Der Ablauf des Abschiebeverfahrens von Sami A.
Es ist schon bedenklich, dass Behörden eine Abschiebung anordnen, wenn für den Abgeschobenen Folter droht. Doch noch zerstörerischer für den Rechtsstaat ist, wenn Politik und Behörden im Abschiebeverfahren jeglichen Respekt gegenüber der dritten Gewalt, den Gerichten, vermissen lassen. Dies war bei der Abschiebung von Sami A. der Fall. Die zuständigen Behörden haben durch Täuschungsmanöver eine zu erwartende unliebsame Gerichtsentscheidung bewusst ins Leere laufen lassen. Dadurch wurde der vom Grundgesetz verbürgte (Artikel 19 Absatz 4) und mit „Ewigkeitsgarantie“ ausgestattete (Artikel 79 Absatz 3) gerichtliche Rechtsschutz unterlaufen.
Der Präsident des für Sami A. zuständigen Verwaltungsgerichts (VG) Gelsenkirchen hat auf der Homepage des Gerichts den zeitlichen Ablauf der gerichtlichen Verfahren dokumentiert. Eine ergänzende Chronik findet sich auf Spiegel Online.
Aus den Gerichtsakten ergibt sich eindeutig, dass die Gelsenkirchener Verwaltungsrichter unter allen Umständen verhindern wollten, dass im Abschiebungsverfahren „vollendete Tatsachen“ geschaffen werden. Deshalb forderten sie das BAMF als zuständige Behörde auf, eine verbindliche Zusage abzugeben, dass vor der anstehenden Gerichtsentscheidung keine Abschiebungsmaßnahmen eingeleitet werden (sogenannte „Stillhaltezusage“); andernfalls behalte sich das Gericht vor, eine vorläufige Entscheidung (sogenannter „Hängebeschluss“) zu fällen.
Hierauf teilte das BAMF dem VG am 12. Juli mit, dass die Flugbuchung für diesen Tag storniert worden sei. Angesichts dieser Mitteilung konnten die Richter davon ausgehen, dass vor ihrer Entscheidung keine Abschiebung erfolgen wird. Sie berieten noch am Abend desselben Tages über den Rechtsschutzantrag des Sami A. und verfügten, dass dieser wegen drohender Folter nicht abgeschoben werden darf. Sie hinterlegten den 22-seitigen Beschluss um 19:20 Uhr in der – zu dieser Zeit nicht mehr besetzten – Geschäftsstelle des Gerichts.
In den frühen Morgenstunden des 13. Juli holte die nordrheinwestfälische Landespolizei Sami A. aus der Abschiebehaftanstalt und fuhr ihn zum Flughafen Düsseldorf. Dort nahmen ihn Bundespolizisten um 05:05 Uhr in Empfang und brachten ihn zum wartenden Flugzeug. Als der Gerichtsbeschluss am nächsten Morgen kurz nach 08:00 Uhr den Behörden per Fax übermittelt wurde, war das Flugzeug mit Sami A. bereits seit mehr als einer Stunde Richtung Tunis unterwegs.
In der Folge erfuhren die Richter durch Pressemeldungen von der nächtlichen Aktion. Sie versuchten umgehend, die Auslieferung des Sami A. an die tunesischen Behörden im letzten Moment zu verhindern. Eine Richterin wies die Ausländerbehörde um 09:25 Uhr darauf hin, „dass der Antragsteller – sollte er sich derzeit noch im Transitbereich des Zielflughafens befinden – zurückzufliegen sei“. Die Behörde erklärte lapidar, sie habe „keine Kenntnis von den Flugdaten“.
Das VG verlautbarte sodann, dass die Abschiebung „grob rechtswidrig“ sei und dass sich die Richter von den Behörden getäuscht fühlten. Der Gerichtssprecher sagte, hier sei der Rechtsstaat vorgeführt worden. Bei Verlegung von Flugterminen sei es nämlich üblich, den neuen Termin mitzuteilen. Es dränge sich deshalb der Eindruck auf, dass das BAMF geschwiegen habe, weil man befürchtet habe, das Gericht würde sofort einen Hängebeschluss erlassen.
Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes kommentierte: „Es ist für das Vertrauen in den Rechtsstaat schädlich, wenn Behörden den Eindruck vermitteln, sie versuchten unliebsame Gerichtsentscheidungen zu umgehen.“
Ich selbst war ein Vierteljahrhundert Verwaltungsrichter. Ein vergleichbar trickreiches Behördenhandeln wie im Fall Sami A. ist mir in all diesen Jahren nicht begegnet.
Der „Gefährder“ Sami A.
Sami A. gilt in der politischen und medialen Darstellung als Gefährder. Große Teile der Öffentlichkeit wundern sich deshalb, dass seine Abschiebung unzulässig sein soll. Es verstehe sich doch von selbst, dass „so einer“ kein Asylrecht beanspruchen könne und schleunigst außer Landes gebracht werden müsse. Die Äußerung von Ministerpräsident Armin Laschet, „(…) im Ergebnis können wir froh sein, dass der Gefährder nicht mehr in Deutschland ist“, macht sich dieses weit verbreitete Bauchgefühl zunutze. Wer so populistisch argumentiert wie Laschet, bedient sich der Denkmuster rechtsradikaler Politiker. Das ist fatal. Denn beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass die Fakten und die Rechtslage keineswegs so eindeutig sind, wie die vielen Laschets an den Stammtischen glauben machen wollen.
Tatsache ist, dass der Tunesier Sami A. 1997 mit einem Studentenvisum nach Deutschland kam und seinen Wohnsitz zunächst in Köln, später in Bochum nahm. Deutsche Ermittler gehen davon aus, dass sich Sami A. 1999 für einige Monate im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten und nach einer militärischen Ausbildung der Leibgarde des Al-Qaida-Führers Osama bin Laden angehört habe.
Sami A. bestreitet, jemals ein Terrorcamp besucht zu haben. Vielmehr will er eine religiöse Ausbildung in Pakistan absolviert haben. Die Beweislage ist unklar. Ab 2000 soll sich Sami A. laut Sicherheitsbehörden im salafistischen Milieu bewegt haben und als Prediger aufgetreten sein. 2006 ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das Verfahren wurde jedoch 2007 eingestellt, „weil die Ermittlungen den Tatverdacht nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit erhärten konnten“.
Angesichts dieser Vorgeschichte lässt sich trefflich darüber streiten, ob Sami A. als „Gefährder“ eingestuft werden kann und – wenn ja – ob er dann ohne weiteres abgeschoben werden kann.
Nach Paragraph 60 Absatz 2 AufenthG und Paragraph 4 Absatz 1 Nummer 2 AsylG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm Folter droht. Dies gilt auch für Personen, die eine „besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ darstellen (Paragraph58 a Absatz 3 AufenthG). Bemerkenswert ist, dass das Gesetz den Begriff „Gefährder“ nicht kennt. Die Bundesregierung hat eingeräumt, dass dieser Begriff nur durch Beschlüsse der Innenministerkonferenz definiert ist.
Das VG hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass der von den Behörden als „Gefährder“ eingestufte Sami A. nicht abgeschoben werden dürfe, weil ihm in Tunesien Folter drohe. Es liege nämlich keine „diplomatisch verbindliche Zusicherung der tunesischen Regierung“ vor, dass eine Folterung unterbleibe. Gegen diese Entscheidung des VG ist eine Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht anhängig.
Die Politik
Die beteiligten Behörden haben im bisherigen Abschiebeverfahren eine unrühmliche Rolle gespielt. Bedauerlicherweise hat sich die Politik diesem Niveau angepasst. Es zeigt sich eine Mischung aus Nichtwissen, Vernebelung, fachlicher Inkompetenz und Verschiebung der Verantwortung auf andere.
Bundesinnenminister Horst Seehofer betonte, er habe von der womöglich rechtswidrigen Abschiebung des Sami A. im Vorhinein nichts gewusst: „Dann bin ich informiert worden nach dem Starten des Flugzeugs.“ Ein anderes Mal sagte der Minister, er könne sich nicht erinnern, vom Termin der bevorstehenden Abschiebung gewusst zu haben.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung (SZ) war Seehofer persönlich über die Pläne zur Abschiebung des mutmaßlichen Islamisten Sami A. nach Tunesien informiert. Die Informationen über ein entsprechendes Vorhaben der Bundespolizei „lagen auch dem Minister“ vor, sagte eine Ministeriumssprecherin. Ihm seien auch alternative, spätere Rückführungstermine mitgeteilt worden. Verantwortlich für die Durchführung der Abschiebung sei aber nicht der Bund, sondern das Land Nordrhein-Westfalen.
Seehofer habe keinen Druck auf Behörden ausgeübt, um die Abschiebung zu beschleunigen. „Ihm war wichtig, dass eine Rückführung von Sami A. zeitnah erfolgt“. Bedrängt habe Seehofer die Behörden aber nicht: „Es gab keinerlei Einflussnahmen auf einzelne Verfahrensschritte.“
Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wusste das Bundesinnenministerium, dem das BAMF untersteht, seit Mittwoch, dass die Abschiebung für Freitag geplant war. Aufgrund von Informationen der Bundespolizei sei bekannt gewesen, „dass es Planungen für eine Rückführung am Freitag, dem 13. Juli 2018, von Sami A.“ gab, zitierte die Zeitung eine Sprecherin des Ministeriums.
Juristische Rechtfertigungsversuche
Bemerkenswert ist, dass das Innenministerium die Abschiebeanordnung für rechtmäßig hält, weil noch kein anderslautender Gerichtsbeschluss vorgelegen habe. Wäre der Beschluss bekannt gewesen – so das Ministerium –, hätte die Abschiebung nicht erfolgen dürfen. Dies deckt sich mit einer Äußerung von Ministerpräsident Armin Laschet: „Wir als Politiker haben nach Recht und Gesetz zu entscheiden. (…) Sie wissen, wann der Bescheid eingegangen ist, nämlich zu spät“.
Ähnlich äußerte sich der nordrheinwestfälische Flüchtlingsminister Joachim Stamp: „Der Gelsenkirchener Entscheid sei zu diesem Zeitpunkt in Düsseldorf unbekannt und also nicht rechtswirksam gewesen, erst per Verkündung gelte das Wort der Richter“.
Formal ist das richtig: Gerichtliche Entscheidungen werden erst durch Verkündung oder Zustellung wirksam.
Die Frage ist jedoch: Können sich Politik und Verwaltung auf die Verspätung berufen, wenn sie selbst mit unlauteren Methoden dafür gesorgt haben, dass das Gericht nicht rechtzeitig entscheiden konnte?
Mit den Argumentationsmustern von Seehofer, Laschet und Stamp versuchen manche Winkeladvokaten eine verbotene Amtshandlung zu rechtfertigen. Doch dürfen das auch veritable Minister? Nun, weder Seehofer (nach seiner Selbsteinschätzung „Erfahrungsjurist“) noch Stamp sind Juristen, Laschet hat zumindest das erste juristische Staatsexamen abgelegt. Aber entlastet sie das? Nein, denn sie haben den geballten juristischen Sachverstand ihrer Ministerien im Hintergrund. Und abgesehen davon: Es gibt noch so etwas wie Anstand und Redlichkeit.
Die Verhaltensweise der Minister erinnert an einen trickreichen Vermieter, der am letzten Tag der Kündigungsfrist seinen Briefkasten verschließt, um seinem Mieter am nächsten Tag hämisch grinsend zu eröffnen, seine Kündigung sei unwirksam, weil sie nicht rechtzeitig eingegangen ist. Oder an einen Straßenhändler, der einem Kunden Blüten als Wechselgeld herausgibt und beim nächsten Einkauf sagt, mit deinem Falschgeld kannst du bei mir nicht bezahlen.
Zusammenfassung
Wir müssen aufpassen. Es verändert sich etwas in unserem Land. Schleichend, toxisch und ansteckend. Die jahrelange Flüchtlingshetze trägt Früchte. Abstruse Angst- und Überforderungsgefühle breiten sich aus. Rechtsstaatliche Standards verlieren an Überzeugungskraft. Motto: Allein entscheidend ist, was hinten rauskommt.
Es ist beklemmend, wenn der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, im Brustton der Überzeugung verkündet: „Es kann nicht sein, dass sich sämtliche Parlamente und Sicherheitsbehörden vor einem Verwaltungsgericht aus NRW wegducken.“ Wegducken?! Was steckt da für ein Staatsverständnis dahinter? Das ist ein unverblümter Aufruf zum Verfassungsbruch. Ich habe nicht vernommen, dass sich ein Minister dagegen verwahrt hat.
Beklemmend ist auch, wenn sich selbst Träger hoher Staatsämter immer weniger scheuen, zu unwürdigen Tricks zu greifen. Entweder sind sie zu Zynikern der Macht verkommen oder diese Leute haben ihren Laden nicht im Griff. Eines so schlimm wie das andere.
Ich glaube, der Rechtsstaat ist durch die Umstände der Abschiebung von Sami A. nach Tunesien beschädigt worden. Und wer den Rechtsstaat beschädigt und verhöhnt, legt die Axt an die Grundfesten unseres Staates.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.