Ist es richtig, dass der Staat oder Behörden den Menschen Vorgaben hinsichtlich der eigenen Lebensgestaltung machen können, wenn es um die Eingrenzung einer Pandemie geht? Das kann man einerseits juristisch bewerten und prüfen, ob es mit den Gesetzen im Einklang steht.
Mich interessiert jedoch viel mehr die gesellschaftliche Betrachtung. Denn eines sollte jeder Leser wissen: Es gibt kein Null-Risiko, und es wird auch nie ein Null-Risiko im Leben geben. Nicht bei COVID-19, und auch nicht bei anderen Lebensrisiken wie der Wahl der Transportmittel (Flugzeug, Auto, Fahrrad), der Wahl der Nahrungsmittel (Bio- oder konventionelle Lebensmittel; viel oder wenig Zucker), der Wahl des Sports (Halma oder Bergsteigen) oder der Wahl der Reiseziele (Lüneburger Heide oder Malaria-Endemiegebiet). Selbst ein risikoarmer Lebensstil ist nicht ohne Risiko, auch wenn noch so viele Handschuhe und Gesichtsmasken getragen werden.
Dabei steht es den Menschen normalerweise frei, selber über das Risiko zu entscheiden, dass sie bereit sind einzugehen. Vor Operationen oder gravierenden Behandlungen wie eine Knochenmarktransplantation gibt es ein aufklärendes Gespräch, in dem der erwartete Nutzen der Behandlung, aber auch die möglichen Risiken erläutert werden, sodass der Patient selber entscheiden kann, ob das Risiko im Vergleich zu dem erwarteten Nutzen als tragbar bewertet wird.
Das Gleiche gilt für Geldanlagen mit sehr unterschiedlichen Risiken hinsichtlich Rendite und Verlust. Die Mehrzahl dieser Beispiele wie die Art der Ernährung, das Reiseziel oder die Geldanlage beschreibt das Risiko für die Person selbst. Wenn ich jedoch durch mein Verhalten Dritte gefährden kann, ist die Situation anders zu bewerten. Das Autofahren mag ein solches Beispiel sein. Durch achtsames Fahren kann ich das Risiko für mich und andere niedrig halten. Und doch passieren immer wieder Unfälle mit Verletzungs- und Todesfolge, die trotz aller Achtsamkeit passieren. Eine allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h auf allen Straßen wurde jedoch bislang nicht durchgesetzt, obwohl zahlreiche Todesfälle dadurch vermutlich vermieden würden.
Isolation im Pflegeheim
In Alten- und Pflegeheimen wurden von den Gesundheitsämtern zum Schutz der Bewohner vor COVID-19 restriktive Maßnahmen ergriffen. Der Zugang wurde drastisch eingeschränkt, auch für Angehörige. Die Maßnahmen sind einerseits verständlich, denn ältere Mitmenschen mit mehreren, teils schweren Grundkrankheiten, haben ein deutlich höheres Risiko für eine schwere Infektion und das Versterben an dieser Infektion. Doch was denken die Betroffenen darüber? Eine Bewohnerin aus Berlin wird in der Presse zitiert (1):
„Das Schlimmste ist gar nicht die Einsamkeit. Es ist nicht das Verbot, mit dem Rollstuhl in den Garten zu fahren, wo die Frühlingssonne scheint. Es ist nicht die Stille und nicht die Menschenleere auf den Fluren und schon gar nicht die Angst vor dieser vermaledeiten Seuche. Es ist die Tatsache, dass niemand sie gefragt hat. ‚Ich weiß ja, dass ich nicht mehr lange zu leben habe‘, sagt sie. ‚Das ist nicht schlimm. Aber niemand hat mich gefragt, ob ich meine letzte Lebenszeit so verbringen will. Das ist kein Schutz. Das ist eine Qual.‘“
An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Anordnung bestimmter Maßnahmen (zum Beispiel die eigenen Kinder oder Enkelkinder nicht mehr sehen zu dürfen) mit dem Selbstbestimmungsrecht der eigenen Lebensgestaltung kaum in Einklang zu bringen ist. Was würden die Heimbewohner sagen, wenn man sie fragen würde, ob sie lieber ihre Lieben sehen würden mit der Gefahr, an COVID-19 zu erkranken oder sogar zu versterben, oder ob sie lieber das Risiko einer Infektion durch die Kontaktsperre reduzieren wollen, aber in der Folge ihre Lieben über Wochen oder eventuell Monate nicht sehen können? Ich habe lediglich eine Vermutung, wie die Mehrzahl dieser Mitmenschen wohl denken würde.
Die persönliche Autonomie als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst sogar ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
So führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 25. Februar 2020 aus (2):
„Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Ist es dann nicht auch möglich, den älteren Mitmenschen das Recht zu gewähren, entsprechend ihrem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit Besuche durch ihre Lieben zu ermöglichen, eventuell mit ausgewählten Schutzmaßnahmen, wenn sie sich des Risikos bewusst sind und es akzeptieren?
Die 78-jährige Präses der Synode der evangelischen Kirche, Dr. Irmgard Schwaetzer, schrieb dazu: Sie ertrage die wohlmeinende Bevormundung nicht mehr, wenn über den Schutz von Risikogruppen gesprochen werde (3).
„Aus dem ‚wir müssen sie doch schützen‘ entsteht ein Erwartungsdruck, der auch noch von Angst getrieben wird, und der bei vielen letztlich in die Selbstisolation führt. Aber wie viele andere in meinem Alter auch kann und möchte ich selbst für mich Verantwortung übernehmen, möchte selbst entscheiden, wie viel Risiko ich eingehe.“
Begegnungen mit Familie und Freunden
Seit dem 2. April 2020 gilt auch in Hamburg ein Kontaktverbot, das nicht-öffentliche Versammlungen und Feierlichkeiten untersagt (4). Ein Treffen mit Freunden oder Nachbarn ist somit verboten. Doch warum mischt sich der Staat hier überhaupt in das Privatleben der Menschen ein?
In den letzten Jahren, auch während der vergleichsweise starken Grippewelle zwischen 2017 und 2018 mit etwa 25.100 Toten allein in Deutschland, gab es keine Einschränkungen von Grundrechten. Es fällt deshalb schwer zu verstehen, warum es bei COVID-19 nur mit behördlichen Anordnungen und Grundrechtseinschränkungen möglich sein soll, die starke Ausbreitung des Virus mit nachfolgend erwarteter, aber nicht eingetretener flächendeckender Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
Wenn es sogar ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt (2), ist es dann nicht naheliegend, den Menschen auch während einer Pandemie zu erlauben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für angemessen halten?
Hätte es nicht gereicht, wenn Staat und Medien nachvollziehbar erklären, welche Übertragungswege existieren und welche Maßnahmen wirklich schützen? Und es dann den Bürgern überlassen, ob sie wegen des Risikos auf Begegnungen verzichten oder ob sie das Risiko in Kauf nehmen? Oder man hätte sich von offizieller Seite auf die Maßnahmen beschränkt, bei denen ein hohes Übertragungsrisiko besteht und überlässt alle Lebensbereiche mit einem geringen Übertragungsrisiko der freien, aber informierten und aufgeklärten Entscheidung der Bürger. Da es ohnehin kein Null-Risiko gibt, würde dieser Weg dem Grundsatz des selbstbestimmten Lebens gerecht. Denn es wäre am Ende die bewusste Entscheidung eines jeden.
Beatmungstherapie
Nach Angaben des Palliativmediziners Dr. Matthias Thöns soll die ärztliche Behandlung grundsätzlich immer mehr nutzen als schaden (5). Er sagt:
„Da fragt man sich natürlich bei einer Erkrankung wie COVID-19, wenn diese schlimm verläuft, also zum Atemversagen führt, wie viele der Betroffenen, insbesondere der älteren Patienten, durch Maximaltherapie gerettet werden können, da so eine Intensivtherapie leidvoll ist. Nur ganz wenige Patienten der älteren multimorbiden Patienten könne man retten, von denen kommen nur wenige zurück in ihr altes Leben. Und eine große Zahl von denen, die man rettet, nach zwei bis drei Wochen Beatmung, verbleiben schwerstbehindert. Die meisten älteren Menschen lehnen deshalb diese Behandlung für sich ab.
Die Willensermittlung vor der Beatmung jedoch findet nur bei circa vier Prozent der Beatmeten statt. Kein Mensch muss heute mehr ersticken. Wir müssen also die Menschen nicht beatmen, damit sie nicht ersticken, sondern Palliativmedizin kann das sehr leidlos gestalten. Wir müssen Maßnahmen gegen die Einsamkeit machen, wir müssen die Leute jetzt fragen, was wollen sie denn, wollen sie überhaupt die Maximalmedizin? Es wäre doch viel besser, wenn man jetzt die Menschen fragt, statt in 14 Tagen, wenn die Welle kommt, auf einmal so eine Alterstriage wie in Italien oder Spanien einführen zu müssen. Das wäre doch eine Katastrophe.“
Auch in dieser Hinsicht wäre es so wichtig, mit den betroffenen Menschen zu sprechen und zu versuchen, ihren Willen in dieser Frage frühzeitig in Erfahrung zu bringen, um ihnen nach Möglichkeit selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Grimm, Imre; „Corona ist mir egal”: Warum Helga Witt-Kronshage (86) lieber sterben will, als eingesperrt zu sein, 23. April 2020. Im Internet: https://www.rnd.de/gesundheit/corona-ist-mir-egal-warum-helga-witt-kronshage-86-lieber-sterben-will-als-eingesperrt-zu-sein-3MEBDIOBEFA6BDULC4N5WGZJG4.html?utm_source=pocket-newtab; Stand: 23. Mai 2020.
(2) Bundesverfassungsgericht. Zum Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 — 2 BvR 2347/15 —, Rn. (1-343). Im Internet: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html, Stand: 11. Mai 2020.
(3) Anonym. Mehr Respekt vor Selbstverantwortung Älterer, 11. Mai 2020. Im Internet: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112714/Mehr-Respekt-vor-Selbstverantwortung-Aelterer, Stand: 12. Mai 2020.
(4) Anonym, Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg (Hamburgische SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung — HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO) vom 2. April 2020, gültig ab 6. Mai 2020,. Im Internet: https://www.hamburg.de/contentblob/13783518/ef44c570efbe39ec7a3b86dbc802e6e0/data/d-verordnung.pdf
(5) Sawicki, Peter; Palliativmediziner zu COVID-19-Behandlungen, „Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“, 6. Mai 2020. Im Internet: https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488; Stand: 23. Mai 2020.
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