Dieser neue Campus ist Ausdruck einer Entwicklung, die Wissenschaft stärker in eine wirtschaftspolitische und letztlich auch rüstungspolitische Strategie einzubinden versucht. Absehbar und inzwischen teilweise bereits bestätigt waren zudem Folgen für die Stadt, unter anderem durch steigende Mieten. Begeistert engagierten sich Unternehmen wie Daimler, Porsche, BMW, ZF Friedrichshafen, die VW-Tochter IAV und Bosch. Es entfaltete sich eine rege Bautätigkeit, durch die unter anderem ein „Artificial Intelligence Competence Center“ mit Büroräumen für Wissenschaftler und die von ihnen gegründeten Startups entstand. Und nun auch noch Amazon, der Weltmarktführer in Sachen Cloud-Dienste.
Christa Schaffmann: Amazon will ein eigenes Entwicklungszentrum errichten, welches ähnlich wie der ganze Campus durchaus umstritten ist. Wie kam es dennoch im November 2019 zum Verkauf großer kommunaler Flächen an Amazon?
Christoph Marischka: Bei der Sitzung des Planungsausschusses des Gemeinderates kamen durchaus die schlechten Arbeitsbedingungen, das unökologische Geschäftsmodell und die Steuervermeidungsstrategien des Konzerns zur Sprache. Trotzdem empfahl der Planungsausschuss dem Gemeinderat mit großer Mehrheit und gegen das Votum des Ortsbeirats der Nordstadt, wo der Forschungscampus entsteht, den Verkauf des Geländes für das Amazon-Entwicklungszentrum. Die offizielle Begründung: Ohne Amazon werde die Anziehungskraft des Forschungsverbundes Cyber Valley und des Technologieparks für internationale Spitzenforscher aus dem Bereich KI schwächer ausfallen.
Geben Sie dem Gemeinderat jetzt die Schuld für die Entwicklung?
Die Bundesregierung hat eine KI-Strategie beschlossen und entwickelt diesbezüglich eine rege Tätigkeit. Vieles dabei ähnelt stark dem, was das Beratungsunternehmen Roland Berger bereits 2016 angeregt hat: Großunternehmen mobilisieren, zentrale Startup-Campi errichten, junge Wissenschaftler zum Gründen bewegen und unproduktives Kapital mobilisieren. Bergers Papiere fließen regelmäßig — manchmal wörtlich, manchmal umschrieben — in Dokumente und Entscheidungen der Bundesregierung ein. Diese Forderungen gehen weit über die KI-Forschung hinaus.
Inwiefern?
Die Firma schlug vor, 100 Prozent der in Startups investierten Summe von der Einkommenssteuer absetzen zu können. Kapitalerträge, die aus dem Investment erwirtschaftet werden, sollen zu 50 Prozent steuerfrei sein. Renten- und Gesundheitskassen empfiehlt das Unternehmen, ihre Rücklagen als Risikokapital anzulegen.
Die Industrie, Beratungsgesellschaften und die von ihnen gesteuerte Politik lassen sich nicht von einem Gemeinderat aufhalten.
Das klingt, als setzten Beratungsgesellschaften die Demokratie außer Kraft.
Und genau das geschieht auf einigen Gebieten. Es ist kein Zufall, dass im Koalitionsvertrag von 2018 über 70-mal das Wort Digitalisierung und siebenmal der Begriff Künstliche Intelligenz vorkommen. Die besondere Rolle von Kapital- und Risikokapitalgesellschaften ist nicht zu übersehen. Die beschlossenen Maßnahmen sind nachweislich sehr direkte Umsetzungen von Forderungen der Beratungsgesellschaften, der Industrie und der mit dieser bereits eng zusammenarbeitenden wissenschaftlichen Institute. Das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel, 3,5 Prozent des BIP für Forschung auszugeben, hatte kurz zuvor die Max-Planck-Gesellschaft zusammen mit ihren Industriepartnern im kleinen Kreis gefordert.
Im Koalitionsvertrag steht auch die Schaffung einer Agentur für Sprunginnovationen nach Vorbild der DARPA. Letztere untersteht in den USA dem Pentagon und ist verantwortlich für absurde, riskante Forschungsprojekte. Auch diese Empfehlung stammt von der Max-Planck-Gesellschaft und Roland Berger. Eine Gruppe wissenschaftlicher Einrichtungen und Vertreter des Risikokapitals setzten sich gemeinsam durch.
Warum ist das Risikokapital auf diesem Gebiet so aktiv?
Risikokapital ist auf der Suche nach zweistelliger Rendite; die neue Technologie bietet sich an. Deshalb versucht es, dieses Feld zu besetzen und dazu die Politik huckepack zu nehmen, sie ebenfalls zu Investitionen zu bewegen. Allein dadurch kommen bereits Renditen zustande, bevor noch ein wirkliches Produkt erzeugt worden ist. Es entstehen Forschungsparks wie in Berlin, Hamburg, Tübingen, Saarbrücken und anderswo. Die Politik übernimmt meines Erachtens sehr unreflektiert — übrigens bei wenig Kontroverse zwischen Parteien und von ihnen repräsentierten Weltanschauungen — den Diskurs, der ihr da vorgegeben wurde.
Sie erwähnten als treibende Kraft die Beratungsgesellschaft Roland Berger. Wer spielt da noch eine Rolle?
Gleiche oder ähnliche Forderungen oder Empfehlungen gaben auch PricewaterhouseCoopers und Capgemini ab, die alle sehr nah an Ministerien dran sind und immer wieder von der Bundesregierung beauftragt werden. Diese Gesellschaften haben den Staat mehr oder weniger stark durchdrungen.
Welche Nebenwirkungen hat die Präsenz von Amazon in Tübingen?
Noch hat der Bau nicht begonnen, aber die Stadt verändert sich schon in raschem Tempo. Die Universität macht die PR-Arbeit für das Risikokapital, Wissenschaftler werden gedrängt, auch Unternehmer zu sein. Sie arbeiten für Amazon und laufen als Werbeträger für die Fusion von Wirtschaft und Wissenschaft mit Amazon-T-Shirts herum. Ich finde es krass, auf diese Weise die Legitimation von Wissenschaft zu untergraben, wo wir doch jetzt schon ein Problem mit dem haben, was wahr und was falsch ist. Wenn sich da auch noch die Wissenschaft selbst zerlegt, dann ist das sehr gefährlich!
Ist das Bündnis gegen das Cyber Valley also gescheitert?
Nein. Dass Menschen jetzt vermehrt Stellung nehmen zur Technologieentwicklung, darunter auch Leute, die vor wenigen Jahren noch gezögert hätten sich überhaupt zu einem solchen Thema zu äußern, ist ein Erfolg. Haben viele vor eineinhalb Jahren noch gesagt, sie könnten sich aus mangelnder Kenntnis dazu nicht äußern, beziehen sie jetzt klar Stellung. Nicht nur über die Technologie, ihre Chancen und Risiken wird geredet, sondern auch über die Rahmenbedingungen, unter denen diese Entwicklung stattfindet und die mitentscheidend dafür sein werden, ob von dieser Technologie eher Fluch oder Segen zu erwarten ist.
Technologie wird oft so dargestellt, als bewege sie sich auf einem vorgegebenen Entwicklungspfad. Es sind aber gesellschaftliche Interessen und Machtverhältnisse, die Technologien hervorbringen und für deren interessengeleiteten Einsatz sorgen.
Welchen Kurs hätte aus Ihrer Sicht den gesellschaftlichen Interessen und auch der Wissenschaft besser gedient?
Die Uni Tübingen wäre gut aufgestellt gewesen, an einer Folgenabschätzung zu arbeiten, sich zu fragen, wo kann die Technologie helfen, wo kann sie schaden, und darüber nachzudenken, wie die Pflege der Zukunft aussehen kann und anderes mehr. Mit 150 Millionen Euro, die hier mit einem Schlag in die KI-Forschung gesteckt worden sind, hätte man Hunderte Sozialwissenschaftler sinnvoll beschäftigen können. Stattdessen wird alles in Forschung auf einem KI-Campus gesteckt, bei der es nur um Innovation geht und um die rasche Umsetzung von Grundlagenforschung in die Kommerzialisierung von Wissenschaft durch Startups. Das halte ich für den falschen Weg.
Quellen und Anmerkungen:
Christoph Marischka ist Autor des Buches „Cyber Valley — Unfall des Wissens“ und einer der Referenten beim diesjährigen Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie am 7. / 8. März in Berlin.
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