dachte niemand ernsthaft über die turbulente, langwierige Seefahrt nach.
Die Hauptakteure waren China und Indien in Asien sowie Italien und Deutschland in Europa. Deutschland war der wichtigste Konsument der von den Italienern importierten Waren. Daraus erklärt sich, kurz gesagt, die strukturelle Vereinigung dieser beiden Gebiete innerhalb des Heiligen Römischen Reiches.
Im geografischen Herzen der alten Seidenstraße lagen Wüsten und ausgedehnte Steppen, die von einigen wenigen Hirten- und Nomadenstämmen durchquert wurden. Überall in diesen riesigen Regionen nördlich des Himalaya diente das Seidenstraßennetz vor allem den vier Hauptakteuren. Man kann sich vorstellen, dass — wenn eine riesige politische Macht entstünde, die all diese Nomaden vereint —, diese dann der Hauptnutznießer des Seidenstraßenhandels wäre.
Nun, das ist tatsächlich geschehen. Die Dinge begannen sich zu verändern, als die Nomaden im südlichen Zentralasien dazu übergingen, ihre Stämme als reitende Bogenschützen militärisch-politischen Führern wie Dschingis Khan zu unterstellen.
Das war die Globalisierung durch die Mongolen, eigentlich die vierte Globalisierung in der Geschichte, nach der syrischen, der persischen und der arabischen. Unter dem mongolischen Ilkhanat bildete die iranische Hochebene — die hier erneut eine wichtige Rolle spielte — die Verbindung zwischen China und dem armenischen Königreich Kilikien im Mittelmeerraum.
Die Mongolen strebten kein Monopol in Bezug auf die Seidenstraße an. Im Gegenteil: Zur Zeit von Kublai Khan — und Marco Polos Reisen — war die Seidenstraße frei und offen. Die Mongolen wollten lediglich, dass die Karawanen eine Maut entrichteten.
Bei den Türken war das eine ganz andere Geschichte. Sie konsolidierten Turkestan von Zentralasien bis Nordwestchina. Der einzige Grund, warum Tamerlan Indien nicht annektierte, lag darin, dass er vorher starb. Aber selbst die Türken wollten die Seidenstraße nicht stilllegen. Sie wollten sie kontrollieren.
Venedig verlor seinen letzten direkten Zugang zur Seidenstraße im Jahr 1461 mit dem Fall des Kaiserreichs Trapezunt, einem Nachfolgestaat des Byzantinischen Reiches. Da die Seidenstraße für die Europäer nun gesperrt war, glaubten die Türken — mit einem Reich, das vom südlichen Mittelasien bis zum Mittelmeer reichte —, sie kontrollierten nun den Handel zwischen Europa und Asien.
Doch das war verfrüht. Denn zu diesem Zeitpunkt entwickelten die dem Atlantik zugewandten europäischen Monarchien den ultimativen Plan B: die Suche nach einem neuen Seeweg nach Indien.
Und der Rest ist Geschichte: die nordatlantische Vorherrschaft.
Aufgeklärte Arroganz
Die Aufklärung konnte Asien nicht in ihre eigenen starren Strukturen pressen. Europa hörte auf, Verständnis für Asien zu entwickeln, verkündete, es sei eine Art unförmiger, historischer Trümmerhaufen und richtete seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf „jungfräuliche“ oder „verheißungsvolle“ Länder in anderen Regionen des Planeten. Wir alle wissen, wie England ab dem 18. Jahrhundert die Kontrolle über alle Seewege übernahm und die Vormachtstellung im Nordatlantik in ein einsames Supermachtspiel verwandelte — bis die USA alles an sich riss.
Doch es gab die ganze Zeit über Gegendruck von den Mächten des eurasischen Herzlandes. Das ist der Stoff, aus dem sich die internationalen Beziehungen der letzten zwei Jahrhunderte zusammensetzen — und der im jungen 21. Jahrhundert in etwas gipfelt, das man vereinfacht als „Die Rache des Herzlandes gegen die Seemacht“ bezeichnen könnte. Aber das beschreibt noch immer nicht die ganze Geschichte.
Die „Vorherrschaft der Vernunft“ in Europa führte nach und nach zu einem Unvermögen, Vielfalt zu verstehen — oder die Anderen zu verstehen, wie etwa die Völker in Asien. Ein echter Dialog zwischen Europa und Asien — der eigentlich wahre Motor der Geschichte — war in den beiden vergangenen Jahrhunderten größtenteils verkümmert.
Europa verdankt seine DNA nicht nur dem viel gerühmten Athen und Rom — sondern auch Byzanz. Doch zu lange blieb nicht nur der Osten, sondern auch der europäische Osten, der Erbe von Byzanz, unverstanden. Er blieb sozusagen ohne Verbindung zu Westeuropa oder wurde von pathetischen Klischees überflutet.
Die „Belt and Road Initiative, BRI, — der andere Name für die von China vorangetriebene Neue Seidenstraße — ist auf vielfältige Weise ein historischer Wendepunkt. Langsam und sicher entwickelt sich die Konfiguration einer wirtschaftlich miteinander verbundenen Gruppe eurasischer Top-Landmächte, von Shanghai bis zum Ruhrgebiet. Sie alle profitieren vom aufeinander abgestimmten, gewaltigen technologischen Know-how Deutschlands und Chinas und den enormen Energieressourcen Russlands.
Die „Wilden 2020er Jahre“ könnten den historischen Wendepunkt markieren, an dem dieser Block die gegenwärtige, hegemoniale atlantische Macht überflügelt.
Man vergleiche dies mit dem vorrangigen strategischen Ziel der USA, das sie seit Jahrzehnten verfolgen: durch unzählige Formen des Divide et Impera, des „Teile und Herrsche“, zu erreichen, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland, Russland und China so schlecht wie möglich gestalten.
Kein Wunder, dass auf dem NATO-Gipfel in London im Dezember 2019 die strategische Angst deutlich sichtbar wurde, die eine Verstärkung des Drucks auf Russland und China forderte. Nennen wir es das „Große Schachbrett“, wie Zbigniew Brzezinski seinen letzten, immer wiederkehrenden Alptraum nannte.
Deutschland wird bald eine überlebenswichtige Entscheidung treffen müssen. Es ist, als ob dies eine Erneuerung der Debatte zwischen „Atlantikern“ und „Ostpolitikern“ wäre — in weitaus dramatischeren Begriffen. Die deutsche Wirtschaft weiß, dass die einzige Möglichkeit eines souveränen Deutschlands, seine Rolle als globale Exportmacht zu konsolidieren, darin besteht, ein enger Geschäftspartner Eurasiens zu werden.
Parallel dazu sind Moskau und Peking zu dem Schluss gekommen, dass die strategische Einkreisung durch die USA über die Ozeane hinweg nur durch die Aktionen eines aufeinander abgestimmten Blocks durchbrochen werden kann: Durch BRI, Belt and Road Initiative, die Eurasische Wirtschaftsunion EAEU, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ, BRICS+ und die New Development Bank, Neue Entwicklungsbank NDB der BRICS sowie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank AIIB.
Nahost-Befrieder
Die alte Seidenstraße war keine einzelne Kamelkarawanenroute, sondern ein miteinander kommunizierendes Labyrinth. Seit Mitte der 1990er Jahre hatte ich das Privileg, fast jede wichtige Strecke auf ihr zu bereisen — und auf diese Weise erkennt man eines Tages das komplette Puzzle. Die Neuen Seidenstraßen, wenn sie ihr Potenzial erfüllen, versprechen dasselbe wie ihr historisches Vorbild.
Der Seehandel kann möglicherweise durch eine weltweite Marine-Supermacht beherrscht — oder kontrolliert — werden. Aber ein Handel über Land kann nur im Frieden gedeihen. Daher haben die Neuen Seidenstraßen das Potenzial, der große Friedensstifter für Südwestasien zu sein — was die westlich-zentrierte Sichtweise den Nahen Osten nennt.
Der Nahe Osten — man erinnere sich an Palmyra — war immer ein wichtiger Knotenpunkt der alten Seidenstraße, der großen Landverkehrsachse des euro-asiatischen Handels bis zum Mittelmeer.
Jahrhundertelang kämpften vier Regionalmächte — Ägypten, Syrien, Mesopotamien, heute Irak, und Persien, heute Iran — um die Hegemonie über das gesamte Gebiet vom Nildelta bis zum Persischen Golf. In jüngerer Zeit gab es dort eine Vorherrschaft von außen: osmanische Türken, Briten und Amerikaner.
Keine andere Region ist seit Beginn der Geschichte so zart, so zerbrechlich, so unermesslich reich an Kultur gewesen wie diese: eine absolute Schlüsselzone der Welt. Natürlich war der Nahe Osten auch schon vor der Entdeckung des Öls ein Krisengebiet, die Babylonier wussten übrigens schon davon.
Der Nahe Osten ist ein wichtiger Zwischenstopp auf den überseeischen Handelsrouten des 21. Jahrhunderts — und somit von geopolitischer Bedeutung für die derzeitige Supermacht, neben anderen geoökonomischen und energiepolitischen Gründen. Aber seine besten und klügsten Köpfe wissen, dass der Nahe Osten kein Kriegsgebiet oder ein Zentrum vorkriegerischer Auseinandersetzungen bleiben muss — wovon übrigens auch drei der historischen, regionalen Mächte des Quartetts betroffen sind, nämlich Syrien, Irak und Iran.
Was die Neuen Seidenstraßen bieten, ist eine weit reichende, wirtschaftlich vernetzte Integration von Ostasien über Zentralasien, den Iran, den Irak und Syrien bis hin zum östlichen Mittelmeerraum. Genau wie die alte Seidenstraße. Kein Wunder also, dass den Interessensgruppen, die das Kriegsgeschäft betreiben, angesichts dieser echten „Friedensandrohung“ so unwohl zumute ist.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel [Why the New Silk Roads are a ‘threat’ to US bloc. https://www.asiatimes.com/2020/01/article/why-the-new-silk-roads-are-a-threat/.] Er wurde von Angelika Eberl übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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