Die Weltkrise, die wir durchleben und zu der auch die Corona-Krise gehört, hat viele Gesichter. Mit eindimensionalen und monokausalen Rastern ist sie nicht zu erfassen. Aber eines scheint festzustehen: Es ist etwas global entgleist, und wir wissen nicht, ob und inwieweit diese Entgleisung noch rückgängig zu machen ist. Haben wir noch eine Chance oder sind wir verloren? Unverlierbar bleibt wichtig: „Erkenne die Lage!“ (Gottfried Benn, schon 1944) und „An welchem Punkt stehen wir?“ (Giorgio Agamben im März 2020).
Ohne großen Scharfsinn lässt sich festhalten, dass wir mit der globalen Megatechnik und all ihren Verzweigungen sowie der manischen Fixierung auf die sogenannte Biosicherheit (biosecurity) seit Corona eine rote Linie überschritten haben. Was folgt daraus? Der Boden, auf dem wir fortan zu gehen gezwungen sind, ist umfassend kontaminiert. Abstrakte Naturwissenschaft, Finanzsystem, Digitalisierung, Mathematisierung, Demontage alles Menschlichen im alten Sinne, zunehmende Vernichtung der lebendigen Vielfalt auf dem Planeten, Manipulation durch die Massenmedien, Überwachung, Zerschlagung des Individuums und seiner schöpferischen Potenziale (außerhalb der technischen Welt) u.v.m. haben längst alles überwuchert und kolonisiert.
Im Hintergrund dieser aus dem Ruder gelaufenen Verhältnisse wird ein monströses Bild des Universums favorisiert und bejubelt, das uns die Erde als Oase in einem hoffnungslos toten Raum ins Bewusstsein rückt, der uns gleichwohl gespenstisch umgibt und überall Monstren zutage fördert.
Ein „kosmischer Faschismus“ sozusagen, dem gegenüber der uns auf der Erde bekannte Faschismus beinahe unspektakulär anmutet: Die Sterne fressenden Monstren der sogenannten Schwarzen Löcher sind weder zu überbieten noch zu besiegen ... Eine gigantische Phantasmagorie, sieht die Welt wirklich so aus? Ich habe meine Zweifel daran und diese auch oft dargestellt, in der vielleicht verwegenen Ansicht, dass es durchaus Alternativen zu alldem gibt. Alternativen, die klar benennbar sind und die den „kosmischen Idioten“ (Peter Sloterdijk), als welcher der Erdbewohner in der herrschenden Intellektualkultur erscheint, wieder zu einem Wesen machen, das seine eigentliche, nämlich seine geistige Würde zurückgewinnt.
Der vorliegende Band enthält vierzehn essayistische Texte, die mir geeignet erscheinen, Substanzielles beizutragen zum Verständnis dieser Weltkrise, in der wir uns befinden. Sie geben in ihrer Gesamtheit einen durchaus repräsentativen Einblick in das Themenspektrum und das Spezifische meines Denkens und wollen in dieser Zusammenstellung nicht zuletzt auch all denjenigen einen gut handhabbaren Zugang eröffnen, die nicht primär über meine Schriften, sondern vielleicht über das Internet auf mich gestoßen sind. Zu diesem Zweck kann jeder der hier versammelten Essays für sich gelesen werden. Die thematische Anordnung der Texte ist nicht didaktisch motiviert; man kann überall einsteigen und die Reise beginnen.
Die vorgelegten Essays umspannen einen Zeitraum von 26 Jahren (1993 bis 2019) und werden im Wesentlichen so präsentiert, wie sie jeweils zu ihrer Zeit geschrieben worden sind — von eher „kosmetischen“ Änderungen, Zusätzen und Korrekturen einmal abgesehen. Eine Aktualisierung war nicht geplant und ist auch nicht erforderlich, weil die Texte als solche grundsätzlicher Natur sind und kein Verfallsdatum haben. Sie sind sozusagen per se aktuell. Als ich die Texte zusammenstellte und noch einmal mit kritischem Auge las (manche hatte ich viele Jahre unbeachtet gelassen), war ich geradezu verblüfft und in gewisser Weise auch erfreut, dass sie auch heute, im beginnenden Herbst 2021, geschrieben sein könnten.
Die Grundlagenkrise der Naturwissenschaft, die zur oben genannten Weltkrise gehört, hat sich seit 1993, als der erste hier gebrachte Essay in einem Sammelband erschien, nicht gelöst; sie war damals virulent und ist es auch heute. Nichts hat sich geändert an dem, was ich die „Diktatur der Abstraktion“ nenne.
Unübersehbar ist die globale Dominanz der digitalen Welt, die im Kern eine Dominanz der Digitalkonzerne ist, in Verbindung mit der alles überwuchernden Finanzindustrie, der Megatechnik, den Superreichen und den staatlichen Apparaten, welche sich als den Superreichen und der „Wissenschaft“ hörig erwiesen haben. Gleichfalls unübersehbar ist das fast völlige Fehlen eines wirklich fundierten Menschenbildes in der herrschenden Intellektualkultur.
Der Weg in den Transhumanismus, den „Great Reset“ und die sukzessive Auslöschung der humanen Substanz im Cyborg-Wahn scheint unentrinnbar vorgezeichnet. Die erkenntnismäßige Grundlage all dessen ist allerdings von beschämender Dürftigkeit.
Allenthalben hat man sich zynisch darauf geeinigt, dass sowieso keiner wirklich etwas wissen könne über die Dinge dieser Welt, was die äußert begrenzte, technisch-rationale Ebene überschreitet. Nihilismus, geistiges Flachland, soweit das Auge reicht. Die technisch-mathematische Naturwissenschaft ist der eigentliche Fundamentalismus, dem gegenüber aller religiöse Fundamentalismus verblasst. Massiv und bedrohlich herrscht hier, kaum ernsthaft infrage gestellt, ein gespenstischer Wirklichkeitsverlust, den vor Jahrzehnten schon Erwin Chargaff beklagt hat:
„Sie (die Naturwissenschaften, J. K.) sind ein wichtiges Werkzeug der Entfremdung. Die Fülle der Untersuchungen, die immer indirekter werden, die Jagd nach dem Kleinsten, nach Schatten auf Schirmen, der Zersplitterung einer Natur, auf der einst der Segen der Ganzheit geruht hat. Das alles ist ein riesenhaftes Alibi geworden zwecks Erschaffung einer Scheinwirklichkeit ... Die Wissenschaft als ungeheurer Prokrustes der Natur, sie streckt und zerschneidet; sie hat viel auszusetzen an der Schöpfung. (...) Wohin man auch schaut, herrscht eine zahnlose, mürrische Barbarei, die alles befingert.“ (1)
Klare Worte, die viele für maßlos übertrieben halten, denen ich aber einschränkungslos zustimme. Und was die physikalische Kosmologie betrifft, die unser In-der-Welt-Sein als Im-Universum-Sein seit Langem bestimmt, so ist deren Grundlagenkrise unübersehbar. „Wir wissen selbst nicht, worüber wir reden“, räumt der amerikanische Nobelpreisträger David Gross ein, „es ist eine Phase äußerster Verwirrung“ (2). Und Leo Smolin von der University of Waterloo schreibt:
„Heute ist das meiste, was Theoretiker über die Grundlagen der Physik publizieren, nicht überprüfbar. Das würde ich eine Krise nennen.“ (3)
Von dem, was früher als empirische Naturwissenschaft galt, hat sich der Großteil der sogenannten theoretischen Physik und der Kosmologie seit Langem schon radikal verabschiedet, auch wenn das wohl die meisten gar nicht mitbekommen haben und so tun, als sei alles beim Alten. (Am Rande: Auch dieses sogenannte Alte war schon immer durchsetzt mit Wahnelementen, wenngleich noch nicht in dem Maße und nicht so monströs, wie es heute der Fall ist.) Einige der hier vorgelegten Essays sehe ich als substanzielle Beiträge zur Entwirrung der so heillos verfahrenen Situation, die einen neuen Blick auf die Grundlagenreflexion von Physik und Kosmologie werfen und ein Nachdenken anregen wollen über das Wesen und die kosmische Lage des Anthropos, des „Erdlings“, auf diesem so rätselhaften und bedrohten Gestirn.
Ungebrochen aktuell, ja brennend ist die Frage nach dem Menschen bzw. dem Menschenbild, das wir brauchen, um wirklich im tiefsten Sinn menschenwürdig leben zu können im Angesicht des uns überwölbenden Sternenhimmels, damit wir uns nicht mit einer abstrakten oder lediglich religiösen Kümmerform unseres Selbst begnügen.
Unser Weltbild, als Bild der Gesamtheit des Universums, ist die Signatur des kollektiven und auch des individuellen Bewusstseins. „Der Kosmos ist wie ein Spiegel“, lautet ein persisches Sprichwort. Oft schaut ein Esel hinein ... Die Kosmologie, so ließe sich sagen, ist die Grundlage von allem. Um uns brandet das Weltall. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, im Letzten kosmische Existenzen, auch wenn wir mehrheitlich den Vorhang zugezogen haben. Ich versuche, den Vorhang einen winzigen Spalt weit aufzuziehen. Was verbirgt sich dahinter? Wir selbst? Oder etwas ganz Anderes, das Ganz-Andere? Mit diesen Fragen will ich das kleine „Vorspiel auf dem Theater“ abschließen und die Bühne freigeben …
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Kosmos“ von Jochen Kirchhoff.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Erwin Chargaff: Vorläufiges Ende, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 31
(2) zit. n.: Die ZEIT, Nr. 14/März 2007, S. 29
(3) ebd.
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