Der 15. Februar 2020 wird als ein besonderer Tag in der Geburtsstadt des Freidenkers Friedrich Schiller in Erinnerung bleiben. Und er hätte für eine einzelne medienpolitisch versierte Bundestagsabgeordnete ein bundesweit wahrnehmbares Symbol des freiheitlichen Europas und der Menschenrechte an alle Menschen werden können. Er hätte. Aber beginnen wir am Anfang.
In der L´Isle Adam-Anlage am Bahnhof der Stadt Marbach trafen sich vier Organisatoren der ersten Mahnwache für die Freilassung des Journalisten Julian Assange, nachdem sie wenige Wochen nebenberuflich eine Demonstration für die Pressefreiheit vorbereitet hatten. Dem plakatierten Aufruf waren etwa 50 Besucher gefolgt.
Pressefreiheit statt Pressefeigheit
Die Idee zu dieser Veranstaltung wurde in einem friedenspolitisch bewegten Netzwerk geboren, das derzeit im Bottwartal entsteht und wurde mit knapper Vorbereitung in der Vorwoche der parlamentarischen Anhörungen umgesetzt. Die große Parkanlage am Marbacher Bahnhof, die zu Ehren der französischen Partnerstadt L´Isle Adam ausgewählt wurde, kam nicht ganz zufällig in die engere Wahl des geeigneten Standortes für eine der derzeit wichtigsten Aufgaben unserer europäischen Demokratie.
Die Aufgabe, der sich symbolisch und inhaltlich eine kleine Gruppe an Fans der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der europäischen Idee gesetzt hatte, war keine geringere, als die Pressefreiheit als konstituierende Säule der Demokratie zu retten.
Nach der polizeirechtlichen Genehmigung des Versammlungsortes führte die erfreuliche Offenheit mehrerer spontaner Unterstützer der Mahnwache unter anderem zur professionellen Videoaufzeichnung der Veranstaltung (1).
Bei blauem Himmel und einem fast schon französisch-freiheitlichen Geist bekannten sich vier RednerInnen zum Europa der freundschaftlichen Beziehungen nach Ost und West, einem friedlichen Eurasien und der Abkehr von völkerrechtswidrigen geplanten Angriffskriegen, wie sie seit Jahren insbesondere die US-Regierung — flankiert mit dem Beschuss von Zivilisten — als Kriegsverbrechen begeht.
Gelbe Westen — reines Gewissen
Die von der Polizeibehörde vorgeschriebenen Warnwesten trugen die Farbe gelb und gaben auch zu verstehen, dass die Veranstalter mit den französischen Massendemonstrationen für die an Menschen ausgerichtete Sozialpolitik sympathisieren. Die Franzosen demonstrieren letztlich ebenso für die Freiheitsrechte der Bürger, wie alle Mahnwachen-Teilnehmer in Europa es für die Menschenrechte aller Bürger tun und nicht nur für Julian Assange.
Spirituelle Unterstützung erfuhren die vier Organisatoren vom gesellschaftskritischen Rapper Kilez More, der die Veranstaltung mit der kostenfreien Aufführerlaubnis seiner Musik unterstützte. Die Songtexte hätten nicht stimmiger sein können, denn die Songs „Friedensbewegung“ und „Wir könnten“ sorgten im Vorfeld der Redebeiträge zur bewegten Einstimmung auf ein sonst seit Jahren in den Mainstream-Medien trost- und bewegungsloses Thema.
Mediale Manipulation und (k)ein Ende abzusehen
Erst in der Woche vor der Marbacher Mahnwache für Julian Assange brachte das ZDF am 5. Februar 2020 erstmalig mit einem Interview von UN-Sonderberichterstatter Dr. Nils Melzer die klare Ansage zur Freilassung von Assange (2). Am 14. Februar 2020 wurde schließlich die Verfolgung Julian Assanges als „moderner Hexenprozess“ durch ein Interview mit Dr. Nils Melzer einem breiten Publikum bekannt gemacht (3). Bis dahin war Julian Assange bereits jahrelang in Gefangenschaft und psychisch gefoltert worden.
Das Klima in der Bevölkerung hatte sich schon lange zuvor geändert und mehrere unabhängige Medien wie der Rubikon, die Nachdenkseiten, KenFM forderten seit vielen Monaten eine klare Position der Bundesregierung und des bundesdeutschen Parlaments, das über seine fachlich zuständigen Politiker*innen der Fraktionen die Angelegenheit intern bearbeiten ließ. Die Tiefe der Bearbeitung und vor allem die öffentliche Darstellung dieser Arbeit wurde und wird dabei stets von der jeweiligen Parteispitze dosiert. Die Abgeordneten selbst kontrollieren ihre öffentlichen Äußerungen in einem Klima des vorauseilenden Gehorsams. Gegenüber dem von WikiLeaks hauptsächlich Angeklagten, dem kriegstreibenden US-Imperium, möchte man eben nicht unangenehm auffallen.
Zukunft wird aus Mut gemacht
Im Falle der Marbacher Mahnwache hatte sich die medienpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Margit Stumpp, als Hauptrednerin bereit erklärt, über die aktuelle Sachlage und ihre Beteiligung an dem Auslieferungsverfahren zu berichten. Das Büro der Abgeordneten informierte noch am 12. Februar 2020 die Deutsche Presseagentur, dpa, über die „öffentliche Mahnwache“ in Marbach durch die „überparteiliche Initiative“ und kündigte Margit Stumpp als Hauptrednerin an. Das Büro informierte die dpa auch:
„Die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete setzt sich für eine rechtsstaatliche Behandlung von Assange ein und wird auch den Prozess in London vor Ort beobachten.“
In der Pressemitteilung an die dpa wird auch explizit auf Dr. Nils Melzer Bezug genommen und auf die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE). In dieser fordern 47 Mitgliedsstaaten dazu auf, sich für Assanges Freilassung aus britischer Haft und gegen seine Auslieferung an die USA einzusetzen. Die dpa-Mitteilung endet mit dem Hinweis auf den von Günter Wallraff initiierten öffentlichen Appell.
Diesen Appell hat — neben knapp 40.000 weiteren Unterstützern — auch Sigmar Gabriel unterzeichnet, manchen noch als früherer bundesdeutscher Außenminister bekannt. Dem gut versorgten SPD-Minister a.D. ist die Folter von Julian Assange seit Jahren aus beruflichen Gründen vertraut. Er bekleidet seit dem 26. Juni 2019 das Amt des Vorsitzenden der Atlantikbrücke, ein der US-Regierung nahe stehendes transatlantisches Netzwerk aus 500 Mitgliedern (4), dessen Mitgliedschaft nur eine persönliche Einladung ermöglicht.
Weite Wege bis zum Freiheitsgedanken
Wenige Stunden vor Beginn sagte MdB Margit Stumpp ihre Teilnahme an der Marbacher Mahnwache für Julian Assange ab und begründete die überraschend kurzfristige Absage — entgegen der wochenlangen Planung ihres eigenen Büros — mit „zu weiten und unsicheren“ Wegen der deutschen Bahn.
Der Veranstaltungstag war sonnig und nahezu windstill, auch zuvor war von Sturmwarnung keine Spur. Doch hielt wohl ein anderer Sturm die medienpolitisch fachlich versierte und in das amerikanisch-britisch geplante Auslieferungsverfahren eingebundene Bundestagsabgeordnete von ihrem seit Wochen zugesagten Besuch bei der Mahnwache für Julian Assange ab: das Narrativ der freundschaftlich mit Deutschland verbundenen amerikanischen Regierung, die stets auch um die europäische Sicherheit bemüht ist. Niemals würde eine derart befreundete US-Regierung die Menschen- und Freiheitsrechte in Europa geradezu rücksichtslos umstoßen.
Sollten Zugstrecken als ökologische Fahroption sehr weit sein — was sie im Falle des Weges vom Wahlkreisbüro Aalen/Heidenheim nach Marbach nicht sind — oder sollten sie unsicher sein — was sie abgesehen von möglichen Zugverspätungen ebenfalls nicht sind —, dann haben Mitglieder des Bundesparlaments schließlich noch die Möglichkeit, auf Staatskosten mit einem — gegebenenfalls elektrisch angetriebenen und damit wenigstens im Betrieb CO2-freien — Mietwagen klimafreundlich das Ziel zu erreichen. All das ist kurz vor einer Veranstaltung nicht neu, sondern planbar. So wie die dunkle Seite der Macht das moderne Inquisitionsverfahren durch US-Schutzstaffeln geplant hatte und das seit vielen Jahren, in einem nie dagewesenen jahrelangen „Schauprozess“, wie ihn Nils Melzer bezeichnet hat (5).
Von Papiertigern und politischer Betroffenheit
Der grüne Tiger — pardon — Slogan: „Zukunft wird aus Mut gemacht“, hatte es an diesem Tag nicht vom Papier in die politische Realität der Menschenrechte geschafft. Die positive Folge dieser zeitlichen Lücke in der Rednerliste: Die Veranstalter gaben vielen Besuchern die Möglichkeit, am Mikrofon ihre persönliche Sicht und Betroffenheit über die unglaublichste Menschenrechtsverletzung durch sogenannte demokratische Staaten zu äußern, die jemals unserem freiheitlichen Europa aufgezwungen wurde (5). Es waren bewegende Worte von Mahnwachen-Besuchern, die sonst nicht zu denjenigen gehören, die frei in ein Mikrofon sprechen.
Die Aufgabe, öffentlich an die Freilassung von Assange gerade aus der Geburtsstadt von Friedrich Schiller zu appellieren, war für alle Beteiligten so bedeutsam, dass das bisherige Schweigen der Mainstream-Presse und die „mandatierte Feigheit für Julian Assange“ durch den kurzfristigen Rückzieher der Hauptrednerin Margit Stumpp ihr Vorhaben nur noch weiter bestärkte und manches Improvisationstalent herausforderte.
Der Kabarettist Achim Meyer alias Theo Aufrecht brachte mit seinem verbalen Aufschlag das Thema in humorvoll schwäbischem Akzent in das Bewusstsein der Besucher und vieler Passanten. Seine imaginäre Frau Berta musste er auch erst davon überzeugen, dass die mediale Indoktrination vom Vergewaltiger durch den wahren Julian Assange, den Journalisten in Friedensmission, ersetzt werden muss (6).
In einem Redebeitrag berichtete Andreas Roll über die Kriegsverbrechen der US-Regierung — schon unter dem gar nicht friedensnobelpreiswürdigen Ex-Präsidenten Barack Obama — und lenkte die Aufmerksamkeit auf die grundsätzliche Bedeutung des Falles Assange für die europäischen Freiheitsrechte als Säule unserer Demokratie (7).
Anna Meyer trug wichtige Aussagen des UN-Sonderberichterstatters für die Folter, Dr. Nils Melzer, vor und gab damit tiefe Einblicke in die akribische Recherche des derzeit wohl wichtigsten Schweizers für die europäische Demokratie (8). Am 14. Februar 2020 richtete Melzer im TV-Sender acTVism den Scheinwerfer nochmals deutlich auf die Kriegsverbrechen der US-Regierung (9).
Den bodenständig schwäbischen Abschluss bildete die feurige Rede des Biolandwirts und Gründers einer Friedensinitiative, Robert Trautwein (10). Ganz nebenbei wies er die Besucher auf ein Highlight des anschaulichen Politik- und Geschichtsunterrichts hin. Am 7. Mai 2020 wird einer der kenntnisreichsten Politikwissenschaftler in der Gemeinde Erdmannhausen einen Vortrag halten: Hermann Ploppa referiert über den „Griff nach Eurasien“ und den ewigen Versuch der US-Eliten, nach ihrer missglückten Unterstützung des Hitlerregimes vor dem Zweiten Weltkrieg wieder die Kontrolle über das Herzland Eurasien zu gewinnen. Bei einer solchen Rückkehr des Faschismus — quasi als Reimport aus dem transatlantischen Westen — ist nach Ansicht der Organisatoren breiter Widerstand aus der Bevölkerung geboten.
Die Veranstalter und die Besucher der Mahnwache wagten die Hoffnung zu äußern, die erste Marbacher Mahnwache möge gleichzeitig die letzte sein, weil sich ihr Ziel und der Wunsch aller Besucher möglichst schnell erfülle: Dass Julian Assange in Freiheit lebe, mit ihm alle seine Berufskollegen und die Pressefreiheit in Europa wieder das werden kann, was sie in jeder Demokratie sein sollte: ihre tragende Säule und das institutionalisierte Gewissen der Mächtigen überall auf der Welt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Kanal „Pressefreiheit heißt Freiheit für Julian Assange!“, https://www.youtube.com/channel/UCa7IWPXpWZsgoU7z-pdA7pQ/featured?view_as=subscriber
(2) https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/verschwoerung-gegen-julian-assange-100.html
(3) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/assange-melzer-folter-100.html
(4) https://www.atlantik-bruecke.org/sigmar-gabriel-neuer-vorsitzender
(5) https://www.heise.de/tp/features/Praezedenzfall-WikiLeaks-4458012.html
(6) https://www.youtube.com/watch?v=0gJ3EO-k3Qs
(7) https://www.youtube.com/watch?v=eyi6MxdOUXw
(8) https://www.youtube.com/watch?v=dZnbw0kjyv4
(9) https://www.actvism.org/politics/nils-melzer-fall-julian-assange
(10) https://www.youtube.com/watch?v=qSdiiryBxvQ&t=1s
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