Sophia-Maria Antonulas: Herr Junge, Sie sind 1978 in Berlin geboren. Warum wird ein Stadtjunge Landwirt?
Simon Junge: Ich wurde Landwirt, um überhaupt etwas zu werden — ich wollte ins Tun kommen. 2006 gründete ich den Löwengarten, das war die erste „Solidarische Landwirtschaft“, also „Solawi“, im Berliner Stadtgebiet. Und 2013 entstand die „Sterngartenodysee“, das ist ein Kooperationsverband aus selbstverwalteten Abnehmergruppen und ökologisch wirtschaftenden Betrieben. Meines Wissens der erste Versuch dieser Form in Deutschland. Außerdem betreibe ich den ersten, und lange Zeit einzigen, solidarisch getragenen Obstbaubetrieb.
Und warum haben Sie sich ausgerechnet der „Solidarischen Landwirtschaft“ verschreiben?
Das ist einfach: Ich glaube an die Wirksamkeit der Menschen auf der Erde durch wirksame Ideen. Und in der derzeitigen Situation brauchen wir Ideen für gemeinschaftliches gesellschaftswirksames Handeln dringender denn je. Das Vertrauen darauf bildet die Grundlage meiner Arbeit, und als Landwirt erwachsen meine Ideen eben aus dem Boden — es braucht nur die soziale Zündung, um sie zu verwirklichen. Denn wenn wir gemeinschaftlich in der Welt wirken, können erstaunliche Sachen passieren. Landwirtschaft braucht diese Kraft, damit sie eine Qualität bekommt, die der Erde Gutes tut und uns auch ernährt.
Die Hauptziele der „Solawi“, wie ich sie vertrete, sind also Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit sowie gemeinschaftlicher Besitz und Verwaltung von Grund und Boden. Das sind eigentlich allgemeinmenschliche Ziele — man muss nicht politisch sein, um das zu sehen. Trotzdem macht gerade das „Solawi“ politisch so aktuell. Denn über Daseinsgrundlagen kann es keine demokratischen Abstimmungen geben. Gesellschaft geht ohne Gemeingut kaputt. Da gibt es nichts zu verhandeln. Es ist keine Daseinsoption, die Menschlichkeit einzusparen.
Meinen Sie mit Gemeingut etwa Enteignung ...
Ich denke wahrscheinlich anders über „Solidarische Landwirtschaft“ als die meisten. Ich sehe darin ein gesellschaftliches Phänomen, in dem ein großes Potenzial steckt — nämlich dass Wirtschaft Daseinsgerechtigkeit realisiert. Auf diffuse Weise wird das ja auch öffentlich gefordert, durch Ideen wie Risikoteilung und Gemeingut in Verbindung mit ausgleichenden Sozialprinzipien.
... und stimmen Sie hier mit den Forderungen des WEF-Gründers Klaus Schwab überein?
Klaus Schwab und die Grünen sind deshalb so erfolgreich, weil sie so nah an dem argumentieren, was tatsächlich gebraucht wird. Sie arbeiten mit hochintelligenten Vereinnahmungsstrategien, die aktuelle menschlich-gesellschaftliche Bedürfnisse mit einem bestimmten elitären Machtanspruch verbinden, also in ihrem Sinne umlenken. Das ist eine hohe Kunst, beeindruckend und erschreckend zugleich.
Privatbesitz ist wunderbar, um Verantwortung zu lernen, aber privates Eigentum an Grund und Boden ist schädlich für die Gesellschaft. Denn das ist unsere Existenzgrundlage und muss deswegen für die Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Derzeit stürzt sich eines der schädlichsten Phänomene auf Grund und Boden: die Spekulation — das hat sehr konkrete unmenschliche Folgen und hat eigentlich in unserer wertebasierten Gesellschaft nichts zu suchen. Es versinkt enormes Kapital in Immobilien und fehlt dafür in Kunst, Kultur und Bildung.
Was ist der Unterschied zwischen „Solawi“ und Selbstversorgung?
Was wir in der „Solidarischen Landwirtschaft“ machen, ist nicht neu: Wir setzen uns für die Bedürfnisse von Menschen und Natur ein. Es besteht allerdings die Gefahr, dass wir die Verhältnisse durch ein besorgnisorientiertes Verhalten zuspitzen. Autarkiebestrebungen zum Beispiel erschweren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Finden der richtigen Lösungen. Statt Geiz und Konservierung brauchen wir Großzügigkeit und Pioniergeist.
Autarkie ist außerdem kein sozialer Gedanke — sie macht Resignation zur Grundlage des Handelns. Wir müssen uns zu unserer Verantwortung für die Mitmenschen und die Gesellschaft bekennen. Tief in uns wissen wir, dass es unzulässig ist, auch nur einen einzigen aufzugeben.
Das Aussteigertum ist eine träumerische Entfremdung. Natürlich müssen wir aus dem Bürgerlichen raus, aber wir müssen dabei Zeitgenossen bleiben. Unser Bewusstsein fordert, dass wir ein wirksamer Bestandteil der Gesellschaft und des Lebens sind.
Die Abnehmer in einer „Solawi“ verpflichten sich, im Voraus einen monatlichen Betrag an den jeweiligen Betrieb zu zahlen. Der Erzeuger kann sich so unabhängig von Marktzwängen einer guten landwirtschaftlichen Praxis widmen. Aber Ihnen geht es um mehr als nur die Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln?
In einer „Solawi“ sind die Leute für ihre eigenen Bedürfnisse kreativ, sie machen es einfach. Daraus kann eine gesellschaftsrelevante Bewegung entstehen — sozusagen die Selbsterkenntnis als gesellschaftsbildende Kraft.
Zuerst ist da das Land, auf dem wir Obst und Gemüse anbauen. Dazu kommt aber die Art und Weise, wie wir das machen — nämlich mit der Hoffnung auf die individuelle Entfaltung. Das hat eine sozial-schöpferische Intensität. Jeder einzelne kann etwas Wesentliches schaffen. In seiner Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung kann man dieses Moment nicht hoch genug schätzen: ein gemeinschaftliches Bewusstsein dieser Art kann Unglaubliches bewirken.
Kann ich bei einer „Solawi“ auch einfach so mitmachen, ohne große gestalterische Vision?
Ja, unbedingt! Nicht jeder hat Bock, in diesen Erkenntnisprozess einzusteigen. Aber einige muss es geben, die genau darüber nachdenken, sonst sind wir davon abhängig, was als Meinungsströmung gerade Mode ist.
Die derzeit Mächtigen haben eine starke Vision von dem, was geschehen soll. Wir dürfen uns an deren Plänen nicht abarbeiten, sondern müssen eigene Bilder einer menschenwürdigen Zukunft entwickeln.
Selbst bei vielen „Solawis“ geht es nur um das grüne Produkt. Den Unterschied zwischen den einzelnen Gemeinschaften macht der Grad der Beteiligung. Ein grünes Produkt ist einfach ein Objekt des Konsums. Ohne gestaltende Beteiligung bekommen wir genau das. Das zeigt sich zum Beispiel im Trend zu immer größeren Genossenschaften, bei denen der Anteil der aktiven gestaltenden Beteiligung verschwindend gering oder gar nicht vorhanden ist. Es handelt sich nur mehr um egoistische Versorgungsprivilegien, die gekauft werden. Das ist der Einfluss des Kapitalismus — diese Kraft, die jede alternde Idee auf ihre Seite zieht. Unsere Zeit macht alles zum Produkt. Im Kapitalismus werden wir sogar selbst zum Produkt gemacht. Das müssen wir umdrehen: Wir sind die Ursache!
In der „Solawi“ machen wir uns zum lebendigen Bestandteil des Produkts. Der einzelne Mensch wird gestaltender Faktor, ohne ihn ist das Produkt unfertig. Das Bewusstsein dieser Selbstwirksamkeit ist unbequem, entspricht aber der Realität. Im Gegensatz dazu stehen die bürgerlichen Privilegien: Sie machen das Leben wunderbar bequem. Aber der Preis für die bürgerliche Konformität ist, dass wir dafür unsere Überzeugungen und unsere Identität aufgeben.
Menschenwürdige Arbeitsbedingungen auch in der Landwirtschaft zu schaffen, ist ein weiteres Ziel der „Solawi“ — und Abwechslung könnte eigentlich vielen Berufsgruppen guttun, wenn ich als Schreibtischtäterin mir das so anhöre. Ihr neuestes Projekt heißt „GranDeliSee“. Wie ist da der Stand der Dinge?
Wir wollen eine lebendige Gemeinschaftskultur schaffen und uns für ein Stückchen Erde verantwortlich fühlen, egal ob wir da arbeiten oder da einfach nur sind. Wir haben nördlich von Berlin Land gepachtet, es geht um viel Gemüse, ein 1.000 Quadratmeter großes Gewächshaus soll entstehen — aber auch Baumkultur beziehungsweise Agroforst, also die Verschränkung von garten- und ackerbaulichen Kulturen. Der richtige Einsatz von Bäumen ist ein Schlüssel-Know-how mit globaler Bedeutung für Bodenaufbau und Klima.
Das klingt nach viel manueller Arbeit und Liebhaberei. Kann Baumkultur im großen Stil stattfinden?
Menschsein heißt, das Gleichgewicht der Kräfte zu beherrschen — wir können alles, wenn wir es ins richtige Verhältnis bringen. Baumkultur ist nichts Neues, aber etwas Neu-Entdecktes. Mittlerweile kann viel Technik dafür eingesetzt werden — es gibt inzwischen entsprechende Maschinen. Baumkultur ist also modern und trotzdem traditionskompatibel. Die Azteken zum Beispiel bauten schwimmende Beete in den Städten, um deren Bewohner zu ernähren. Uns fehlt allerdings der Kniff, um diese alten Ideen neu umzusetzen. Um uns den intuitiven Leistungen der Vorfahren anzunähern, müssen wir die nötigen Kenntnisse mühsam wissenschaftsbasiert zusammenklauben.
Bei „GranDeliSee“ sind wir bei der Organisationsentwicklung und Betriebsgründung. Es geht um Dinge wie den Anbauplan, aber auch um den Schutz — also den Umgang mit Störern — und die Verständigung über die Ziele, wie zum Beispiel gemeinschaftliche Eigentumsgrundlagen zu bilden und weiteres Land zu kaufen.
Mit Schutz meinen Sie wohl auch den Erhalt des eigenen Projekts. Ist denn „Solawi“ so gefährlich, dass manche sie zerstören wollen?
In den Projekten, die ich mit aufgebaut habe, stehen die menschlichen Werte immer an erster Stelle. Und es war eine neue Erfahrung für mich, dass auch eine „Solawi“ zum Ziel einer politischen Kampagne werden kann. Aber ich habe daraus gelernt, dass bei derartigen äußeren negativen Einflüssen, der behutsame Umgang miteinander umso mehr Aufmerksamkeit braucht, um wirklich im Sozialen zu bleiben.
Meinen Gegnern verdanke ich die begriffliche Klarheit. Es bleibt uns am Ende nichts anderes übrig, als jetzt noch einen Baum zu pflanzen, während die Welt sich anschickt unterzugehen. Es geht darum, das Sinnvolle zu tun und nicht nach dem Erfolg zu fragen. Zweifeln und Zögern macht die Sache nur schlimmer.
Ich habe mir natürlich auch die Frage gestellt, ob „Solawi“ in der jetzigen gesellschaftlichen Situation überhaupt noch funktionieren kann. Es geht mir ja nicht nur um Versorgungssicherheit allein, sondern um die damit verbundenen sozialen Qualitäten. Denn jeder einzelne von uns hat das Potenzial, die Dinge, die wir brauchen, mit aufzubauen.
Das Hauptproblem besteht allerdings darin, dass dieses Bewusstsein dafür, dass wir so etwas können, oft nicht vorhanden ist. Das ist die größte Gefahr für die Bewegung, dass wir uns diese Aufbauarbeit nicht zutrauen. „Solawi“ ist als Selbstorganisationsprozess wichtig, um genau das zu lernen: das Vertrauen in unser Potenzial. Denn Menschsein heißt Entwicklung, wir sind Werdewesen.
Und „Solawi“ ist darüber hinaus der geeignetste Weg, um moderne Landwirtschaft zu verwirklichen: Wir bewirtschaften die Erde, und dabei wird sie schöner und vielfältiger als vorher. Diese Idee muss im Boden verankert, also umgesetzt, werden.
Was sind die größten Herausforderungen bei der „Solidarischen Landwirtschaft“?
Wir müssen zu einer Ehrlichkeit in Bezug auf unsere eigene bürgerliche Bequemlichkeit kommen. Der Wunsch nach Privilegien und fertigen Produkten korrumpiert unsere Ideale, erzeugt die Neigung zur Klüngelbildung. Der kleinkarierte Klüngel hat Angst groß zu werden, aber auch Angst, radikal zu werden. Wir müssen im Streben nach Klarheit radikal und groß werden.
Dazukommt die Agrarindustrie mit ihrer weltweiten Bedeutung — sie ist mit der Rüstungsindustrie verbunden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde durch die Popularisierung von Kunstdünger die Stickstoffindustrie am Leben erhalten. Wir zerstören also in Friedenszeiten unseren Boden, um auf künftige Kriege vorbereitet zu sein. Laut Weltagrarbericht ernähren aber die Kleinbauern die Welt. Wir müssen wissen, dass nachhaltige Hochertragssysteme („Market Gardening“) auch in unseren Breiten möglich sind.
Viele wollen nicht an sich selbst arbeiten, sich verändern. Aber wir müssen eigene Schritte machen, erst das verändert die Welt. Es gilt, die Entfremdung untereinander und zur Natur zu überwinden. Wenn „Solidarische Landwirtschaft“ gelingt, kann sie eine Grunderfahrung von Selbstwirksamkeit vermitteln. Gemeinsam erleben wir Gestaltung, wir entdecken etwas, von dem wir keine Ahnung hatten.
Durch das gemeinsame Tun mit Liebe sind Wunder möglich. Wir können die Verhältnisse und den Raum schaffen, damit Dinge passieren, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten und die alles uns bekannte Potenzial übertreffen. Das ist meine Hoffnung, dass wir so das Gleis in die Katastrophe verlassen können.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Gemeinschaftliches Handeln wichtiger denn je“ bei ViER.
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