„Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zum vollkommenen Glück ist frei.“
Brillant, wenn es in der Person von Jewgeni Samjatin einem Schriftsteller — zumal mit hundert Jahren Vorlauf — gelingt, literarische Bilder zu schaffen, die als Gegenwart darstellen, was heute von vielen als Zukunft befürchtet wird, und dies mit außerordentlicher literarischer Technik und Finesse. Bedauerlicherweise fehlt Jewgeni Samjatins Wir regelmäßig, wenn die großen dystopischen Romane — 1984, Aldous Huxleys Schöne Neue Welt oder auch Fahrenheit 451 von Ray Bradbury — aufgezählt werden.
Als George Orwell von 1946 bis 1949 in großer Zurückgezogenheit auf der zu den Inneren Hebriden gehörenden schottischen Insel Jura seinen Roman 1984 schrieb, stand Wir Modell dafür, das er etwa acht Monate zuvor gelesen hatte. In Gordon Bowkers George-Orwell-Biographie heißt es dazu: „Beim Abendessen hatte Orwell über Samjatins Buch Wir gesprochen und gesagt, dass er es als Vorlage für seinen nächsten Roman nehmen würde.“ Am 4. Januar 1946 erschien in der Tribune ein Artikel Orwells über Wir— auf Basis der französischen Übersetzung übrigens, da die englische Übertragung nur in den USA erschienen war —, in der er den Roman als kein „Buch erster Ordnung“ bezeichnete; eine Einschätzung, die Samjatins Werk nicht gerecht wird. Interessant ist Orwells Auffassung, dass Huxleys Schöne Neue Welt Samjatins Roman betreffend „zum Teil daraus abgeleitet sein muss“, und dass er Wir Huxleys Werk überlegen sieht aufgrund „des intuitiven Erfassens der irrationalen Seite des Totalitarismus“.
Huxley jedoch bestritt diesen Einfluss auf seinen Roman und bemerkte, es handele sich vielmehr um eine Reaktion auf die Utopien des H. G. Wells; von Samjatins Buch habe er erst lange nach Vollendung von Schöne Neue Welt gehört. Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut hingegen äußerte freimütig, er habe beim Schreiben seines 1952 publizierten thematisch verwandten — und übrigens so lesenswerten wie bedauerlicherweise nicht erfolgreichen — Debütromans Player Piano (deutscher Titel: Das höllische System), „fröhlich den Plot von Schöne Neue Welt abgekupfert, dessen Plot fröhlich von Jewgeni Samjatins Wir abgekupfert worden war“.
Wie auch immer: Wir lediglich als Skript, als Steinbruch für moderne Klassiker zu sehen, wäre verfehlt und unangemessen, denn das Buch ist weit mehr als die mäßige Vorlage für famose Werke und Samjatin kein Kleckser, der durch einen versehentlichen guten Einfall Michelangelo beim Ausmalen der Sixtinischen Kapelle inspirierte.
Nachdem der Roman 1924 in englischer Übersetzung beim New Yorker Verlagshaus E. P. Dutton publiziert worden war und 1952 die erste vollständige russische Ausgabe, ebenfalls in New York, dauerte es 64 Jahre bis zur ersten Veröffentlichung in der Sowjetunion. Im Zuge von „Glasnost“ erschien zunächst Orwells 1984 und ein Jahr später, also 1988, Wir in einer gemeinsamen Ausgabe mit Schöne Neue Welt.
US-Schriftsteller Tom Wolfe bezeichnete 1979 in seinem Reportage-Roman Die Helden der Nation (Originaltitel: The Right Stuff) Wir als „fabelhaft düsteren Zukunftsroman“. 1982 wurde das Buch vom ZDF verfilmt. Und 1994 erhielt Samjatins Roman einen Prometheus Award in der Kategorie Hall of Fame (Ruhmeshalle) für die beste klassische Belletristik — ein Literaturpreis, verliehen von der Libertarian Futurist Society, mit dem libertäre Werke aus dem Bereich der Science-Fiction ausgezeichnet werden. Michael Grossberg schrieb in einer Würdigung des Preisträgers: „Mit seinem bahnbrechenden Roman leistete der russische Schriftsteller Jewgeni Samjatin mutig Pionierarbeit und imaginierte das, was später als dystopische Literatur bekannt wurde.“
Der Autor
Verhaftung, Exil, Amnestie
Jewgeni Iwanowitsch Samjatin wurde am 1. Februar 1884 im Gouvernement Tambow, 300 Kilometer südlich von Moskau, geboren. Der Vater war ein russisch-orthodoxer Priester und Schulmeister, die Mutter Musikerin. Während des Studiums zum Schiffbauingenieur von 1902 bis 1908 bei der Kaiserlich Russischen Marine in Sankt Petersburg verlor er seinen Glauben an das Christentum, wurde Atheist und Marxist und trat der bolschewistischen Fraktion der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. „In jenen Jahren bedeutete ein Bolschewik zu sein, der Linie des größten Widerstands zu folgen“, notierte Samjatin. Es folgten Verhaftung, Misshandlung, Einzelhaft.
Nach seiner Freilassung pendelte er zwischen dem inneren Exil in seiner Heimat Tambow, der finnischen Hauptstadt Helsinki und lebte illegal in Sankt Petersburg, wo er wiederum verhaftet und erneut in die Provinz ins Exil geschickt wurde. Hier begann er zu schreiben. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehen der Herrschaft des Hauses Romanow wurde er 1913 amnestiert und durfte zudem nach Sankt Petersburg zurückkehren. Nach Publikation seiner Provinzgeschichten erlangte er eine gewisse Bekanntheit. Ein Jahr darauf wurde er wegen Diffamierung der Kaiserlich Russischen Armee in seiner Erzählung Am Ende der Welt angeklagt und freigesprochen.
Samjatin schrieb weiter Artikel für marxistische Zeitungen und arbeitete nach seinem Ingenieurabschluss im In- und Ausland, so in Alexandria und Jerusalem. Im Frühjahr 1916 lebte er im nordenglischen Newcastle upon Tyne, um den Bau von Eisbrechern auf nahen Werften zu überwachen. „In England baute ich Schiffe, sah mir verfallene Schlösser an, lauschte dem Dröhnen der Bomben, die von deutschen Zeppelinen abgeworfen wurden und schrieb Die Insulaner. Ich bedaure, dass ich die Februarrevolution nicht gesehen habe und nur die Oktoberrevolution kenne …“, notierte Samjatin über diese Zeit.
Literatur und Zensur
Nachdem er nach Sankt Petersburg zurückgekehrt war, warf sich Samjatin auf die Literatur, verfasste in brodelnder Produktivität — nach Publikation zweier Satiren auf das englische Leben — Geschichten, Theaterstücke, Kritiken, hielt Vorträge über Literatur und das Handwerk des Schriftstellers, beteiligte sich an verschiedenen literarischen Projekten und Komitees — viele davon initiiert und geleitet von Maxim Gorki — und wirkte in verschiedenen Redaktionsausschüssen mit zahlreichen führenden Schriftstellern und Kritikern. Noch während des Bürgerkriegs verfasste Samjatin zunehmend kritische und satirische Schriften und Kommentare über die Kommunistische Partei Russlands.
Obwohl Altbolschewik und wenngleich er „die Revolution akzeptierte“, hätte er Loyalität niemals über seine Maximen gestellt, denn er war der Überzeugung, dass unabhängiges Denken und Reden für jede Gesellschaft notwendig sind, und wandte sich gegen die zunehmende Unterdrückung der Redefreiheit und die Zensur von Literatur, Medien und Kunst durch die Partei.
Zwischen 1920 und 1921 schrieb Samjatin dann den Roman Wir, dessen Veröffentlichung erwartungsgemäß von der bolschewistischen Regierung verwehrt wurde. In seinem 1921 verfassten Essay Ich habe Angst äußerte er heftige Kritik an den Dichtern, die der neuen Regierung ihre Aufwartung machten und Lobeslieder auf sie sangen. Samjatin verglich sie mit den Hofdichtern unter dem Haus Romanow und jenem von Bourbon und bezeichnete sie als „flinke Autoren“, die genau wüssten, wann sie „dem Zaren ein Halleluja singen“ müssten und wann „dem Hammer und der Sichel“. Bereits 1918 hatte Samjatin festgestellt: „Die Verwirklichung, die Materialisierung, der praktische Sieg einer Idee gibt ihr sofort einen philiströsen Anstrich.“
Kunst im Dienst der Partei
Er verlegte sich — als Vorläufer eines weiteren Orwell-Klassikers, nämlich Farm der Tiere— auf Kurzgeschichten in Märchenform, welche die kommunistische Ideologie satirisch kritisierten. 1923 veranlasste er, dass das Manuskript von Wir nach New York zum bereits erwähnten Verlagshaus E. P. Dutton geschmuggelt wurde. Nach der Übersetzung ins Englische durch den russischen Flüchtling Gregory Zilboorg erfolgte die Publikation 1924. Drei Jahre später ließ Samjatin den Originaltext nach Prag zum Herausgeber einer antikommunistischen russischen Emigrantenzeitschrift schmuggeln. Zur großen Verärgerung des neuen Regimes wurden Exemplare der von Václav Koenig angefertigten tschechischen Übersetzung in die UdSSR zurückgeschmuggelt und von Hand zu Hand weitergegeben. Das war zu viel. Samjatin wurde nun massiv unter Beschuss genommen und Ziel einer konzertierten Hetzjagd. Leo Trotzki nannte ihn einen inneren Emigranten.
Wiederholt bezeichnete man ihn als bürgerlichen Intellektuellen, der nicht im Einklang mit der Literatur steht. Mehr und mehr setzte sich das Paradigma durch, dass die Kunst weder originell noch unabhängig sein könne, sondern den Zielen der Partei zu dienen habe und ansonsten über kein Existenzrecht verfüge.
In der Kampagne für Konformität kamen sämtliche Instrumente der Macht zum Einsatz. Es verhielt sich wie in der gegenwärtigen Situation. Konfrontiert mit abscheulichen Alternativen kapitulierten die meisten von Samjatins Kollegen und ehemaligen Schülern: Sie widerriefen öffentlich, schrieben in vielen Fällen ihre Werke um und widmeten sich der Produktion der von der Diktatur geforderten Lobgesängen auf den kommunistischen Aufbau. Andere Schriftsteller wählten das Schweigen. Viele begingen Selbstmord.
Verleumdung und Kontaktschuld
Samjatin selbst, eine der aktivsten und einflussreichsten Persönlichkeiten im Schriftstellerverband, wurde zum Ziel einer wütenden Verleumdungskampagne. Er wurde seines Redaktionspostens enthoben, Zeitschriften und Verlage schlossen ihre Türen für ihn, Theater nahmen seine Stücke vom Spielplan und wer seine Werke veröffentlichte, sah sich Verfolgung und Verunglimpfung ausgesetzt. Unter dem Druck der Partei-Inquisitoren bekamen Samjatins Freunde Angst, ihn zu treffen, und viele seiner Genossen im Schriftstellerverband denunzierten ihn. Man stellte ihn vor die Wahl, entweder seine Arbeit und seine Ansichten zu verwerfen oder aus dem Literaturbetrieb ausgeschlossen zu werden.
Samjatin aber drehte den Spieß um und kündigte seinerseits die Mitgliedschaft im Sowjetischen Schriftstellerverband mit den Worten, dass es für ihn unmöglich sei, Mitglied einer literarischen Organisation zu bleiben, die sich, wenn auch nur indirekt, an der Verfolgung ihrer Mitglieder beteilige.
1931 wandte Samjatin sich direkt an Josef Stalin, den Alleinherrscher und „Führer“ — als solcher ließ dieser sich seit 1929 offiziell titulieren — der Sowjetunion und beantragte, mit seiner Frau ins Ausland ziehen zu dürfen, da über ihn das Todesurteil als Schriftsteller verhängt worden sei. Zudem bat er Maxim Gorki, für ihn bei Stalin zu vermitteln — mit Erfolg: Samjatin erhielt die Pässe für sich und seine Frau, um ausreisen zu können. Das Angebot, in Russland zu bleiben, lehnte er ab.
Letzte Jahre in Paris
Mirra Ginsburg — eine russisch-amerikanische Übersetzerin der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts — nannte Samjatin „einen Mann von unbestechlichem und kompromisslosem Mut, dessen Vision zu weitreichend, zu nonkonformistisch und zu offen geäußert, um von den Verfechtern des offiziellen Dogmas toleriert zu werden“. Seine letzten Jahre im Pariser Exil, wo er sich mit seiner Frau niedergelassen hatte, beschrieb sie als Zeit „großer materieller Entbehrungen und Einsamkeit“. Er schrieb am Drehbuch einer Verfilmung eines Maxim-Gorki-Bühnenstückes durch Jean Renoir mit, verfasste einige Artikel für französische Zeitungen und arbeitete an einem Roman, der nie vollendet wurde.
„Wahre Literatur kann nur existieren, wenn sie nicht von fleißigen und zuverlässigen Beamten, sondern von Verrückten, Einsiedlern, Ketzern, Träumern, Rebellen und Skeptikern geschaffen wird“, schrieb Samjatin. Er starb am 10. März 1937 an einem Herzinfarkt in Armut. Begraben wurde er auf dem Friedhof von Thiais, südöstlich von Paris; Abteilung 21, Linie 5, Grab 36.
Bei seiner Beerdigung waren nur wenige Freunde anwesend.
Das Buch
Rosa Billetts und Glashäuser
Der Schauplatz von Wir ist der „Einzige Staat“, entstanden nach einem 200-jährigen Krieg und der „allerletzten Revolution“. Ein Gebilde, ein Ort, eine Art Stadtstaat, dessen Bewohner „Nummern“ heißen und haben, in Glashäusern leben, uniformiert im Gleichschritt marschieren und zeitgleich aufstehen, arbeiten, essen, spazieren gehen — bewacht von „Beschützern“ und geführt vom „Wohltäter“. Zweimal am Tag allerdings finden gesetzlich festgelegte „Persönliche Stunden“ statt, wobei D-503 fest davon überzeugt ist, „dass wir irgendwann, früher oder später, auch für diese zwei Stunden einen Platz in der allgemeinen Formel finden werden, dass dann die Gesetzestafel sämtliche 86.400 Sekunden des Tages umfassen wird.“
Nur 0,2 Prozent der Erdbevölkerung haben den 200-jährigen Krieg überlebt, „der Krieg zwischen Stadt und Land“, um den Hunger auszurotten; im Einzigen Staat ernähren sich die Menschen von „Naphta-Nahrung“. Der zweite Feind, der „zweite Beherrscher der Welt“, der in diesem Krieg bekämpft und besiegt wurde, war die Liebe. Diese ist nun reduziert auf den bloßen Geschlechtsakt, wobei die „Lex sexualis“ festlegt, dass jede Nummer, also jeder Bewohner des Einziges Staates, das Recht darauf hat. Die jeweiligen Sexualpartner werden ausgewählt vom „Amt für sexuelle Fragen“, das den Gehalt an Geschlechtshormonen genau bestimmt, „und dann erhält jeder eine seinen Bedürfnissen entsprechende Tabelle der Geschlechtstage und die Anweisung, sich an diesen Tagen der Nummer Soundso zu bedienen, und man händigt ihm zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosa Billetts aus“.
Am „Geschlechtstag“ erhält die gastgebende Nummer durch Vorzeigen dieses rosa Billetts bei der Hausverwaltung die Genehmigung, die Vorhänge der gläsernen Behausung herabzulassen, und muss bei Eintreffen des Besuchs von dessen rosa Billett den Kontrollabschnitt abtrennen. Dieses Recht gilt nur an Geschlechtstagen: „Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer.“
Die Grüne Mauer
Der dies zu Beginn seiner vierzig Tagebucheintragungen notiert, heißt D-503 und ist Konstrukteur des Raketenflugzeuges Integral, das bald bereit sein wird, in den Weltraum zu fliegen, um „jene unbekannten Wesen, die auf anderen Planeten — vielleicht noch in dem unzivilisierten Zustand der Freiheit — leben, unter das segensreiche Joch der Vernunft zu beugen. Sollten sie nicht begreifen, dass wir ihnen ein mathematisch-fehlerfreies Glück bringen, haben wir die Pflicht, sie zu einem glücklichen Leben zu zwingen“.
Doch nicht nur im Weltraum existieren „Wilde“, auch im Umkreis des Einzigen Staates. Jenseits der „Grünen Mauer“, dort, wo „eine Woge von Wurzeln, Blüten, Ästen und Blättern“ zu finden ist, eine „unvernünftige, hässliche Welt der Bäume, Vögel und Tiere“. Erst die Errichtung der Grünen Mauer und Isolierung der perfekten Maschinenwelt, stellt D-503 fest, hat den Menschen zum Kulturmenschen werden lassen. Und nicht nur eine wuchernde und ungezähmte Pflanzen- und Tierwelt ist hinter jener Mauer zu finden, sondern auch einige Überlebende des Krieges Stadt gegen Land, wie D-503 allerdings erst am Ende des Buches von der Rebellin I-330 erfährt:
„Nackt flohen sie in die Wälder. Dort gingen sie bei Bäumen, Tieren, Vögeln, Blumen und bei der Sonne in die Schule. Im Lauf der Zeit bedeckte sich ihr Körper mit Haaren, aber unter diesem Fell bewahrten sie sich ihr heißes, rotes Blut.“
Jäger und Sammler, deren Existenz der Einzige Staat leugnet und die ihn am Ende des Romans stürzen wollen.
Das Ende der Freiheit = Das Ende der Verbrechen
Zu Beginn des Romans liest D-503 in der Zeitung, man habe erneut „die Spuren einer bisher nicht fassbaren Organisation entdeckt, deren Ziel die Befreiung der Nummern von dem wohltätigen Joch des Staates ist“. Der Erzähler ist entsetzt und fassungslos, denn für ihn sind die Freiheit und das Verbrechen so eng miteinander verknüpft „wie die Bewegung eines Flugzeuges mit seiner Geschwindigkeit: Ist die Geschwindigkeit gleich Null, bewegt es sich nicht.
Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, begeht er keine Verbrechen. (…) Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist ihn vor der Freiheit zu bewahren.“
Dies erinnert an Ray Bradburys Science-Fiction-Geschichte Der Fußgänger — basierend auf einem Erlebnis Bradbury in Los Angeles, als er von einer Polizeistreife angesprochen und ermahnt wurde, das Spazierengehen in Zukunft zu unterlassen —, in der im Jahr 2053 nachts ein einsamer Spaziergänger von der Polizei angehalten und gefragt wird, was er draußen tue. Der Polizeiwagen ist der einzige in dieser Dreimillionenstadt. Da sich alle Stadtbewohner in ihren „gruftähnlichen Häusern“ aufhalten, haben die Verbrechen abgenommen, und so fuhr ein letzter einsamer Polizeiwagen „unentwegt durch die verlassenen Straßen“. Der Wagen ist leer, da er ferngesteuert wird, und die metallische Stimme, die den Spaziergänger, einen Schriftsteller, verhört, kommt offensichtlich von einer fernen Zentrale. Die Geschichte endet damit, dass der Schriftsteller zum „Psychiatrischen Forschungszentrum für regressive Tendenzen“ gebracht wird.
Hinrichtungen und Operationen
Im Einzigen Staat finden auch Hinrichtungen statt, die „Tag der Gerechtigkeit“ heißen. Exekutiert werden Nummern, die sich nicht einfügen wollen, die gar „unerhörte Verbrechen“ begehen wie „gotteslästerliche Verse, in denen der Wohltäter mit Namen belegt wird“, die D-503 nicht zu zitieren wagt.
Die Hinrichtungen finden unter Verwendung einer Art elektrischer Guillotine statt, die vom „Wohltäter“ selbst bedient wird und die den Delinquenten zerschmelzen lässt, die ihn auflöst. „Nichts blieb von ihm als eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers, das noch eben rot im Herzen pulsierte.“ Diese Exekutionen werden begleitet von den feierlichen, erhabenen Oden der Staatsdichter, denen „das Glück beschieden war, den Feiertag mit (…) Versen zu weihen“.
D-503 erlebt die Hinrichtungen „jedes Mal von neuem als Wunder, ein Zeichen der übermenschlichen Macht des Wohltäters“, die zudem eine perverse Erotik ausstrahlt, denn: „Dort oben, vor Ihm, standen zehn weibliche Nummern mit glühenden Wangen und vor Erregung halbgeöffneten Lippen.“ Dies meint Orwell mit Samjatins intuitivem „Erfassen der irrationalen Seite des Totalitarismus — Menschenopfer, Grausamkeit als Selbstzweck, die Verehrung eines Führers, dem göttliche Attribute zugeschrieben werden.“
Am Ende des Buches wird für alle Bewohner des Einzigen Staates eine „Operation“ vorgeschrieben in Form einer dreimaligen Bestrahlung, welche die Nummern von der Krankheit namens Fantasie befreit: „Die Fantasie ist ein Wurm, der schwarze Furchen in eure Stirnen frisst, ein Fieber, das euch treibt, immer weiterzueilen (…) Die Fantasie ist das letzte Hindernis auf dem Weg zum Glück.“ Nummern, die sich der „Großen Operation“ widersetzen (wie auch der Erzähler D-503), werden ihr zwangsweise zugeführt. Eine Lehrerin berichtet ihm, „dass sie ihre ganze Schulklasse zur Operation geführt habe und dass man die Kinder an den Tischen hatte festbinden müssen. Doch man müsse ja ‚erbarmungslos‘ lieben.“ Operierte erscheinen D-503 als „Traktoren in Menschengestalt“.
Analogien
Interessant wie zahlreich die Bezüge der geschilderten Thematiken zur Gegenwart und geplanten Zukunft sind, die dann im Laufe der Geschichte bespielt werden:
Die Häuser aus Glas als Synonym für Kontrolle und ständige Überwachbarkeit
„Contact Tracing und Contact Tracking, das heißt, die Ermittlung und Nachverfolgung von Kontaktpersonen sind daher wichtige Schutzmaßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens …“, so zum Beispiel Klaus Schwab (1).
Der Einzige Staat als Bild und Modell einer Weltregierung
„Falls es der Klimawandel und die Migrationstragödien der letzten Jahre noch nicht bewiesen haben — Covid-19 beweist es uns jetzt von Tag zu Tag: Krisen wie diese bräuchten eine Art Weltregierung — so vorläufig und unvollkommen sie unter dem Druck der sich überschlagenden Ereignisse auch sein mag“, so der Spiegel. Oder in der Süddeutschen Zeitung: „Gates plädiert für eine Weltregierung. (…) Gates weiß, wie schwer das umzusetzen wäre, trotzdem träumt er von einer Art weltweiten Regierung. ‚Wir haben globale Fragen, da wäre sie bitter nötig‘, betont der Multimilliardär. Der Kampf gegen den Klimawandel zeige das beispielhaft“ (2, 3)
Expansion in den Weltraum und Besiedelung von Planeten
Das „Billionaire Space Race“: Im Rennen sind Elon Musks SpaceX, Jeff Bezos mit Blue Origin, Richard Bransons Virgin Galactic und Virgin Orbit sowie Yuri Milner mit Breakthrough Starshot (4).
Künstliche Nahrung
Dazu melden verschiedene Medien: „Gegenüber MIT Technologie Reviews sprach Bill Gates zudem über Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft. Er sei der Meinung, reiche Länder sollten sich zu 100 Prozent von synthetischem Fleisch ernähren. Die Gesetze seien dabei aber fordernd, da sie bestimmen würden, solche Produkte „im Grunde Laborabfall“ zu nennen, anstatt „Rindfleisch“. Und:
„Trotz dieser Hürden gilt künstlich gezüchtetes Fleisch als Milliardenmarkt. (…) Allein die jüngste Investmentrunde in *Memphis Meats zeigt, wie stark das Thema gerade boomt. Unter dem Markennamen ‚Clean Meat‘ produziert die Firma Fleisch, das nicht von lebendigen Tieren stammt. Bislang konnte Memphis Meats das Gewebe von Rindern, Hühnern und Enten nachahmen.*
Für die Herstellung werden Stammzellen von ausgewählten Tieren gesammelt. Danach werden die Zellen herausgefiltert, die sich selbst reproduzieren können und die den gewünschten Geschmack geben. Das fertige Fleisch könne nach vier bis sechs Wochen ‚geerntet‘ und verkocht werden.“
Auch Richard Branson betonte „das enorme Wachstumspotenzial von ‚Clean Meat‘. Der Milliardär sagte, dass er davon ausgehe, dass in 30 Jahren überhaupt keine Tiere mehr geschlachtet werden müssten, um die weltweite Nachfrage nach Fleisch zu stillen.“ Bill Gates selbst investiert in die beiden Fakefleisch-Hersteller Impossible Foods und Beyond Meat (5, 6, 7, 8, 9).
Die Ausgrenzung und Stigmatisierung nicht systemkonformer Menschen („Grüne Mauer“)
„Wenn es genug Impfstoff gibt und jeder sich impfen lassen kann, dann sollten privatwirtschaftliche Veranstalter auch die Möglichkeit haben, eine Impfung zur Zugangsvoraussetzung für Veranstaltungen zu machen“, sagte Eventim-Chef Klaus-Peter Schulenberg der Wirtschaftswoche. Das Unternehmen habe bereits seine Systeme so eingerichtet, dass diese auch Impfausweise lesen könnten.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat keinen grundsätzlichen Einwand gegen den Appell des Unternehmens und wies darauf hin, dass dies „grundsätzlich legitim wäre. (…) Es macht einen großen Unterschied, ob der Staat Grundrechte einschränken muss oder ob Private Angebote für bestimmte Personengruppen machen möchten“, sagte die SPD-Politikerin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Privatunternehmen dürften im Grundsatz selbst bestimmen, mit wem sie Geschäfte machen möchten. „Juristen sprechen hier vom Grundsatz der Privatautonomie. Wenn zum Beispiel die Restaurants wieder öffnen dürfen und ein Restaurantinhaber dann ein Angebot nur für Geimpfte machen möchte, wird man ihm dies nach geltender Rechtslage schwerlich untersagen können“, betonte die Justizministerin (10).
Die öffentliche Hinrichtung als mediale Vernichtung von Kritikern, gefeiert von systemkonformen Günstlingen
Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi, Ken Jebsen, Markus Haintz, Bodo Schiffmann und so weiter und sofort. Plus viele, viele weitere Unbekannte, die in Arbeitsstellen, Geschäften, Behörden, im Familien- und Freundeskreis, im Öffentlichen Personennahverkehr beschimpft, beleidigt, bedrängt wurden und berufliche wie persönliche Nachteile größten Ausmaßes erlitten haben.
Die Zwangsoperation von Erwachsenen und Kindern als Bild für den Umgang mit Unwilligen und die gegenwärtigen und geplanten Manipulationen an Menschen
— Impfungen und Transhumanismus —, die nur zu ihrem Besten seien und sie optimieren sollen (11, 12, 13).
Rosa Billetts als Bild für die Distanzierung ...
... und das Entemotionalisieren menschlicher Beziehungen.
Die Handlung
Der Plot des Romans soll hier nur sehr gerafft und verkürzt geschildert werden, um den hoffentlich kommenden zahlreichen Lesern nicht die Spannung zu nehmen.
D-503, der systemkonforme Konstrukteur des Raketenflugzeuges Integral lernt die Rebellin I-330 kennen. Er verliebt sich in sie — obwohl dieser Feind doch eigentlich im 200-jährigen Krieg geschlagen schien—, verfällt ihr gar, versucht noch, dagegen anzukämpfen, doch vergebens: „Da waren zwei Ich, das alte D-503, die Nummer D-503, und das andere… (…) Es gab kein rosa Billett mehr, keinerlei Berechnung, keinen Einzigen Staat mehr; (…) Ich will nur eins: I! Ich will, dass sie fortan immer bei mir ist, bei mir allein.“ Zusätzlich befindet sich D-503 auch noch in einem Dreiecksverhältnis mit der weiblichen Nummer O-90 — die in ihn verliebt ist und mit der er auf ihren Wunsch gegen das Gesetz ein Kind zeugt— und dem Staatsdichter R-13. Man bilde ein Dreieck, notiert D-503, „wenn auch kein gleichschenkeliges, so doch ein Dreieck. Wir sind (…) eine Familie. Und es tut wohl, für eine kleine Weile auszuruhen, sich in einem einfachen, starken Dreieck von allem abzuschließen.“ Durch die Liebe von D-503 zu I-330 zerbricht dieses Dreieck.
I-330 führt ihn durch geheime Tunnel im Innern des „Alten Hauses“ in die Welt jenseits der Grünen Mauer, wo D-503 die Bewohner dieser Außenwelt kennenlernt, aus deren Reihen die Rebellen, genannt „Mephi“, sich rekrutieren.
Am Tag der „Wahl“ des Diktators, dem „Tag der Einstimmigkeit“, kommt es zur Rebellion, an der sich auch D-503 beteiligt. Teile der Grünen Mauer werden eingerissen, Vögel bevölkern den Einzigen Staat, viele Nummern verhalten sich nicht mehr konform und versuchen sich der Großen Operation zu entziehen. Die Übernahme des Integral durch die Rebellen aber scheitert, was I-330 fälschlicherweise D-503 als Verrat unterstellt. Es scheint, dass ihre Leidenschaft nur simuliert war, da es sich bei ihm um den Konstrukteur handelt und sie sich der enormen Wichtigkeit des Raketenflugzeuges bewusst war:
„Ich weiß, dass der Integral morgen zu einem Probeflug startet. Wir werden ihn in die Hand bekommen. (…) Der Integral ist unsere Waffe, mit deren Hilfe wir allem mit einem Schlag ein Ende machen können.“
Was mit D-503 und I-330 geschieht, sei hier verschwiegen. Nur so viel: D-503 wird zum Wohltäter zitiert, der ihm sagt:
„Worum haben die Menschen von Kindesbeinen an gebetet, wovon haben sie geträumt, womit haben sie sich gequält? Dass irgendeiner ihnen ein für alle Mal sage, was das Glück ist und sie mit einer Kette an dieses Glück schmiede. Und ist dies nicht gerade das, was wir tun? Der uralte Traum vom Paradies …“
Wir entwickelt eine effektvolle Dynamik und im beständigen inneren Monolog von D-503 gelingt es Samjatin auf beeindruckende Weise, die innere Zerrissenheit des Erzählers zwischen seiner extremen Identifizierung mit dem Einzigen Staat und seiner leidenschaftlichen Liebe zu I-330 darzustellen. Zusätzlich konstruiert er mit dem Dreiecksverhältnis zwischen ihm und O-90 sowie R-13 eine komplexe Situation.
Samjatins Werk enthält zahlreiche Anspielungen: So vielfach auf „Frederick Winslow Taylors damals modischem System bürokratischer industrieller Effizienz, dessen Taylorismus damals von den Sowjets als Teil ihres neuen industriellen Modells des Kommunismus nachgeahmt wurde“, wie Michael Grossberg in seiner oben erwähnten Laudatio schreibt. Auch Bezüge zur Bibel — das Paradies, Adam und Eva, die Schlange und Mephistopheles (Rebellengruppe „Meph“) — zur Mathematik, zu H. G. Wells und Wassily Kandinsky sind zu erkennen.
Der Roman lässt das Überleben des Einzigen Staates offen, da es nach dem Aufstand in einigen Vierteln noch „Chaos, Gebrüll, Leichen, Tiere und leider auch eine bedeutende Zahl von Nummern, die die Vernunft verraten haben“, gibt. Hoffnung im Zuge der gegenwärtigen „Revolution“ macht ein Dialog — hier etwas gekürzt — zwischen D-503 und I-330, den auch George Orwell in seiner Rezension zitierte mit der Einschätzung, allein diese Zeilen hätten genügt, um Wir in Russland mit einem Publikationsverbot zu belegen.
D-503 fragt:
„Ist dir nicht klar, dass das, was du da planst, eine Revolution ist?“
„Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahnsinn sein?“
„Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben.“
„Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist ein Philosoph. Bitte nenn mir die letzte Zahl.“
„Was meinst du damit? Ich … ich verstehe nicht, welche letzte Zahl?“
„Nun, die letzte, höchste, die allergrößte Zahl.“
„Aber I, das ist ja alles dummes Zeug. Die Anzahl der Zahlen ist doch unendlich. Was für eine letzte Zahl willst du also?“
„Und was für eine letzte Revolution willst du? Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich.“
Lieferbarkeit und Ausgaben von Wir
Bedauerlicherweise wurde Samjatins Wir von den großen Verlagen wie Kiepenheuer & Witsch oder Heyne nicht wieder aufgelegt, sodass das Werk in diesen Ausgaben nur noch antiquarisch bei den üblichen Verdächtigen wie ZVAB, Booklooker, Ebay, Amazon Marketplace, Abebooks zu finden ist.
Wer bereit ist, einen etwas größeren Betrag zu investieren, dem sei zur Ausgabe der Manesse Bibliothek der Weltliteratur geraten oder noch lieber zur ausnehmend schönen bibliophilen Version der Büchergilde Gutenberg, gedruckt auf edlem Daunendruckpapier, welche zusätzlich Samjatins Essay „Über die Literatur und die Revolution“ umfasst. All diese Editionen enthalten die ausgezeichnete Übersetzung von Gisela Drohla.
Wer eine neue, unbenutzte Ausgabe bevorzugt, dem ist diese Großdruck-Ausgabe (CreateSpace Independent Publishing Platform) — allerdings auch mit nicht ganz einwandfreiem Satz und grässlichem Cover im Fantasy-Esoterik-Stil — zu empfehlen, die ebenfalls Drohlas Übersetzung verwendet.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Schwab, Klaus/Malleret, Thierry: COVID-19: Der große Umbruch. Forum Publishing, 2020.
(2) https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-krise-wir-brauchen-eine-weltregierung-a-058a25cf-646a-466f-a969-7a40a517feb0
(3) https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bill-gates-im-interview-den-taeglichen-tod-nehmen-wir-nicht-wahr-1.2324164
(4) https://en.wikipedia.org/wiki/Billionaire_space_race
(5) https://futurezone.at/digital-life/bill-gates-wir-sollten-nur-noch-kuenstliches-fleisch-essen/401188624
(6) https://www.techandnature.com/bill-gates-investiert-in-labor-fleisch-aus-tierzellen/
(7) https://www.businessinsider.de/tech/bill-gates-investiert-in-startup-das-kuenstliches-fleich-herstellt-2017-8/
(8) https://www.youtube.com/watch?v=ZhO60j7XsQc
(9) https://observer.com/2019/12/bill-gates-foundation-sold-beyond-meat-stock-third-quarter-before-market-crash/
(10) https://www.stimme.de/deutschland-welt/politik/dw/mehr-moeglichkeiten-fuer-geimpfte-unternehmen-facht-debatte-neu-an;art295,4446005
(11) https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/transhumanismus-die-cyborgisierung-des-menschen/
(12) https://www.sueddeutsche.de/wissen/verbesserte-menschen-die-vielleicht-gefaehrlichste-idee-der-welt-1.1691220-2
(13) https://www.karger.com/Article/FullText/510358
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