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Gesundheit stärken statt Krankheit verwalten

Gesundheit stärken statt Krankheit verwalten

Plädoyer für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung.

Das war während meiner Facharztausbildung in den 1960er- und 1970er-Jahren eine Position, mit der wahrscheinlich die große Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus übereingestimmt hat. Heute bin ich damit eher ein „radikaler Außenseiter“. Das zeigt, wie sehr sich in Deutschland die geistige Landschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Deshalb sei daran erinnert, dass sich jeder mit meiner Position in guter Gesellschaft befindet, lautet doch der Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 (Kurzfassung): „Jeder Mensch hat das Menschenrecht auf einen für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden geeigneten Lebensstandard, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und notwendige soziale Leistungen.“

Der Art. 25 steht in der Tradition der Aufklärung. Er geht von einer Gleichwertigkeit aller Menschen aus und steht damit im krassen Gegensatz zu derzeit allgegenwärtigen neoliberalen Vorstellungen wie „Jeder ist allein seines Glückes Schmied“. Nach dieser Vorstellung hat der erfolgreiche Schmied mehr Anrecht auf Gesundheit als der weniger erfolgreiche, weil die Gesundheit käuflich und eine Ware geworden ist.

Meine Position ist dagegen:

Die Arztpraxis ist keine Kaufhalle, das Krankenhaus kein Supermarkt und die Gesundheit keine Ware, sondern ein Menschenrecht!

Ich bin seit 1967 als Arzt in der Facharztausbildung, Internist und Rehabilitationsmediziner tätig. Dabei leitet mich die Erfahrung, dass der Mensch zwar ein biologisches Wesen ist, aber zugleich – und untrennbar damit verbunden – ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, wie Karl Marx es ausdrückte. Deshalb gehören natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über Gesundheit und Krankheit unbedingt zusammen und sollten eine Einheit bilden.

Im Folgenden werde ich einige grundlegende Aspekte behandeln, die aus verschiedenen Gründen in der öffentlichen Debatte um die Gesundheitsversorgung häufig vernachlässigt werden. Zudem werde ich Perspektiven aufzeigen, ohne die eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung nicht zu erreichen ist beziehungsweise nicht aufrecht erhalten werden kann.

Besonderheiten und Probleme unseres Gesundheitswesens

Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist Aufgabe des deutschen Gesundheitswesens. Dieses besteht aus Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken, Rehabilitationskliniken und vielen weiteren Einrichtungen und ist daher kompliziert und schwer überschaubar (1). Eigentlich ist es ein „Krankenwesen“, weil es ganz überwiegend auf die Behandlung und Heilung von Krankheiten ausgerichtet ist. Gesundheitsförderung und Prävention spielen trotz aller anders lautenden Bekundungen leider hierzulande nur eine ganz untergeordnete Rolle.

Das Gesundheitswesen hat eine große volkswirtschaftliche Bedeutung: Es zählt etwa 5 Mio. Beschäftigte und erwirtschaftet circa 11 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). 2013 wurden 315 Milliarden Euro für das deutsche Gesundheitswesen ausgegeben, davon betrug der Anteil der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) circa 60 Prozent.

Trotz aller Probleme und Defizite bietet das deutsche Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Ländern, zum Beispiel den USA (2), in weiten Bereichen eine (noch) leistungsfähige medizinische Versorgung (1). Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bewertet diese auch positiv.

Über viele Jahrzehnte war das Gesundheitswesen eine der stabilsten Säulen unseres Sozialstaats. Dieser ist aber zunehmend brüchiger geworden. Seit einigen Jahren sind bei vielen Menschen Zukunftsängste entstanden, zum Beispiel auf Grund zunehmender Leistungseinschränkungen und vermehrter Zuzahlungen.

An Problemen und Defiziten, die sich in den letzten Jahren verschärft haben, sind zu nennen: In bestimmten Bereichen besteht teilweise eine Überversorgung, in anderen eine Unter- beziehungsweise Fehlversorgung (3). Weiterhin ist eine zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung medizinischer Einrichtungen festzustellen (4), und damit einhergehend eine immer stärkere Tendenz zu einer Zwei-Klassen-Medizin. Diese wird zusätzlich gefördert durch die bestehende Zweiteilung der Krankenversicherung in eine gesetzliche (GKV) und eine private (PKV), wobei die GKV erhebliche Finanzierungsprobleme hat.

Eines der wichtigsten Probleme und Defizite ist aus meiner Sicht die Unterversorgung auf dem Gebiet der Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten. Zu dieser Thematik gehe ich auch ausführlich auf neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit ein. Bezüglich der zunehmenden Ökonomisierung und Privatisierung medizinischer Einrichtungen empfehle ich das aktuelle und lesenswerte Buch von Wolfgang Albers zu dieser Thematik (4).

Altern und Lebenserwartung

Da chronische Krankheiten im Alter häufiger werden, müssen wir uns zunächst mit dem Vorgang des Alterns beschäftigen. Altern ist ein physiologischer, fortschreitender biologischer Prozess bei Menschen und den meisten höheren Organismen, der zum Verlust der normalen Organfunktionen führt und mit dem Tod endet. Die maximale Lebenszeit eines Individuums wird durch das Altern maßgeblich mitbestimmt. Fachleute unterscheiden zwischen primärem (physiologischem) und sekundärem Altern (5).

Das primäre Altern ist durch zelluläre Abbauprozesse bedingt, die ohne Erkrankung ablaufen. Dieser Prozess bestimmt das maximal erreichbare Alter des Menschen, das nach heutigen Erkenntnissen circa 120 Jahre beträgt. Die weltweit älteste Person mit gesicherten Daten war die Französin Jeanne Calmant: Sie wurde am 21.2.1875 in Arles geboren und starb dort am 4.8.1997 im Alter von 122 Jahren (5).

Die Ursachen des primären Alterns sind bis heute eines der großen Geheimnisse der Biologie. Die vielen Theorien über die Ursachen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Die sogenannten Schadenstheorien und die Evolutionstheorien (5).

Unter sekundärem Altern versteht man die Beeinflussung des Alterns durch Faktoren, die das maximal erreichbare Alter verkürzen wie Krankheiten, Bewegungsmangel, Fehlernährung und Suchtmittelkonsum. Diese Faktoren können durch den Lebensstil günstig beeinflusst werden.

Um 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland unter 50 Jahren, nur circa 30 Prozent der Bevölkerung wurde älter als 65 Jahre (6). Seitdem ist die Lebenserwartung im Durchschnitt um zwei bis drei Jahre pro Jahrzehnt gestiegen. Heute liegt die Lebenserwartung der Frauen bei 83 Jahren und der Männer bei 78 Jahren, wobei mehr als 70 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre wird (5).

Wie alt wir werden, hängt aber nicht nur von biologischen, sondern auch von sozialen Faktoren wie dem Einkommen ab. Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Studie der Lebensversicherung Zurich. Demnach werden in Deutschland Männer mit hohem Einkommen im Durchschnitt 11 Jahre älter als Geringverdiener (6). Während armutsgefährdete Männer im Schnitt eine Lebenserwartung von 70,1 Jahren haben, leben reiche Männer in Deutschland durchschnittlich 81 Jahre. Bei den Frauen beträgt der Unterschied immerhin 8 Jahre.

Chronische Krankheiten und Multimorbidität

Wie bereits erwähnt, ist Altern eng mit dem Auftreten von chronischen Krankheiten verbunden, den sogenannten Alterskrankheiten. In dieser Diskussion haben die renommierten britischen Forscher Peto und Doll 1997 die provokante These vertreten: „Es gibt kein Altern – hohes Alter ist mit Krankheit verbunden, aber verursacht sie nicht“ (5, 7).

Peto und Doll wollen damit sagen: Über die biologischen Ursachen des Alterns beim Menschen besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit. Deshalb gibt es auch kein allgemein anerkanntes Prinzip, mit dem man den Prozess des Alterns verlangsamen kann. Stattdessen ist jeder Einzelne gefordert, das Auftreten von (chronischen) Krankheiten zu vermeiden beziehungsweise hinauszuschieben (7).

Typischerweise entwickeln sich chronische Krankheiten langsam, werden meist erst im Alter manifest und sind entscheidend für Lebensdauer und -qualität der meisten Menschen. An den Folgen einer chronischen Erkrankung sterben weltweit 63 Prozent, in Europa 86 Prozent und in Deutschland 92 Prozent (8).

Chronische Krankheiten treten häufig gemeinsam auf, von Fachleuten als Multimorbidität bezeichnet, und haben meist viele verschiedene Ursachen, sind also „multifaktoriell“ bedingt. Das sogenannte bio-psycho-soziale Krankheitsmodell berücksichtigt neben biologischen beziehungsweise genetischen auch psychische und soziale Faktoren für die Entstehung dieser Krankheiten. Deshalb besteht hier auch ein großes Präventionspotenzial, das in Deutschland aber leider weitgehend brach liegt.

Soziale Ungleichheit und Krankheit

Die UNO unterscheidet in ihren Publikationen zwischen Ländern mit hohem Einkommen, den sogenannten reichen Ländern, wozu die USA, die Länder der EU, Kanada, Australien, Neuseeland, Singapur und Japan gehören. Zu den Ländern mit mittlerem Einkommen, den sogenannten Schwellenländern, zählt die UNO Brasilien, China und Russland, zu den Ländern mit niedrigem Einkommen, den sogenannten armen Ländern, werden die Länder in Subsahara-Afrika (mit Ausnahme von Südafrika) gerechnet (9).

Seit Langem ist bekannt, dass die individuelle Lebenserwartung in jedem einzelnen Land mit dem individuellen Einkommen korreliert. Das gilt auch für die reichen Länder. So besteht zum Beispiel in England und Wales zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel der Bevölkerung ein Unterschied von 7 bis 8 Lebensjahren (10). In Deutschland beträgt der Unterschied derzeit etwa 10 Lebensjahre (6, 11).

Zudem ist erwiesen, dass in den armen Ländern und den Schwellenländern die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung korreliert und entsprechend ansteigt. Im Unterschied dazu ist seit Anfang der 1990er-Jahre bekannt, dass das in den reichen Ländern nicht der Fall ist. Hier besteht eine direkte Beziehung zwischen der durchschnittlichen Lebenswartung sowie vielen weiteren gesundheitlichen und sozialen Parametern und dem Grad der sozialen Ungleichheit (12).

Die entscheidende neue Erkenntnis ist: In den reichen Ländern hängen Sterblichkeit, Gesundheit und viele soziale Probleme von der Verteilung des Reichtums ab. Je gleicher dieser verteilt ist, desto besser ist die Volksgesundheit (13). Diese Erkenntnis, aus der sich wichtige gesundheits- und sozialpolitische Implikationen ergeben, haben Richard Wilkinson und Kate Pickett in dem 2009 erschienenen Buch mit dem Titel „The Spirit Level. Why more equal societies almost always do better“ eindrucksvoll dargestellt. Dieses Buch gilt als ein Meilenstein der Sozialwissenschaften (14). Wörtlich übersetzt lautet der englische Originaltitel: „Die Wasserwaage. Warum Gesellschaften mit mehr Gleichheit fast immer besser dran sind“. Die Wasserwaage ist eine Metapher für die Messlatte „soziale Ungleichheit“, den die Autoren bei der Beurteilung der behandelten Probleme anlegen.

Der Titel der ersten deutschen Übersetzung „Gleichheit ist Glück“ (15) war leider etwas missverständlich, denn es geht in diesem Buch ja nicht um die großen Worte Gerechtigkeit und (subjektives) Glücksempfinden, sondern um objektive gesundheitliche und soziale Indikatoren für Wohlergehen, Wohlbefinden und Lebensqualität. Vermutlich wurde daher der Titel der 5. deutschen Auflage aus März 2016 verändert: Jetzt heißt das Buch „Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ (16). Diese Ausgabe erschien zum ersten Mal als preiswertes Taschenbuch, dessen lesenswertes Vorwort auch auf die Verhältnisse in Deutschland eingeht und wissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre zu dieser Thematik aufgreift.


Unsere Redaktionsempfehlung zum Weiterlesen:

Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind


Grad sozialer Ungleichheit

Wilkinson und Pickett haben die Statistiken der Industrieländer der letzten Jahrzehnte auf der Suche nach Korrelationen zwischen sozialer Ungleichheit durchforstet. Ihr Augenmerk richteten sie dabei auf Einkommensverteilungsmuster und das Ausmaß der gesundheitlichen und sozialen Probleme. Dabei wurden sie fündig: Auf der Basis der verfügbarer Daten zeigen sie, dass viele der heute im Vordergrund stehenden gesundheitlichen und sozialen Probleme in den reichen Ländern mit dem Grad der sozialen Ungleichheit, gemessen als Einkommensungleichheit, korrelieren. Dazu setzten sie als statistische Einheit das 80/20-Dezilverhältnis ein.

Dieses Verhältnis zeigt an, um wie viel größer das Einkommen der oberen 20 Prozent im Vergleich zu den unteren 20 Prozent ist. Am unteren Ende dieser Skala liegen die Zahlen 3,4 für Japan, 3,6 für Finnland und 3,9 für Schweden, am oberen Ende 7,2 für Großbritannien, 8,5 für die USA und 9,7 für Singapur. Deutschland liegt mit 5,2 im mittleren Bereich. Obwohl diese Zahlen auf Daten aus den ersten Jahren nach 2000 beruhen (15), ist das für die Aussagen der Studie aber ohne Belang. Denn diese Aussagen leiten sich aus den relativen Werten der Einkommensungleichheit in den verschiedenen reichen Ländern ab und haben sich seitdem nicht verändert. In Deutschland ist die Ungleichheit weiterhin größer als in den skandinavischen Ländern, aber geringer als in den USA und Großbritannien (16).

Mit wachsender Ungleichheit auf der skizzierten Einkommensskala steigen die untersuchten gesundheitlichen und sozialen Probleme deutlich an: In reichen Ländern mit mehr Ungleichheit ist die durchschnittliche Lebenserwartung niedriger, die Säuglings- und Kindersterblichkeit höher als in Ländern mit weniger Ungleichheit. Zudem sind in den reichen Ländern mit mehr Ungleichheit mehr Menschen psychisch krank, mehr missbrauchen Drogen, mehr sind gewalttätig und auch die Zahl der Gefängnisinsassen ist höher. Viele Menschen in den unteren, aber auch in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten werden davon in Mitleidenschaft gezogen.

Wichtigster Risikofaktor

Da die Adipositas, auch als Fettleibigkeit bezeichnet, heute einer der beiden wichtigsten Risikofaktoren für das Auftreten lebensstilbedingter chronischer Krankheiten ist, sind die Befunde hinsichtlich der Häufigkeit dieses Faktors in verschiedenen reichen Ländern besonders interessant.

An Adipositas sind Menschen erkrankt, deren BMI (Body-Mass-Index) größer als 30 (kg/m2) ist. Der Anteil der Erwachsenen mit Adipositas ist in den Ländern mit mehr Ungleichheit deutlich höher. So sind zum Beispiel in den USA, einem der Länder mit der größten Ungleichheit, circa 30 Prozent der Erwachsenen fettleibig, in Deutschland etwa 20 Prozent, in Norwegen und Schweden circa 10 Prozent und Japan liegt mit 2,4 Prozent noch deutlich darunter. Vergleichbare Unterschiede finden sich auch beim Anteil übergewichtiger Jugendlicher, die ab einem BMI größer als 25 (kg/m2) als übergewichtig gelten.

Auch ein Vergleich der Gesundheitsdaten einzelner Bevölkerungsgruppen in Ländern mit höherer und geringerer Ungleichheit ergibt, dass mehr Gleichheit für eine Reihe weiterer
chronischer Krankheiten Vorteile bringt. In einer 2006 veröffentlichten Studie zeigte sich, dass in England deutlich weniger Menschen – unabhängig von der Bildungsstufe – an Diabetes, Bluthochdruck, Krebs sowie Lungen- und Herzkrankheiten leiden als in den USA (14, 15, 16, 17).

In einem wesentlichen Teil des Buches gehen die beiden Autoren sachlich und unaufgeregt der Frage nach, was diesen Korrelationen zugrunde liegt. Ihre These: Es handele sich hier wahrscheinlich um einen ursächlichen Zusammenhang. Zur Begründung ziehen sie Befunde aus der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur heran. Ein Argumentationsstrang:

Einkommensunterschiede führen zu Statuskonkurrenz und Statusunbehagen. Konkurrenz und Unbehagen sind in reichen Ländern mit mehr Ungleichheit in allen Schichten der Bevölkerung stärker ausgebildet als in Ländern mit weniger Ungleichheit (18). Statusunbehagen kann objektiv vermehrte Stressbelastungen hervorrufen und subjektiv das Wohlbefinden beeinträchtigen.

Eine weitere Korrelation fanden die Autoren zwischen dem Niveau des gesellschaftlichen Vertrauens und dem Ausmaß der Ungleichheit: In den Ländern mit einem größeren sozialen Gefälle ist das Vertrauen zwischen den Menschen auf einem niedrigen Niveau. Dadurch treten in diesen Ländern vermehrt Unsicherheiten, Ängste, Depressionen und Stressbelastungen auf.

Als Konsequenz ihrer Analyse sprechen sich die Autoren klar gegen den Neoliberalismus aus und schlagen Maßnahmen vor, mit denen mittel- und langfristig das soziale Gefälle abzubauen wäre. Der Weg dorthin könnte über eine höhere Besteuerung der Einkommen mit mehr sozialstaatlicher Umverteilung wie in den skandinavischen Ländern führen oder über eine Verminderung der Einkommensunterschiede durch höhere Löhne und Gehälter und mehr Ausgaben für Bildung wie in Japan. Den besten Effekt hätten beide Maßnahmen zusammen.

Da stellt sich die Frage, wie das genannte Ziel politisch umgesetzt werden kann. Hier vertrauen die Autoren auf die Einsicht, dass gesellschaftliche Veränderungen in Richtung eines Abbaus des sozialen Gefälles und mehr soziale Gleichheit im objektiven Interesse der gesamten Bevölkerung liegen, auch der Wohlhabenden. Dafür liefern sie in ihrem Buch überzeugende Argumente. Um die Diskussion über ihre Vorstellungen zu befördern, haben sie eine Stiftung (The Equality Trust) gegründet, die sich mit einer informativen Website an alle Interessierten wendet (19).

Aus den dargelegten Befunden und Interpretationen lässt sich meines Erachtens die Schlussfolgerung ziehen, dass den angesprochenen gesellschaftlichen Problemen beziehungsweise der sozialen Ungleichheit zunächst vorrangig mit Maßnahmen einer Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik entgegen gewirkt werden müsste. Dazu gehört auch eine bessere Bildung für alle. Das gilt ebenfalls für den bedrohlichen Anstieg der Adipositas in den Ländern mit hohem Einkommen. Die Verringerung der materiellen Ungleichheit wäre wahrscheinlich ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Fettleibigkeit und vieler damit zusammenhängender lebensstilbedingter chronischer Krankheiten.

Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten

Chronische Krankheiten lassen sich durch geeignete Präventionsmaßnahmen verhindern, heilen oder lindern. Experten unterscheiden zwischen Maßnahmen zur Primärprävention, die darauf abzielen, durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil die Entstehung einer chronischen Krankheit bei (noch) Gesunden zu verhindern. Maßnahmen zur Sekundärprävention haben zum Ziel, das Fortschreiten einer schon bestehenden chronischen Krankheit durch Lebensstiländerungen (und andere Maßnahmen) günstig zu beeinflussen. Bei der Tertiärprävention handelt es sich um den Versuch, den Schaden bei bereits chronisch Erkrankten zu begrenzen sowie Folgeschäden zu verhindern und zu vermindern. Dieser Begriff hat sich aber nicht überall durchsetzen können. Deshalb wird im Folgenden nur zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden.

Der Primärprävention chronischer Krankheiten gebührt absolute Priorität, entsprechend dem Leitspruch „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Da für die Primärprävention derzeit andere Berufsgruppen meist besser aufgestellt sind als die Ärzteschaft, zum Beispiel ErzieherInnen und PädagogInnen, spricht man hier auch von nicht-medizinischer Primärprävention. Doch auch auf diesem Gebiet gehören wichtige Aufgaben unbedingt in eine Arztpraxis, zum Beispiel bei der Primärprävention von Krebskrankheiten und des Diabetes mellitus Typ 2 bei Risikogruppen, für die es ausgefeilte Programme gibt (20).

Maßnahmen der Sekundärprävention werden dann angewendet, wenn schon eine chronische Krankheit besteht, deren Verlauf günstig beeinflusst werden soll. Ein klassisches Beispiel dafür ist die koronare Herzkrankheit (KHK), bei der nach einem ersten Herzinfarkt ein möglicher erneuter Infarkt oder andere Komplikationen durch Lebensstiländerungen vermieden werden sollen. Auf diesem Gebiet hat sich in Deutschland ein Netz von mehr als 6000 ambulanten Herzgruppen bewährt, die bundesweit für chronisch Herzkranke im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes regelmäßige Sport- und Bewegungstherapien anbieten (20, 21).

Wichtig ist aber auch, dass „chronisch krank“ nicht automatisch „lebenslang krank“ bedeuten muss. Das Gebiet der Sekundärprävention birgt ein enormes Potenzial zur Senkung der Zahl chronisch Kranker (22). So entwickelt sich beispielsweise ein Typ-2-Diabetes meist als Komplikation einer Adipositas. Wenn es gelingt, das Gewicht dieser Patienten durch gesunde Ernährung und regelmäßige körperliche Aktivität deutlich zu senken, bessert oder normalisiert sich in einem hohen Prozentsatz die diabetische Stoffwechsellage (23, 24). Ähnlich bedeutsame direkte Zusammenhänge bestehen zwischen Adipositas und Hypertonie (22).

Wandel des Krankheitsspektrums

In den letzten 100 Jahren hat sich in den reichen Ländern das Krankheitsspektrum grundlegend gewandelt. Standen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Infektionskrankheiten ganz oben auf der Liste der Krankheiten, die zum Tode führen, so stehen heute die chronischen Krankheiten an dieser Stelle. Diese nennt die WHO in ihren Publikationen „non-communicable diseases (NCD)“, das heißt „nicht-übertragbare Krankheiten“ (8, 9). Die NCD beeinträchtigen die Lebensqualität vieler Menschen erheblich und sind in vielen Fällen für deren vorzeitigen Tod verantwortlich. Deshalb sollten heute die Vermeidung beziehungsweise Heilung chronischer Krankheiten oder, wenn das nicht mehr möglich ist, deren günstige Beeinflussung ganz im Mittelpunkt der Präventivmaßnahmen stehen.

Dabei sollte es vorrangig um die Erkrankungen gehen, die heute die Todesursachenstatistik anführen. Dazu gehören die KHK einschließlich des Herzinfarkts, die zerebrale Ischämie mit dem Schlaganfall, die Hypertonie, die Adipositas mit dem Diabetes mellitus Typ 2 als wichtigster Folgeerkrankung, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und die häufigsten Krebserkrankungen. Diese Krankheiten werden auch als chronische Volkskrankheiten oder Zivilisationskrankheiten bezeichnet.

2004 konnten US-amerikanische Wissenschaftler zeigen, dass für die Hälfte der jährlichen Todesfälle in den USA „vermeidbare“ Todesursachen verantwortlichen waren (25, 26). An der Spitze der Liste standen das Rauchen und die Fehlernährung mit Übergewicht/Adipositas einschließlich Bewegungsmangel. Dabei handelt es sich um drei Komponenten eines tödlichen Quartetts, denen die WHO bei der Prävention der NCD große Bedeutung beimisst (27). Zum Quartett zählt noch der Alkoholmissbrauch. Diesem Quartett konnten circa 40 Prozent der Todesfälle zugeordnet werden.

2013 starben in Deutschland 121.000 Menschen an ihrem Tabakkonsum, darunter 40 bis 50 Prozent an einer Krebserkrankung, circa 30 Prozent an einer chronischen Herz-Kreislaufkrankheit und 20 bis 30 Prozent an einer chronischen Lungenerkrankung (28). Damit waren 2013 13,5 Prozent aller Todesfälle auf das Rauchen zurückzuführen. Etwa die Hälfte aller Raucher stirbt an einer Erkrankung, die durch das Rauchen verursacht wird. Circa 50 Prozent davon verliert im Durchschnitt 22 Lebensjahre, manche sterben bereits mit 35, andere mit 69 Jahren. Bezogen auf alle Raucher bedeutet das Rauchen einen Verlust von etwa 10 Lebensjahren (29).

Auch die Adipositas ist eine wesentliche Ursache für viele gravierende chronische Krankheiten (30). Inzwischen sind in Deutschland mehr als 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung adipös. So tritt Typ-2-Diabetes mellitus im Laufe des Lebens bei etwa jedem dritten Adipösen auf. Ebenfalls dazu zählen chronische Herz-Kreislauferkrankungen wie die KHK mit dem Herzinfarkt, die Hypertonie mit dem Schlaganfall und bestimmte Krebserkrankungen. Eine große Metaanalyse hat ergeben, dass 15 bis 20 Prozent aller tödlichen Krebserkrankungen in den USA mit Adipositas in Zusammenhang stehen (31).

Weitere Daten lieferte eine 2013 publizierte prospektive dänische Studie mit mehr als 6.500 Männern, die 33 Jahre lang beobachtet wurden. Die Studie konnte zeigen: Wer mit 20 Jahren adipös war, entwickelte bis zum 55. Lebensjahr mindestens doppelt so häufig eine Hypertonie, erlitt einen Herzinfarkt und starb vorzeitig wie nicht Adipöse (32). Das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes war sogar 8-fach erhöht!

Neuere Publikationen der WHO ergeben, dass die NCD mittlerweile weltweit für circa 63 Prozent und in den reichen Ländern für bis zu 90 Prozent aller Todesfälle verantwortlich sind (8, 33). In Vorbereitung auf die 2011 in New York durchgeführte globale wissenschaftliche UN-Konferenz über die Bedeutung der NCD kommen Autoren in einer Veröffentlichung zu dem Ergebnis, dass fast 70 Prozent der Todesfälle in Ländern mit hohem Einkommen auf Risikofaktoren zurückgehen, die mit dem tödlichen Quartett zusammenhängen (9). Inzwischen hat sich in Ländern mit mittlerem Einkommen eine vergleichbare Situation entwickelt.

Bedeutung des Lebensstils

In den letzten Jahren haben weltweit insgesamt 29 prospektive Studien gezeigt, welche große Bedeutung ein gesunder Lebensstil zur Prävention chronischer Krankheiten hat (34). Eine der überzeugendsten Untersuchungen wurde auf Basis der Potsdamer Daten der europäischen EPIC-Studie an mehr als 23.000 35- bis 65-jährigen Teilnehmern durchgeführt (35).

Ziel dieser Studie war die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen vier gesundheitsförderlichen lebensstilbedingten Schutzfaktoren:

Nie-Rauchen, BMI kleiner als 30 kg/m2, regelmäßige körperliche Aktivität von mindestens 3,5 Stunden pro Woche und eine gesunde Ernährung mit viel Obst und Gemüse, Vollkornprodukten und wenig Fleisch und dem Auftreten von Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall und Krebskrankheiten.

Die vier Schutzfaktoren wurden zu einem Index von 0 bis 4 aufsummiert.

In der Beobachtungszeit von etwa 8 Jahren sank das Erkrankungsrisiko kontinuierlich und drastisch in Abhängigkeit von der Zahl der festgestellten Schutzfaktoren. Bei Teilnehmern mit vier günstigen Faktoren war das Risiko, eine der genannten chronischen Krankheiten zu entwickeln, um 78 Prozent geringer!

Somit besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass es mit Hilfe eines gesundheitsförderlichen Lebensstils gelingen kann, die oben genannten chronischen Krankheiten, die vor allem mit dem tödlichen Quartett zusammenhängen, weitgehend zu vermeiden (36). Durch Lebensstiländerungen wie totaler Rauchverzicht, fett- und energiearme Ernährung, mit der man Übergewicht vermeiden beziehungsweise abbauen kann, und regelmäßige körperliche Aktivität lassen sich wahrscheinlich mindestens die Hälfte aller Todesfälle aufgrund der oben genannten chronischen Krankheiten verhindern (20).

Faktor Stress

In den Empfehlungen der WHO zur Prävention chronischer Krankheiten wird der Faktor Stress nicht erwähnt. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die Rolle von Stress für Entstehung und Verlauf chronischer Krankheiten vergleichsweise schwerer zu untersuchen ist. Trotzdem belegen überzeugende Untersuchungen, dass chronische Stressbelastungen für die Entstehung und den Verlauf wichtiger chronischer Krankheiten wie der Hypertonie, der KHK und der zerebralen Ischämie von großer Bedeutung sind (37).

Außerdem ist spätestens seit den Whitehall-Studien das Konzept der psycho-sozialen Risikofaktoren gut etabliert und wissenschaftlich anerkannt (38, 39). Die Autoren konnten schon Ende der 1970er-Jahre zeigen, dass der Herzinfarkt keine „Manager-Krankheit“ ist, wie damals angenommen, sondern bei Büroangestellten deutlich häufiger auftritt als bei ihren Chefs. Deshalb gehört der Abbau von chronischen Stressbelastungen zu den wichtigen Maßnahmen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils (20).

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat für wichtige Risikofaktoren chronischer Krankheiten wie Rauchen und Adipositas auf Grund von Fehlernährung und Bewegungsmangel einen schichtspezifischen sozialen Gradienten ergeben (40, 41). Das bedeutet, dass diese Risikofaktoren zwar auch in den oberen Einkommensschichten auftreten, aber in den unteren doppelt bis dreimal so häufig. Eine wesentliche Ursache hierfür ist die soziale Ungleichheit, die über vermehrte Statuskonkurrenz beziehungsweise Statusunbehagen zu mehr chronischen Stressbelastungen führt (12, 13,14,15,16).

Diese schichtspezifische soziale Ungleichheit lässt sich offensichtlich nicht mit Maßnahmen der etablierten ambulanten und stationären medizinischen Versorgung ausgleichen. Langfristig erfolgreich ist wahrscheinlich nur eine umfassende Förderung der Prävention in Kombination mit progressiven sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen. Das ist ein weiteres wesentliches Argument für mehr Anstrengungen und wirkungsvollere Bemühungen zur Prävention chronischer Krankheiten in Deutschland.

Ein krankheitsfördernder Lebensstil ist nachweislich durch Verhaltensprävention günstig zu beeinflussen (20, 42). Die Vermittlung von verhaltenspräventiven Maßnahmen, vor allem im Bereich der Sekundärprävention, ist in erster Linie Aufgabe der Heilberufe, insbesondere der Ärzteschaft. Doch leider steht die Sekundärprävention chronischer Krankheiten bei den meisten Ärzten derzeit nicht hoch im Kurs. Neben der mangelhaften finanziellen Vergütung von Präventionsmaßnahmen mag ein Grund daran liegen, dass Mediziner seit jeher die Behandlung von Kranken als ihre Aufgabe ansehen und es sich bei der Prävention scheinbar um Gesunde handelt, was aber für die Sekundärprävention nicht zutrifft. Außerdem ist Prävention während des Medizinstudiums und der anschließenden ärztlichen Weiterbildung auch heute noch leider nur ein Randthema. Jedoch könnte eine Reihe von effektiven verhaltenspräventiven Maßnahmen in jeder Arztpraxis erfolgreich durchgeführt werden, zum Beispiel bei der Raucherentwöhnung, der Adipositas-Behandlung und der Diabetes-Prävention (20).

Aber auch wenn es gelänge, einen größeren Teil der Ärzteschaft und anderer Heilberufe zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Prävention zu bewegen, würde das sicher allein nicht ausreichen, das massenhafte Auftreten der chronischen Krankheiten in unserer Bevölkerung zu stoppen beziehungsweise in zufrieden stellendem Maße zurückzudrängen (40). Um dieses Ziel zu erreichen, sind neben den genannten sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit effektive verhältnispräventive Maßnahmen unverzichtbar.

Verhältnispräventive Maßnahmen beziehen sich vor allem auf die Rahmenbedingungen unseres Lebens und sind deshalb in erster Linie Aufgabe der Politik. Dazu gehören ein bundeseinheitliches umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ohne Ausnahmen und ein komplettes Tabakwerbeverbot (43). Als verhältnispräventive Maßnahme zur Adipositas-Kontrolle eignet sich zum Beispiel die Kennzeichnung der Lebensmittel nach dem Ampelprinzip (20). Ebenso müssten die Rahmenbedingungen für die Förderung von regelmäßiger körperlicher Aktivität verbessert werden, zum Beispiel durch Förderung des Schulsports und Erleichterung des Zugangs zu Sportvereinen für Kinder und Jugendliche aus den unteren Einkommensschichten.

Diese wenigen Beispiele möglicher verhältnispräventiver Maßnahmen zeigen ein Problem auf: Die Prävention hat nicht nur Unterstützer und Freunde. Bestimmte Kreise der Politik sehen sich nicht primär als Sachwalter der gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung, sondern vor allem als Vertreter der wirtschaftlichen Interessen von Industriezweigen, deren Profit vom krankheitsfördernden Verhalten eben dieser Bevölkerung abhängt. Deshalb werden Erfolge bei der Verhältnisprävention nur zu erreichen sein, wenn die Verantwortlichen in der Politik die gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung höherwertiger einschätzen als zum Beispiel die Interessen der Zigaretten-, der Werbe- oder der Nahrungsmittelindustrie.

Erfolge in der Prävention hängen aber auch von der Gesundheitskompetenz jedes Einzelnen ab, das heißt der Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, etwas für seine Gesundheit und deren Erhaltung zu tun. Das setzt voraus, dass er sich das hierfür erforderliche Wissen angeeignet hat und motiviert ist, es soweit wie möglich umzusetzen. Dazu könnten Patientenschulungen in Arztpraxen und Kliniken über die wichtigsten chronischen Krankheiten und deren Behandlung beitragen (20).

Aufgabe der Heilberufe

Höchstwahrscheinlich ist der Weg zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil breiter Bevölkerungskreise, mit dem chronische Krankheiten verhindert oder gelindert werden können, mühsam (44). Angesichts der angeführten Probleme hierzulande sehe ich darin jedoch eine der wichtigsten Aufgaben einer fortschrittlichen Gesundheitspolitik.

Eine bevölkerungsweite effektive Prävention chronischer Krankheiten kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen. Voraussetzung ist das Zusammenwirken
der Verhaltensprävention im Sinne der Primärprävention, zum Beispiel in Kindergärten, Schulen und Betrieben, und als Sekundärprävention, zum Beispiel in Arztpraxen, in Kombination mit der Verhältnisprävention. Die Ärzteschaft und die Heilberufe sollten sich vor allem auf die verhaltenspräventive Sekundärprävention konzentrieren, ohne die Primärprävention ganz aus den Augen zu verlieren (20).

Darüber hinaus ist eine Neuorientierung der Medizin mit stärkerem Gewicht auf der Prävention notwendig. Der einseitig kurative Fortschritt kann auf Dauer jede Volkswirtschaft einer Gesellschaft überfordern, die das Recht auf Gleichheit bei der medizinischen Versorgung gewährleisten will (45).

Solidarische Gesundheitsversorgung

Deutschland leistet sich als einziges europäisches Land ein duales System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung (GKV und PKV). Das macht aus sozialpolitischer Sicht keinen Sinn (1). In der GKV sind circa 90 Prozent aller versicherungspflichtigen Bürger mit einkommensabhängigen Beiträgen bis zur Beitragsbemessungsgrenze voll versichert. Bei der PKV dagegen sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung versichert, meist Akademiker, Beamte oder Selbstständige. Sie zahlen risikoabhängige Beiträge und haben nur Anspruch auf die vereinbarten Leistungen.

Die GKV ist seit der Einführung durch Bismarck im Jahr 1883 ein Kernstück unserer sozialen Sicherung. Es beruht auf drei Prinzipien, dem der Solidarität, der Beitragsfinanzierung und der Versicherungspflicht. Das Prinzip der Solidarität bedeutet, dass die Risiken von allen Versicherten gemeinsam getragen werden, weil die Leistungen unabhängig von der Höhe des Beitrags sind. So besteht ein solidarischer Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken. Die Besserverdienenden sind hiervon allerdings ausgenommen, da sie meist in der PKV versichert sind. Das Prinzip der Beitragsfinanzierung bedeutet, dass sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber die Beiträge auf der Basis des jeweiligen Bruttoeinkommens leisten. Das Prinzip der Versicherungspflicht hat zur Folge, dass bis zur Versicherungspflichtgrenze der weitaus größte Teil der Bürger in der GKV krankenversichert ist.

Die Finanzierung der GKV steckt jedoch in einer Krise. Das Hauptproblem ist: Seit den letzten zwei Jahrzehnten sinken die Einnahmen, da die Arbeitnehmerentgelte stagnieren beziehungsweise sinken und der Gesetzgeber die Arbeitgeberbeiträge eingefroren und damit die paritätische Finanzierung abgeschafft hat. Daneben steigen die Ausgaben durch demographische Faktoren moderat, da die Zahl chronisch Kranker zunimmt, und zudem treibt die Weiterentwicklung der Medizin die Kosten in die Höhe.

Als Folgen stiegen in den letzten Jahrzehnten die prozentualen KV-Beiträge der Arbeitnehmer und werden wahrscheinlich in Zukunft noch weiter steigen. Außerdem sind durch die Entsolidarisierung der Arbeitgeber höhere Zuschüsse aus Steuern für die GKV erforderlich, der Leistungskatalog wurde reduziert und wird in Frage gestellt, die Zuzahlungen der Versicherten haben zugenommen, und es entwickelt sich sozialer Sprengstoff durch die wachsende Tendenz zur Zwei-Klassen-Medizin.

Forderung für die Zukunft

Aus diesen Gründen ist eine Weiterentwicklung der GKV zu einer solidarischen Bürgerversicherung dringend geboten, das heißt eine einheitliche Pflichtversicherung für alle Bürger. Diese muss die Besserverdienenden einschließen und so das Solidarprinzip stärken. Weiterhin sollte die paritätische Finanzierung wiederhergestellt werden.

Im Zentrum dieses Konzeptes stehen eine gerechte Beitragsermittlung auf der Basis aller Einkommensarten und die schrittweise Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, eventuell bis hin zu deren Abschaffung. Die PKV könnte dann auf die Versicherung von Zusatzleistungen beschränkt werden.

Schon heute ist die Zustimmung der Bevölkerung für eine einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als Krankenversicherung hoch. Nach einer aktuellen Umfrage der IG-Metall befürworten zwei Drittel der Deutschen die Bürgerversicherung bei gleichzeitiger Abschaffung der PKV (46). Da durch deren Einführung die einheitliche und solidarische Gesundheitsversorgung für alle Bürger finanziell abgesichert würde, wäre das ebenfalls eine wichtige Maßnahme einer Sozialpolitik, mit der mehr Gleichheit in unserer Gesellschaft erreicht werden könnte.

Mehr Gleichheit bei der Gesundheitsversorgung könnte zu weniger Statuskonkurrenz und weniger Stress in der Gesellschaft führen. Vielleicht könnte die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung auch dazu beitragen, den sozialen Gradienten bei der Häufigkeit chronischer Krankheiten abzubauen. Damit wäre sie ein eigenständiger Beitrag zur Prävention chronischer Krankheiten.

Und schließlich könnte die Einführung einer einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung im Bereich der Krankenversicherung der erste Schritt sein zu einer umfassenden sozialen Sicherung, die zusätzlich die Pflege- und die Rentenversicherung einbezieht und nach den gleichen grundlegenden Prinzipien aufgebaut ist (47).

Fazit

  1. Da Menschen in reichen Gesellschaften mit mehr sozialer Gleichheit in körperlicher und seelischer Hinsicht gesünder leben, sind alle Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit auch Beiträge zur gesundheitlichen und sozialen Prävention. Hier dürfte ein großes Potenzial zur Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten verborgen sein.
  2. Die Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese erfordert ein Zusammenwirken von Verhaltensprävention als Primärprävention, zum Beispiel in Kindergärten, Schulen und Betrieben, und als Sekundärprävention, zum Beispiel in Arztpraxen, in Kombination mit der Verhältnisprävention. Die Heilberufe sollten sich dabei vor allem auf die verhaltenspräventive Sekundärprävention konzentrieren, ohne aber die Primärprävention ganz aus den Augen zu verlieren.
  3. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) muss zu einer einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung erweitert werden, die alle medizinisch-notwendigen Leistungen finanzieren kann und das Recht auf Gleichheit bei der medizinischen Versorgung sicherstellt. Die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung kann dazu beitragen, die soziale Ungleichheit abzubauen.
  4. In der Medizin ist eine Neuorientierung hin zu mehr Prävention von chronischen Krankheiten nötig, denn einseitig kurativer Fortschritt kann jede Gesellschaft, die ein Recht auf Gleichheit bei der Gesundheitsversorgung anerkennt und das Ziel hat, diese zu gewährleisten, auf die Dauer überfordern.

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Literaturhinweise und Links:

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