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Generation Weltflucht

Generation Weltflucht

Junge Menschen werden in der smartphonebasierten Welt sich selbst überlassen und in der realen überbehütet. Die Folge ist ein Lebensgefühl der Verzagtheit.

Jonathan Haidts Sachbuch ist in klarer, gut verständlicher Sprache verfasst, hirnphysiologische Erkenntnisse, wissenschaftliche Untersuchungen und daraus hergeleitete Diagramme sind leicht fassbar dargestellt. Die in dem Buch vorgenommene sozialpsychologisch-wissenschaftliche Einordnung dessen, was viele schon lange hinsichtlich des exzessiven Gebrauchs von Smartphones ahnten, macht die Stärke dieses Buches aus. Allerdings bezieht sich Haidt hauptsächlich auf US-amerikanische Mittelschichtfamilien; eine Eins-zu-eins-Übertragung auf die Verfasstheit der deutschen Gesellschaft erscheint daher nicht angezeigt.

Haidt vertritt die These, dass durch den Gebrauch von Smartphones die Jugendlichen dazu verführt werden, viele Stunden online zu verbringen und deshalb nur noch wenig Zeit für körperlich-soziale Verhaltensweisen im echten Leben bleibt. Damit käme es im Gehirn von Kindern und Jugendlichen zu einer schädliche Neuverdrahtung. Der Übergang von einer „spielbasierten Kindheit“ auf eine „smartphonebasierte Kindheit“ habe in den späten 1980er Jahren begonnen. Dazu käme eine katastrophale Überbehütung der Kinder in der realen Welt, die auch in Überwachung umschlagen kann, wodurch die Autonomie in der wirklichen Welt massiv eingeschränkt werde.

Eine Flutwelle

Im ersten Teil belegt Haidt, wie sich die psychische Gesundheit von Teenagern im 21. Jahrhundert verschlechtert hat. Es sei zu einer Zunahme vor allem von Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen gekommen, wovon insbesondere Mädchen betroffen sind.

Die Einführung des Smartphones ab 2007 und die rasche Zunahme von Social-Media-Kanälen ab 2012 sind als wichtigste Wegmarken zu benennen, da von nun an das Internet und damit die sozialen Medien rund um die Uhr verfügbar waren. Zu dieser Zeit begannen laut internationalen Erhebungen die Teenager vermehrt unter Depressionen zu leiden; je intensiver die Nutzung, umso stärker das Leiden. Besonders betroffen waren Mädchen, doch zeige sich diese Entwicklung über sämtliche Bevölkerungsgruppen. Haidt belegt dies differenziert anhand vieler empirischer Studien und Grafiken.

Die Möglichkeit, fast ständig online zu sein, habe „eine historische und beispiellose Transformation der menschlichen Kindheit“ zur Folge gehabt. Inzwischen sei eine Generation herangewachsen, die ihre gesamte Pubertät hauptsächlich in der virtuellen Welt verbrachte.

Der Niedergang der spielbasierten Kindheit

Im zweiten Teil beschäftigt sich Haidt mit der wachsenden elterlichen Ängstlichkeit und Überbehütung. Die Adoleszenz als eine Art „kultureller Lehrzeit, bevor man als Erwachsener angesehen und behandelt wird“, habe ausgedient, stattdessen würden Kinder in eine virtuelle Welt gelockt. Es fehle an freiem Spiel, an körperlichem Spiel, an einem gewissen Maß an körperlichem Risiko. Denn: „Erfahrungen, und nicht Information, sind der Schlüssel zur emotionalen Entwicklung.“ Smartphones dienten dabei bedauerlicherweise als „Erfahrungsblocker“. Es sei eine große „Neuverdrahtung“ der Kindheit zwischen 2010 und 2015 aus der wirklichen in die virtuelle Welt erfolgt, da es an physischer Interaktion als tiefer Teil der menschlichen Evolution fehle, und dies führe zu einem Gefühl der Einsamkeit. Es gebe eine sensible Phase zwischen neun und fünfzehn Jahren für kulturelles Lernen, dessen Zeitfenster sich dann schließt. Gerade die Pubertät sei damit die sensibelste Phase für den schädigenden Einfluss von sozialen Medien.

„In gewissem Sinne wird den Kindern ihre Kindheit geraubt“, indem sie während einer smartphonebasierten Kindheit vom „Entdeckermodus“ immer mehr in einen „Verteidigungsmodus“ gedrängt und dadurch ängstlicher werden. Der Aufbau eines „psychischen Immunsystems“ — das heißt, der Fähigkeit des Kindes, mit Frustrationen und kleineren Blessuren, Ungerechtigkeiten und Konflikten umzugehen — werde durch Überbehütung geblockt. Dabei bräuchten Kinder für eine gesunde Entwicklung und um im Entdeckermodus zu bleiben, auch etwas riskantere Spiele, Abenteuer und Nervenkitzel. Dagegen stehe seit den 1980er Jahren „die wachsende Furcht von Eltern, jeder und alles sei eine Gefahr für ihre Kinder“. Sicherheit sei „zu einer heiligen Kuh“ geworden, es habe sich ein „Sicherheitskult“ entwickelt; dabei sei es kein Zeichen von Vernachlässigung, sondern ein Zeichen von Vertrauen, wenn einem Kind angemessene Unabhängigkeit gewährt wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass „bereits im Alter von fünf Jahren das Gehirn 90 Prozent seiner späteren Größe“ erreicht und dabei über sehr viel mehr Neuronen und Synapsen verfügt als im Erwachsenenalter. Dies heißt, es ist sehr viel Potential da, das aber nur erhalten bleibt, wenn es genutzt wird; ansonsten bildet es sich wieder zurück. Gleichzeitig wird das kindliche Gehirn fortschreitend effizienter, da sich die Weiterleitung von Signalen beschleunigt. All dies geschieht innerhalb bestimmter Zeitfenster.

Erfahrungen sammeln ist also besonders in der Kinder- und Jugendzeit wichtig, doch hier bildeten der Sicherheitskult im Zusammenspiel mit dem Smartphone geradezu „Erfahrungsblocker“, insbesondere weil die elektronischen Geräte die meisten anderen Aktivitäten verdrängen.

Daneben seien Social-Media-Plattformen mit ihren Rückkoppelungsschleifen zur sozialen Bewertung „die effizientesten Konformitätsmaschinen, die jemals erfunden wurden“ — denen vor allem weibliche Teenager aufsitzen.

Der Aufstieg der smartphonebasierten Kindheit

Im dritten Teil erklärt Haidt, wie durch die smartphonebasierte Kindheit die Entwicklung durch Schlafmangel, soziale Deprivation, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Suchtverhalten gestört wird. Er will dabei empirisch aufzeigen, dass die Nutzung sozialer Medien nicht nur mit psychischen Erkrankungen korreliert, sondern diese verursacht. Junge Menschen würden den Übergang von der Adoleszenz in ein von Verantwortung bestimmtes Erwachsenenleben nicht mehr schaffen.

Das Sozialleben der Generation Z habe sich verändert in dem Sinne, dass die Verbindung mit jedermann weltweit hergestellt werden könne, während sich die Jugend von den Menschen im direkten Umfeld isoliere.

Für eine gesunde Gehirnentwicklung bei Jugendlichen ist viel Schlaf nötig. Leider gebe es eine statisch nachweisbare Korrelation zwischen einer starken Nutzung von sozialen Medien und schlechtem Schlaf sowie zwischen einer starken Nutzung von sozialen Medien und psychischen Problemen.

Jeder weiß, wie sehr permanentes Aufploppen des Signals für neuangekommene Nachrichten auf dem Smartphone eine konzentrierte Aufmerksamkeit stört. In ständiger Wiederholung führe dies zu Zerstreutheit und Abschweifen. Wenig überraschend auch die Erkenntnis, dass übermäßiger Konsum der neuen Medien Abhängigkeiten und Suchtverhalten zur Folge haben kann, verstärkt durch die Möglichkeiten der „Likes“ und des „Teilens“, das zu vermehrter Dopaminausschüttung als Belohnung beziehungsweise bei dessen Fehlen zu Entzugserscheinungen führen kann.

Ab 2013 sei eine starke Zunahme psychischer Probleme, insbesondere von Depressionen, Angststörungen und Selbstverletzungen, zunächst bei Mädchen, zu beobachten gewesen. Haidt vermutet, dies sei auf unvorteilhafte Vergleiche zurückzuführen, die mit anderen Benutzern von Facebook, Instagram und ähnlichen Social-Media-Seiten gezogen werden. Mädchen seien erheblich stärker von sozialen Vergleichen und Perfektionismus betroffen, insbesondere was ihr Aussehen betrifft. Und Mädchen seien stärker durch Cybermobbing verletzbar. Depressionen seien „definitiv ansteckender als Glück oder eine gute psychische Gesundheit“, insbesondere für Mädchen. Ein deutsches Forscherteam schlug hierfür den Begriff „durch soziale Medien induzierte Massenerkrankung“ vor. Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang, dass sich in der Generation Z das Geschlechterverhältnis von Personen, die wegen Genderdysphorie in Kliniken eingewiesen wurden — und wovon in früheren Zeiten vor allem männliche Teenager betroffen waren —, umgekehrt hat.

Laut Haidt lockten die sozialen Medien junge Menschen in eine Falle. Zwar steige bei der Generation Z die Zahl der Beziehungen im Internet, dafür falle die Zahl der engen Freunde ab: Quantität gehe vor Qualität.

Weniger gut belegt ist, was sich in den Gehirnen von Jungen abspielt. Haidt vermutet, dass sich Jungen immer mehr aus der realen Welt zurückziehen, um „ihre Zeit und ihre Fertigkeiten stattdessen in die virtuelle Welt“ zu verlegen, und sie somit weniger Kompetenzen für die reale Welt entwickeln. Daten zeigten, „dass wir heute in einer Welt der strauchelnden jungen Männer leben“. Jungen, die sich im Cyberspace verloren haben, waren „auf der Erde fragiler, ängstlicher und weniger risikofreudig“. Dies führe dazu, dass immer mehr angeben, keine guten Freunde zu haben, einsam zu sein und dass ihr Leben keinen Sinn und Zweck habe. Eine zu gut überwachte Welt mit zu wenig Risiken sei für Jungen schwerwiegender als für Mädchen.

Jungs sind brav geworden und stellen keinen Unfug mehr an — nicht unbedingt zum Vorteil ihrer psychischen Entwicklung.

Was suchen Jungs im Internet? Insbesondere Videospiele und Pornographie seien hier zu nennen. Letztere eröffne den Weg zu einer schnellen und einfachen Befriedigung mit perfekten Menschen, ohne die Mühen des Aufbaus zwischenmenschlicher Beziehungen. Videospiele hingegen könnten bezüglich Geschicklichkeit von Nutzen sein, sie verschlingen aber enorm viel Zeit, die andernorts fehlt, und es besteht die Gefahr der Abhängigkeit. Die Auseinandersetzung mit Risiken und Gefahren in der realen Welt fehle, so dass sich nur schwer Eigenverantwortlichkeit entwickeln ließe.

„Jungen wie Mädchen der Generation Z wurden im Laufe der Großen Neuverdrahtung einsamer“, auch wenn beide Geschlechter dabei unterschiedliche Wege gingen. Jungen sind im Alter von vierzehn/fünfzehn Jahren, Mädchen von elf bis dreizehn Jahren am empfindlichsten für eine Schädigung durch soziale Medien.

Und nicht zuletzt macht Haidt darauf aufmerksam, dass ein smartphonebasiertes Leben eine spirituelle Degradierung erzeuge, „indem es sechs spirituelle Praktiken blockiert oder hemmt: gemeinschaftliches Empfinden von Heiligkeit; Embodiment; Innehalten, Schweigen und Fokussierung; Selbsttranszendenz; Nachsicht mit anderen sowie Ehrfurcht vor beziehungsweise in der Natur“.

Gemeinsam für eine gesündere Kindheit

Im vierten Teil des Buches geht es um praktische Vorschläge, insbesondere für Eltern und Schulen, die jedoch stark auf wohlsituierte Mittelstandsfamilien in den USA abzielen und nur beschränkt auf unsere hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen werden können. Sicherlich als sinnvoll können folgende Ratschläge von Haidt bewertet werden: kein Smartphone vor einem Alter von 14 Jahren, keine sozialen Medien vor dem 16. Lebensjahr, smartphonefreie Schulen und weniger Überwachung der Kinder im echten Leben.

„Um den Wettlauf in die Tiefen des Hirnstamms“ zu beenden, will Haidt auch Regierungen und Tech-Unternehmen in die Pflicht nehmen.

Weiterführende Informationen bietet Jonathan Haidt auf seiner Internetseite: www.afterbabel.com

Jonathan Haidt ist Professor für Sozialpsychologie an der New York University mit den Forschungsschwerpunkten psychische Grundlagen von Moral, moralische Emotionen und Moralvorstellungen verschiedener Kulturen. In den USA avancierte sein neues Buch „Generation Angst“ zum Bestseller.

Fazit

Jonathan Haidt verallgemeinert in seinem Buch vielleicht zu sehr, zeigt Trends auf, die sich in einer gutsituierten, US-amerikanischen Mittelschicht abzeichnen. So erscheint es bei uns kaum denkbar, dass Eltern das Sorgerecht entzogen wird, weil ein minderjähriges Kind unbegleitet bestimmte Wege zurücklegt. Nichtsdestotrotz sollten die bisherigen Erkenntnisse über die Folgen des unbedachten Umgangs mit Smartphones und sozialen Medien von Kindern und Jugendlichen aufrütteln. Die von Haidt aufgezeigte Überbehütung im realen Leben bei gleichzeitiger digitaler Verwahrlosung könnte in eine Gesellschaft von verantwortungslosen Individuen und Feiglingen münden. Dazu kommt das Schüren von ständiger Angst durch Politik und Medien: Angst vor Viren und Krankheiten, vor dem Klimawandel, sogar vor Mückenstichen und heißen Sommertagen. Als Turboschub diente dabei die Corona-Zeit: Digitalisierung der Schulen und Social Distancing in Verbindung mit Todesangst.

Es mag sein, dass sich die politisch Verantwortlichen eine Gesellschaft voller isolierter, ängstlicher und somit beliebig steuerbarer Individuen erträumen. Diese Rechnung könnte allerdings nicht aufgehen, nämlich dann, wenn Angst in Panik und Einsamkeit in Depression umschlägt.

Die ersehnte Kontrolle über das Verhalten von Menschen, die funktionsunfähig sind, könnte nicht nur entgleiten, sondern wäre sinnlos.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Generation Z: vernachlässigt in der smartphonebasierten Welt — überbehütet in der realen Welt“ auf gela-news.de.



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