Da musste selbst Carsten Stahl, erfahrener Sozialaktivist, schlucken. Beim Einkauf im Supermarkt sah er eine alte Dame vor ihm an der Kasse bezahlen. Sie wühlte in ihrem Kleingeld und stellte fest, dass sie den für sie schockierend hohen Preis nicht mehr bezahlen konnte. Sie musste sich nun überlegen, auf welches der Produkte, die schon auf dem Laufband lagen, sie am ehesten verzichten konnte. „Sie nimmt das Brot und legt den Aufschnitt zurück“, erzählt Stahl in der Sendung „Viertel nach acht“ auf BILD TV. Obwohl Stahl selbst noch genug Geld aufbringen konnte, tat ihm die Szene in der Seele weh. Er bezahlte den Aufschnitt, ging der alten Dame nach und bat sie, diesen als Geschenk anzunehmen.
„Und dann sehen Sie einerseits diese Freude und dann die Tränen. Sie sehen eine alte Dame, die anfängt zu weinen und sofort ihr Herz ausschüttet und in ein paar Worten sagt, dass sie nicht mehr leben möchte, weil sie nicht mehr weiß, wo das hingeht in diesem Land, nicht mehr weiß, wie sie ihre Strom- und ihre Gasrechnung bezahlen soll.“
Deutschland im Sommer 2022. Eine zufällige Begegnung, die jedoch auf etwas Grundsätzliches verweist. Immer mehr Menschen verarmen und wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen — und dies schon bevor die großen Heizkostenabrechnungen eintreffen, die für Oktober drohen.
Bei Doreen Hauke, Besitzerin eines Campingplatzes in Sachsen-Anhalt, fragen inzwischen immer mehr Menschen nach einem dauerhaften Stellplatz, „weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können“. Wohlgemerkt: Wohnmobil oder Wohnwagen sollen das Zuhause ersetzen, nicht etwa nur freizeittauglich ergänzen. „Die wissen nicht mehr, wie’s weitergeht“, sagt Hauke. Und es geht hier nicht „nur“ um obdachlose und von Hartz-IV betroffene Menschen, sondern auch um „solche mit fester Anstellung wie beispielsweise als Klempner oder Berufstätige in der Pflege“. Von sechs Dauercampern vor Corona ist die Anzahl auf ihrem Campingplatz inzwischen auf 20 angewachsen.
Es drohen Zustände wie in den USA, wo vor den Toren der Städte ganze Camper-Städte entstanden sind — Menschen, die in der Enge leben müssen, kaum Intimsphäre haben und auf einfachstem Niveau Wind und Wetter weitaus stärker ausgesetzt sind als diejenigen, die noch ein richtiges Dach über dem Kopf haben. Menschen vor allem ohne Ausstiegsperspektive. Denn die Preise steigen überall, die Mieten auch.
Belehrungen statt Brot
Die Regierung reagiert mit eigenverantwortungsorientierten Belehrungen.
Wer sich kein Brot mehr leisten kann, soll eben Kuchen essen — äh, Gas sparen. Als ob bei jedem Menschen noch unbegrenztes Einsparpotenzial vorhanden wäre. Als ob in den Wohnungen der Armen und der Geringverdiener — oder auf diversen geheimen Konten — noch unbegrenzt Geld versteckt wäre, mit dem die Betroffenen Engpässe smart überbrücken könnten.
So bemerkt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK zu Recht:
„Die Bundesregierung ruft zum Gassparen auf. Das funktioniert jedoch nur für Menschen, die überhaupt sparen können. Betroffen von der Krise sind vor allem diejenigen, die in schlecht isolierten Wohnungen mit alten Heizungen leben.“
Wie sollen diese Menschen Gas noch sparen? Politiker, die auf Sylt mal eben eine High-Society-Hochzeit aus der Portokasse bezahlen, können sich das vielleicht nicht vorstellen. Aber für viele der Bürgerinnen und Bürger ist diese Krise bitterernst. Am Ende des Geldes haben Ärmere eigentlich nur drei Alternativen:
- Sie können hungern beziehungsweise auf anderen wichtigen Lebensbedarf verzichten.
- Sie können den schweren Weg beschreiten, noch nicht Verarmte um Geschenke anzubetteln.
- Oder sie können sich das Geld leihen, wodurch sich die Notlage — um Zinsen ergänzt — nur auf die Zukunft verschiebt. Wovon sollen Schulden abbezahlt werden, wenn die Probleme mit den Monaten eher immer noch größer werden statt kleiner?
Auch die „Tafeln“ sind überfordert
Einen erschreckenden Einblick in das neunormale Deutschland vermittelt auch ein Artikel von Susan Bonath, „Die Verarmungspolitik“. Die Journalistin berichtet darin unter anderem über inzwischen kaum mehr zu bewältigenden Zulauf zu den „Tafeln“, den Almosenstationen einer Nation, die sozial schon vor Corona weitgehend gescheitert war.
Eine Tafel-Mitarbeiterin berichtete ihr, binnen kurzer Zeit habe sich die Zahl derer, die bei diesen karitativen Einrichtungen um Essen bitten, insgesamt um 50 Prozent erhöht. Einige Tafeln verzeichnen demnach sogar doppelt so viele Bedürftige wie noch vor einem halben Jahr. Vor Beginn der Coronamaßnahmen im März 2020 hätten etwa 1,5 Millionen Menschen regelmäßig eine Tafel aufgesucht. Aktuell seien es deutlich über zwei Millionen. Lebensmittel, die Supermärkte sonst in den Müll geworfen hätten, reichten nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken. Einrichtungen hätten teilweise Rationen verkleinert oder sogar Bedürftige abgewiesen. Es seien auch viele Menschen neu hinzugekommen, die früher allein über die Runden gekommen seien.
Susan Bonath tritt auch dem Eindruck entgegen, der Sozialstaat sei noch immer so stabil, dass er alles richten könne.
„Gern wird behauptet, dass sich insbesondere Hartz-IV-Bezieher keinen Kopf um die Preissteigerungen machen müssten, da ihnen ‚alles bezahlt‘ werde. Pustekuchen: Den Strom müssen sie, wie fast alles andere, aus ihrem Regelsatz bezahlen.“
Die Durchsetzung von Forderungen an den Staat setzt auch voraus, dass dieser solvent bleibt. Wir haben uns in Deutschland daran gewöhnt, dass zwar nicht jeder genau das bekommt, was er will, dass jedoch im Rahmen eng gesteckter Regeln auf den Staat Verlass ist. Künftig könnte das anders werden, wir werden es mit einer Epoche verschärfter Knausrigkeit zu tun bekommen. Weniger betuchte Bürger werden zu spüren bekommen, dass der Staat schamlos und teilweise ohne Not die Zukunft beliehen hat. Etwa mit Ausgleichszahlungen an Großkonzerne wegen Coronamaßnahmen, die nicht nötig oder eher schädlich waren. Oder durch die Einrichtung eines „Sondervermögens“ für Rüstung — dies, obwohl die Militärausgaben Russlands kaum über denen Deutschlands liegen und nur rund ein Zwölftel des Rüstungsbudgets der USA betragen.
Hinzu kommen die negativen wirtschaftlichen Folgen der Russland-Sanktionen für die Sanktionierenden selbst, eine Form politischer Selbstverstümmelung. Susan Bonath schreibt dazu:
„Fest steht schon jetzt: Sollte die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ihre gegenwärtige Sanktionspolitik gegen Russland fortsetzen, anstatt wegen der Fortsetzung der Gaslieferungen zu verhandeln, und sollte sie darüber hinaus am autoritären Auf und Ab der Coronamaßnahmen festhalten, gefährdet sie bewusst die Existenz vieler Millionen Menschen in Deutschland.“
Es geht also um erhebliche Verschlechterungen der Lebenssituation für sehr viele Menschen, verordnet von Politikern, die von den Bürgern gewählt und bezahlt werden, die bei Amtsantritt gelobt haben, sich für deren Wohl einzusetzen.
Bruderkampf der Armen
Wie schlimm kann die Entwicklung noch werden? Der Spiegel warnte Ende Juni 2022 vor einem Wirtschaftseinbruch von über 12 Prozent und dem Verlust von über 5 Millionen Arbeitsplätzen. All diese Menschen könnten nicht nur keine Steuern mehr in die Staatskasse einzahlen, sie müssten aus dieser auch selbst Leistungen beziehen. Mit der Anzahl der „Alimentierten“ steigt auch die Reizbarkeit derer, die man gnädigerweise noch arbeiten lässt. Immer mehr Working Poor werden bald nicht mehr einsehen, mit ihrem sauer verdienten Geld auch noch „Faulenzer durchfüttern“ zu müssen. Es droht weitere gesellschaftliche Spaltung.
Sahra Wagenknecht beschrieb in einem sehenswerten Video die jetzt anstehenden oder schon existierenden Probleme. Beispiel: Mehr als jedes fünfte deutsche Unternehmen erwägt, im Ausland zu produzieren — wegen steigender Gaspreise. Es geht also nicht nur um das Schicksal von Menschen, die das System als Randgestalten schon immer verachtet hat — es geht um das zentrale Wohlstandsversprechen des Landes, um „Werte“, die gerade von Neoliberalen immer hochgehalten und sogar zum Fetisch erhoben wurden: die Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Die Armutsprofiteure
Dass dieser Zustand kein naturgegebenes Schicksal ist, zeigt ein Blick auf unser großes Vorbild: die USA. Dort stehen die Gaspreise nur auf einem Achtel des derzeitigen deutschen Niveaus. Das bedeutet: Die USA treiben Deutschland in den Handelskrieg mit Russland, stoßen Anfeuerungsrufe aus gesicherter Position hinter den Frontlinien aus, sorgen jedoch dafür, dass es ihre eigenen Bürger — anders als demnächst die Deutschen — warm haben und dass die Preise nicht explodieren.
Die Annahme, Russland werde seine Gaslieferungen heimtückisch drosseln, ist zwar nach wie vor das Lieblingsnarrativ der Qualitätsmedien, meist werden dabei aber andere plausible Erklärungsmodelle übersehen, die in der Logik des kapitalistischen Systems liegen. An dieses wagen eingebettete Presseorgane natürlich nicht zu rühren. Wieder mal müssen die freien Medien ran. So schreibt Jens Berger in den Nachdenkseiten:
„Es ist richtig, dass die russischen Erdgaslieferungen seit Mitte Juni massiv zurückgegangen sind. Aber das allein erklärt nicht die horrenden Preise, die deutschen Verbrauchern ab Herbst abverlangt werden. Eine mindestens genau so große Schuld daran trägt die Liberalisierung des europäischen Gasmarkts und die völlig dysfunktionale Preisbildung an den Energiebörsen.“
Dies erklärt er in seinem Artikel dann auch näher.
Es stellt sich auch die Frage, warum in einer Zeit, in der die Menschen Angst vor einem Winter der Verarmung und des Mangels haben, große Energiekonzerne schon mal den Schampus kaltstellen. So korrigierte RWE laut einem Bericht des Spiegel seine Gewinnerwartung für dieses Jahr drastisch nach oben:
„Auf Konzernebene erwartet das Unternehmen jetzt einen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen von 5 bis 5,5 Milliarden Euro — bisher wurden 3,6 bis 4 Milliarden Euro angepeilt.“
Überhaupt ist es wie immer im Kapitalismus: Wo finanzielle Not und Verluste auftreten, fließen diese auf rätselhafte Weise um die Großkonzerne und die großen Vermögen herum. Die finanzielle Verantwortung dafür wird „crowdgesourced“, die Masse der Kleinen muss unter großen persönlichen Opfern die Verluste tragen.
Immer enger geschnallte Gürtel
Wieder einmal wird dem Normalbürger geraten, seinen Gürtel enger zu schnallen, ohne zu fragen, ob für derart Abgemagerte überhaupt noch ein passendes Loch im Gürtel vorhanden ist. Wenn sich bei einem Menschen auf Hartz-IV-Niveau die monatlichen Stromkosten verdreifachen, kann das ernste Probleme mit sich bringen; für einen Minister bedeutet eine Verdreifachung nicht die geringste spürbare Einschränkung, selbst wenn er wegen des ungleich größeren zu beleuchtenden Wohnraums in absoluten Zahlen deutlich höhere Kosten hat.
Dieses wohlige Gefühl, persönlich „auf der sicheren Seite“ zu sein, mag auch eine Erklärung dafür sein, warum Politiker ihre Hiobsbotschaften so penetrant gelassen vor der Kamera ausbreiten.
„Dort unten“, in den für Privilegierte nicht mehr einsehbaren Niederungen der Gesellschaft, dürfen sich dann Menschen um bezahlbaren Wohnraum, um einen Platz an der Heizung oder einen der vorderen Plätze in der Schlange zur Tafel balgen. Gegeneinander aufgebracht werden — wieder einmal — auch Flüchtlinge und Einheimische. So hat die Bundesregierung zum Juni 2022 klammheimlich eine Regelung eingeführt, die Flüchtlinge aus der Ukraine nicht nur gegenüber Geflüchteten aus derzeit weniger medientauglichen Ländern bevorzugt, sondern auch gegenüber Einheimischen. Wer aus dem kriegsgeschüttelten Land kommt, kann gleich unmittelbar in das Hartz-IV-System einwandern und wird bei der Wohnungsvergabe bevorzugt. Für ihn werden auch spezielle Arbeitsbeschaffungsprogramme aufgelegt.
So heißt es in einem Artikel, der ursprünglich im Gewerkschaftsforum veröffentlicht wurde, über Arbeitsbeschaffungsprogramme für ukrainische Flüchtlinge:
„Die Schaffung von angestrebten 800.000 zusätzlichen Beschäftigungs-/Maßnahme-Arbeitsplätzen werden die Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen aller Beschäftigten beeinflussen. Sie wird eine Umschichtung in den Betrieben zur Folge haben und reguläre Stellen abbauen. Die verbleibenden Beschäftigten entwickeln zunehmend Ängste um ihren Arbeitsplatz und leisten, wenn sie Glück haben, bezahlte Mehrarbeit. Dadurch verhindern sie Neueinstellungen und können ihre familiären und sozialen Beziehungen nicht mehr pflegen. Sie verzichten auf die notwendige Genesungszeit bei Krankheit, schädigen damit ihre Gesundheit und verursachen mehr Kosten für das Gesundheitssystem. Gesamtgesellschaftlich wird eine angstgetriebene Hoffnungslosigkeit erzeugt, und der Konkurrenzgedanke bestimmt noch mehr den Alltag.“
Wie man angeschlagenen Menschen den Rest gibt
Der Zweck der Übung liegt gewiss nicht in einer für Regierende sonst eher untypischen Anwandlung von Edelmut. Vielmehr wird auf diese Weise ein Heer billiger Arbeitskräfte ins Land gezogen, wird Druck auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgeübt.
„Ukrainische Flüchtlinge werden dazu benutzt, dem ‚Sozialen Arbeitsmarkt‘ auf die Sprünge zu helfen und den Niedriglohnsektor weiter auszubauen.“
Anzulasten ist dies gewiss nicht den Flüchtlingen, die aus der teilweise desaströsen Lage in ihrer Heimat eben das Beste zu machen versuchen — vielmehr sind es wieder die Mächtigen, die Alt- wie Neubürger wie auf einem riesengroßen Spielbrett nach Belieben hin- und herschieben. Eine erneute Flüchtlingskrise, die derzeit medial noch unter dem Deckel gehalten wird, dürfte das Land schon bald erschüttern und spalten.
„Rechte“ werden Flüchtlinge hassen, um ihrerseits wieder von „Linksgrünen“ gehasst zu werden. Währenddessen feixen die Regisseure dieser Misere auf den Rängen und geben sich entrüstet über so viel Unvernunft der unteren Chargen, die nach einer härteren polizeistaatlichen Hand geradezu schreit.
Diese Krisen treffen auf ein durch die Coronamaßnahmen bereits nachhaltig zermürbtes Land. Viele Kleinunternehmer haben „wegen Corona“ Pleite gemacht oder krebsen am Existenzminimum herum. Gastronomie und Kulturbranche hat es mit am härtesten getroffen. „Fast zwei Jahre Pandemie treiben immer mehr Gastronomiebetriebe in Deutschland in Existenznot“, analysierte das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Zahl der finanzschwachen und damit insolvenzgefährdeten Gastronomieunternehmen sei von Januar 2020 bis Januar 2022 um fast ein Drittel auf 16,2 Prozent gestiegen, analysierte die Wirtschaftsauskunftei Crif. Berücksichtigt sind dabei Restaurants, Gaststätten, Imbisse und Cafés.
Von den fast 102.000 Gastrounternehmen, die Crif prüfte, waren im Januar 16.567 insolvenzgefährdet. Dies ist die Ausgangslage für Betriebe, die jetzt mit deutlich gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreisen werden kämpfen müssen. Vielleicht auch noch mit weiteren Schikanen gegen Ungeimpfte sowie gegen Geimpfte, die am Restauranteingang werden nachweisen müssen, dass ihr Impfstatus auch „frisch“ genug ist. Hinzu kommt: Wegen der allgemeinen Verarmung werden Gäste ausbleiben. Am Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuch spart man leicht einmal, bevor man das Budget für Grundnahrungsmittel, Medikamente und Toilettenpapier angreift. Einer angeschlagenen Branche könnte damit der Rest gegeben werden.
Mangel zu leiden ist gesund
Weiterhin herrscht in Krankenhäusern auch Personalnotstand. Dieser wird durch die immer noch gültige einrichtungsbezogene Impfpflicht verstärkt, jedoch — auch ein Dreivierteljahr nach den Angstmonaten November und Dezember 2021 — durch keine erkennbaren politischen Maßnahmen abgemildert. Das heißt: So wichtig Lauterbach & Co. die Nichtüberfüllung der Intensivstationen angeblich ist — sie tun nichts, um die Situation von Patienten und Personal zu verbessern. Indes erweckt das Chaos, das Kunden im Bahn- und Flugverkehr erdulden müssen, den Eindruck, tatsächlich in einem „Failed State“ zu leben anstatt in einer führenden Industrienation.
Wir erleben den Zusammenbruch des neoliberalen Narrativs, wonach Privatisierung alles lösen und der Markt alles zum Besten aller regeln könne, am deutlichsten gerade in diesen beiden Bereichen: Verkehr und Gesundheit. In beiden Fällen wurde kurzfristigen Gewinnen der Vorrang vor nachhaltiger Instandhaltung der Strukturen gegeben. Wie es den Menschen — Bahnpersonal und Bahnkunden, Klinikpersonal und Patienten — bei all dem geht, befindet sich ohnehin außerhalb des Aufmerksamkeitsspektrums der Profiteure und ihrer politischen Lobbyisten.
Da sind wir doch froh, zu erfahren, dass Gasmangel im Winter angeblich „gesund“ ist. Der österreichische Kurier interviewte hierzu den Internisten Professor Stephan Vavricka. Der meinte, eigentlich wäre es gesund, wenn wir täglich vor Kälte zittern, „denn dabei wird Fettgewebe abgebaut. (…) Die Temperatur, die wir subjektiv als angenehm empfinden, liegt fast immer höher als das, was gut und gesund ist.“
Um die Figur der Bürgerinnen und Bürger muss sich der Professor aber wohl ohnehin keine Sorgen machen. Diese wird schon wegen der hohen Lebensmittelpreise und des allgemeinen Verarmungstrends kaum aus der Form gehen. Auch werden die Menschen zunehmend vom Auto auf das Rad umsteigen (müssen). Im Zusammenhang mit der wieder ins Haus stehenden Maskenpflicht in Innenräumen ist dies ein veritables Gesundheitsprogramm für alle.
Was bedeutet es daran gemessen, dass es verweichlichte Old-Normality-Nostalgiker „angenehm“ haben. Das verordnete Unangenehme geduldig und gehorsam zu ertragen ist das Gebot der Stunde.
Und das ist es auch, worin unsere politische Kaste ganz offensichtlich ihre Kernkompetenz sieht: Unangenehmes inszenieren und uns darauf einstimmen. Wenn man eine Misere selbst mitverschuldet hat und sie weder wirksam bekämpfen kann noch will, bleibt immer noch die Attitüde des „ehrlichen Kerls“, der tapfer vor sein Volk hintritt und ihm die unbequeme Wahrheit unverblümt mitteilt. Es ist der vielleicht letzte rhetorische Kniff eines Establishments, das unbeholfen durch die Trümmerlandschaft seines eigenen Versagens irrt. Anstatt die eigene Täterschaft für das verursachte Leid einzuräumen und von der politischen Bühne abzutreten, wagen sie es noch, die Opfer wegen ihrer angeblich mangelnden Leidensfähigkeit zu tadeln.
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