Die Blickrichtung anzugeben ist einfach. Schauen Sie mal in einer Einkaufsstraße etwas länger in den Himmel. Es wird nicht lange dauern, und fast alle Passanten werden auch dorthin sehen, um zu sehen, was es zu sehen gäbe. Diesen Reflex kann man auch sprachlich nutzen, um einen Blickwinkel vorzugeben und damit einen anderen zu verhindern. Ein Wort genügt.
Unerlaubte Sichtweisen
Jede Kultur hat ihre Tabu-Blickrichtungen. Menschen anzustarren gehört dazu und erst recht einer Frau in den Ausschnitt zu schauen. Das hat seinen Sinn, denn wer möchte die Mitmenschen durch seine Aufmerksamkeit belästigen? Wer dieses Tabu trotzdem missachtet, gilt als asozial.
Jede Gesellschaft hat auch ihre geistigen Tabu-Blickrichtungen. Wahrnehmungen, die nicht geäußert, ja am besten nicht einmal gedacht werden dürfen.
Blickrichtungen, die die Gefahr in sich tragen, die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Ohne Grundkonsens kein halbwegs harmonisches gesellschaftliches Miteinander. Das muss sichergestellt werden. Wo diese Grenzen liegen, lernen die Kinder von ihren Eltern, in der Schule und im Kontakt mit der Außenwelt. Wer die gesetzten Grenzen überschreitet, ist asozial – kein akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft.
Besonders eng sehen das Kinder im Grundschulalter. Sie stellen die Autoritäten nicht in Frage, und grenzen Mitschüler, die als „komisch“ gelten, erbarmungslos aus. Die Außenseiter haben keine Chance auf Anerkennung, wenn sie sich nicht anpassen wollen oder können. Der kindliche Verstand ist noch nicht in der Lage, gesellschaftliche Strukturen zu reflektieren und so hält das Mainstream-Kind am Vorgegebenen fest. Das ist sicherer.
Dieses notwendige Prinzip zur Stabilisierung einer Gesellschaft wurde von den Herrschenden schon immer benutzt, um ihre Herrschaft zu sichern. Galileo Galilei wurde von der Kirche gezwungen, seiner wissenschaftlichen Erkenntnis, die Erde kreise um die Sonne, abzuschwören. Das Problem war nicht religiöser Natur. Das Problem war vielmehr, dass Galilei die Deutungshoheit der Kirche anzweifelte.
Und wenn sie in diesem Punkt kein Recht hatte, dann vielleicht auch nicht in anderen Punkten. Möglicherweise kämen manche Menschen sogar auf die Idee, dass auch hohe Steuern und unterdrückende Herrschaft nicht gottgewollt sein könnten. Nachdem Galilei die Folterinstrumente gezeigt wurden, verspürte er kaum mehr Lust, auf seiner Erkenntnis zu beharren.
Das kommt uns bekannt vor, denn Herrschaft funktioniert heute nicht viel anders als damals, nur subtiler. Die Herrschenden müssen von besonders bedrohlichen Gedanken ablenken. Und dazu genügt oft ein Wort.
Konkrete Beispiele
Mir fallen dazu Volker Pispers Äußerungen zu den Begriffen „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ ein. Der „Nehmer“ muss dankbar sein, wenn der „Geber“ ihm etwas gibt. Hier ist der Blickwinkel um ganze 180 Grad verdreht. Gibt doch in Wirklichkeit der Arbeiter dem Unternehmer seine Arbeitskraft. Die korrekte Wahrnehmung könnte ein ganz anderes Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse bewirken. Das wäre dem „Arbeitskraftnehmer“ (ehemals „Arbeitgeber“) aber gar nicht recht.
Schauen wir mal auf den Begriff „Exportweltmeister“. Deutsche sind sehr gerne Weltmeister. Fußball-Weltmeister oder Fußball-Fast-Weltmeister zu sein, gehört zur deutschen Identität. Wir sind klug, wir sind fleißig und unsere Produkte sind weltweit beliebt. Das ist schön und soll so bleiben. Das findet auch Angela Merkel. Dabei wird bewusst verschwiegen, dass der Exportweltmeister auf Import verzichtet. Die Arbeiter des Exportweltmeisters werden unangemessen schlecht bezahlt und können daher weniger konsumieren. Durch das Handelsungleichgewicht wächst die globale Ungleichheit noch schneller, und die Profite landen in den Taschen der Großaktionäre, dem internationalen Großkapital. Genauso wenig wie es unser Verdienst ist, wenn die Nationalmannschaft Weltmeister wird, haben wir etwas von dem Exportweltmeistertitel. Aber wer schaut schon in die düsteren Nebengassen, wenn der Reiseführer auf die Attraktion zeigt?
Für Verwirrung sorgen auch die politischen Kategorien „rechts“ und „links“. Das ist mir schon als Schülerin aufgefallen. Schon damals dachte ich immer, dass „die Linken“ doch Recht hätten, während ich „die Rechten“ mit ihrer indirekten Reichen-Unterstützungs-Rhetorik „link“ fand. Aber irgendwann gewöhnt sich jeder an den üblichen Sprachgebrauch, und dieser wird Teil des eigenen Wortschatzes.
Zu meiner Schulzeit war die politische Richtung der Parteien auch noch klar ersichtlich. Die CDU war rechts, die FDP noch rechter, die SPD links und die Grünen ganz links.
Heute ist „rechts“ zu sein oder zu denken, aber etwas ganz Schlimmes. „Abgrenzung nach rechts“ wird gefordert. „Rechts“ ist im heutigen Sprachgebrauch das, was früher „rechtsextrem“ hieß. Das suggeriert, dass unsere schwarz-rot-gelb-grüne Partei in der ausgewogenen Mitte säße, obwohl ihre Handlungen oft „rechter“, also konzernfreundlicher sind als die der damaligen CDU. Das sieht der Wähler aber nicht, seine Wahrnehmung ist auch hier relativ, und auf der rechten Seite sitzt nun die AfD.
Um der inflationären Verwendung der Begriffe „rechts“/„rechtsextrem“ vorzubeugen, die als Synonym von „Das geht ja gar nicht!“ irreführend benutzt werden, hilft die Rechtsextremismus-Definition der Bundeszentrale für politische Bildung (1). Auf nur wenige der Beschuldigten trifft diese zu. Und siehe da – plötzlich sieht die Welt gar nicht mehr so gefährlich aus.
Neben der Fingerzeig-Technik und der Nachbarschafts- und der Übertreibungs-Technik gibt es auch die Spiegel-Technik. Die Namen der Parteien entsprechen genauso wenig der Wirklichkeit wie das Gerede ihrer Vertreter. Ob christlich, sozial, frei, umweltfreundlich oder alternativ — sie spiegeln in ihren Reden und Außendarstellungen geschickt die Wünsche der Wähler und verstellen gleichzeitig den Blick auf die realen Entscheidungen, die mit den vorgeschobenen Idealen nichts zu tun haben.
Nehmen wir doch noch die von der NATO initiierten „humanitären Kriege“ dazu. Bei diesen müssen angeblich ständig irgendwelche Völker befreit werden. Genauer betrachtet ist auch dieser Begriff heutzutage genauso aktuell, wie im fiktiven 1984, siehe George Orwells Schild am Wahrheitsministerium (siehe Eingangszitat).
Es verwundert nicht, dass das Pentagon gerne nach dem Prinzip „Angriff ist die beste Verteidigung“ argumentiert. Auch bei Ehestreitigkeiten ist diese Methode sehr beliebt. Der Profi verbindet diese Taktik mit der Ausweichstrategie. Eine Taktik der Selbstverteidigung besteht darin, bei einem Angriff ein wenig zur Seite auszuweichen und dem Angreifer einen leichten Schubs in die andere Richtung zu geben, so dass er sein eigentliches Ziel verfehlt. Diese Strategie lässt sich auch auf die Blickrichtung anwenden.
Ein Beispiel: Sogar der oberflächliche Leser bekommt bei den offiziellen Informationen über den Putsch in der Ukraine ein unangenehmes Gefühl von gesteuertem Regime-Change. Manipulative Medien verschweigen den wahren Aggressor und lenken das Gefühl der Empörung auf Putin um, der angeblich die baltischen Staaten erobern möchte. So wird die Verteidigung gleichzeitig ein Gegenangriff.Wie in fast jeder Kriegspropaganda werden nicht nur unbewiesene Behauptungen aufgestellt, es werden auch Aktion und Reaktion vertauscht. Der Provozierte wird als Provokateur dargestellt – und fertig ist das Feindbild.
Eine weitere bewährte Methode ist die Nicht-Trennung von Gruppen und den Taten einzelner Mitglieder. So schürt beispielsweise die tägliche Berichterstattung die Vorurteile gegen Flüchtlinge. In kritischen Medien hört man: „Israel unterdrückt die Palästinenser“ oder „Die Amerikaner führen Krieg in Syrien.“ Die Mehrheit der Menschen in den genannten Ländern tut aber nichts dergleichen und verurteilt Unterdrückung und Krieg. Es ist nun ein Leichtes, dem unaufmerksamen Sprecher dieser Sätze Antisemitismus oder Antiamerikanismus zu unterstellen, so dass sich dieser erst einmal wortreich erklären beziehungsweise gegen die Vorwürfe verteidigen wird. Das funktioniert perfekt, denn schon ist man vom eigentlichen Thema abgelenkt. Sagen wir doch stattdessen einfach gleich: „Die US-Regierung“ oder welche Regierung auch immer.
Damit die Bevölkerung nicht nur in die angezeigte Richtung blickt, sondern auch selbst dafür sorgt, dass sich alle daran halten, muss man sie in der politischen Entwicklung auf dem Stand von Grundschülern halten.
Viele Mainstream-Artikel haben ein gemeinsames Ziel: Der Bürger soll die Zusammenhänge nicht verstehen, damit er nicht selbst reflektieren kann, sich an vorgegebene Deutungsmuster hält und Wert darauf legt, dass andere sich genauso verhalten.
Das sorgt für Sicherheit in der Gemeinschaft. Es funktioniert noch besser, wenn in die Wahrnehmungs-Suppe zusätzlich eine Zutat gerührt wird, die Unsicherheit oder Angst erzeugt, und fertig ist der Orwell'sche Eintopf. Wer die Nachrichten im Fernsehen einschaltet, bekommt diesen Eintopf brühwarm serviert.
Der handlungsorientierte Teil
Wir müssen unsere Worte viel bewusster wählen und vor allem nicht die in den Zeitungen vorgegebenen Formulierungen nachplappern.
Wenn Sie manipulative Worte entdecken, vermeiden Sie konsequent deren Verwendung und weisen Sie auch ihre Freunde darauf hin. Teilen Sie Ihre Fundstücke mit uns, und schreiben Sie Ihre Entdeckungen in die Rubikon-Facebook-Konmentare.
Eine Liste der Techniken
Fingerzeig-Technik: Ein zentrales Wort gibt die Blickrichtung vor. Andere Blickrichtungen werden nicht mehr wahrgenommen.
- Nachbarschafts-Technik: Mir geht es gut im Vergleich zu Menschen, die in noch weitaus schlechteren Umständen leben oder ich bin gut, denn es gibt noch Bösere als mich.
- Übertreibungstechnik: Man benutzt konsequent ein unpassend hartes Wort für ein bestimmtes Verhalten oder ein viel zu weiches Wort für unakzeptables Verhalten, um dadurch die Grenzen zu harmlosen Randbereichen aufzuweichen.
- Spiegel-Technik: Nichtssagende Formulierungen spiegeln die Wünsche der Zuhörer wider und verstellen den Blick auf das dahinterstehende tatsächliche Handeln.
- Angriffstechnik: Ich beschuldige Unschuldige.
- Ausweichtechnik: Ich beschuldige andere der Tat, die ich selbst begangen habe.
- Verdrehungstechnik: Ich verdrehe Ursache und Wirkung.
- Kollektiv-Technik: Man unterscheidet nicht zwischen ganzen Gruppen und Taten einzelner Mitglieder
Hier sind ein paar Vorschläge für alternative Formulierungen mit anderem Blickwinkel:
- Arbeitnehmer/Arbeitgeber → Arbeiter/Unternehmer
- Exportweltmeister → Importvermeider
- rechts → rechtsextrem
- humanitäre Kriege → Kriege ohne UNO-Mandat
- Amerika/Israel/Russland → die US-/israelische/russische Regierung
Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41312/was-ist-rechtsextrem
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