von Peter Koenig
Das Herz Frankreichs brennt. Ein Inferno hat Frankreich erschüttert. Notre-Dame, kulturelles Symbol Frankreichs und UNESCO-Weltkulturerbe, stand in Flammen. Das Feuer hat den hölzernen Dachstuhl und die Turmspitze zerstört. Auf den ersten Blick hat es nur leichte Schäden an der Struktur der Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert und den historischen Schätzen verursacht, da die meisten dieser Kostbarkeiten entweder bereits zuvor für die andauernden Renovierungen oder gerade rechtzeitig von der Feuerwehr beiseite geschafft wurden.
Manche der Schäden an den religiösen Artefakten könnten die enormen Wassermengen angerichtet haben, die 500 Feuerwehrleute zur Eindämmung des Feuers einsetzten. Dessen vollständige Löschung dauerte fast zwölf Stunden. Angesichts der Umstände — ein Dach und eine Turmspitze aus knochentrockenem Holz, größtenteils ohne Brandschutz — gleicht es einem Wunder, dass das 850 Jahre alte gotische Meisterwerk überhaupt gerettet werden konnte.
Während bisher nicht — oder jedenfalls nicht öffentlich — bekannt ist, wie das Feuer entstand, ist klar, dass die Brandschutzmaßnahmen ungenügend waren. Zum einen wurde die Entzündbarkeit von hunderte Jahre altem massivem Eichenholz unterschätzt. Zum anderen war — wie Benjamin Mouton, der Architekt, der die Brandschutzmaßnahmen überwachte, laut New York Times sagte:
„... das System auf der Annahme errichtet, dass, sollte die Kathedrale je Feuer fangen, die jahrhundertealten Eichenbalken im Dachstuhl langsam brennen würden, sodass genug Zeit bliebe, die Flammen zu bekämpfen. (...) Der Feueralarm in Notre-Dame benachrichtigte die Feuerwehrzentrale nicht sofort. Stattdessen musste ein Aufseher der Kathedrale zunächst eine steile Treppe in den Dachstuhl hinaufsteigen — wofür ein ‚fitter‘ Mensch sechs Minuten brauchen würde.“
Daher gab es bereits eine einprogrammierte Verzögerung von etwa 20 Minuten, bis die Feuerwehr mit der Bekämpfung der Flammen beginnen konnte — eine entscheidende Zeitspanne zu Beginn eines Brandes.
Dies ist ein bedeutsames Detail, angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Flammen im hölzernen Dachstuhl und in der Turmspitze ausbreiteten. Einige Islamfeinde sprechen schon von einem Terrorangriff auf ein christliches Gotteshaus in der Woche vor Ostern, der Auferstehung Christi, dem wichtigsten christlichen Feiertag.
Spenden statt Steuern
Der in sozialer Hinsicht verstörendste Aspekt ist die Geschwindigkeit, mit der französische Milliardäre — später gesellten sich auch internationale Oligarchen hinzu — erklärten, sie würden — steuerlich absetzbare — Spenden bereitstellen, um die Kathedrale zu reparieren. Innerhalb weniger Tage sicherten die reichsten der reichen französischen Milliardäre mehr als eine Milliarde Euro an Spenden zu.
Erste Schätzungen der Schadenssumme beliefen sich auf 500 bis 700 Millionen Euro. Sobald die Zusicherungen gemacht waren, sprach niemand mehr über Kostenschätzungen. Es wird interessant sein zu sehen, wer das überschüssige Geld bekommt. Vielleicht die armen Franzosen, die mit nur 500 Euro im Monat überleben müssen? Die auf der Straße hausen oder in Zeltstädten am Rande von Paris, und deren Kinder abends hungrig zu Bett gehen — wenn sie überhaupt ein Bett haben? Ich glaube allerdings nicht, dass die Milliardäre beabsichtigten, die ‚Überschüsse‘ an die Armen weiterzugeben.
Macron erschien mit glänzenden Augen im Fernsehen — für ihn die Gelegenheit, um von seinen erbitterten Gegnern, den Gelbwesten, abzulenken — und er versprach: „Wir werden dieses Denkmal noch schöner als zuvor wiederaufbauen.“
Er rief zu einer internationalen Ausschreibung auf, um sicher zu stellen, dass die besten Architekten an der Rekonstruktion dieser weltbekannten Ikone der Baukunst zu arbeiten.
Macron vertagte sogar die „endlosen“ Gespräche über Reformmaßnahmen, die er nach dreimonatiger „Debatte“ plante, um die wöchentlichen Gelbwesten-Proteste zu beenden. Doch er verkündete keine Reformen. Und selbst wenn er enorme Zugeständnisse gemacht hätte, würde das die Proteste nicht beenden — es sei denn, er träte zurück. Dies ist das Maß an Vertrauen, das ihm bleibt. Die Proteste sind heftiger denn je, denn die Menschen müssen mit ansehen, dass die Reichen problemlos hunderte Millionen spenden — gleichsam in einem Wettbewerb nach dem Motto unternehmerischer Propaganda: „Ich steche dich aus“ —, während sie nur geringee oder gar keine Steuern zahlen.
Würden sie angemessene Steuern zahlen, so argumentieren die Gelbwesten zu Recht, dann wären keine Spenden nötig. Der Fonds für die Restaurierung von Kulturgüternhätte dann ausreichend Geld, und außerdem gäbe es keine Rechtfertigung die Steuern für Geringverdiener zu erhöhen. Doch genau das ist es, was Macron weiterhin tut, er besteuert die Armen bis zum Ruin. Am Samstag, dem 20. April, einen Tag vor Ostern, protestierten 28.000 Gelbwesten in Paris gegen die Oligarchen, die großzügig und aus egozentrischen, selbstdarstellerischen Motiven spenden, doch sich weigern, ihre Steuern so zu zahlen, dass alle Franzosen und Französinnen ein anständiges Leben führen können.
Die Gelbwesten zogen an den geschwärzten Ruinen von Notre-Dame vorbei, um dem Kulturdenkmal ihre Ehre zu erweisen und so zu zeigen, dass ihre Proteste sich nicht gegen den Wiederaufbau der Kirche richteten, sondern vielmehr dagegen, dass das straffreie Umschichten von immer mehr Vermögen aus den unteren Schichten der Gesellschaft zu den Milliardären einen Punkt erreicht hat, an dem es nicht länger hinnehmbar ist.
Es ist ein Skandal, und die Gelbwesten werden ihren Ruf nach Gerechtigkeit nicht eher beenden, als Macron zurücktritt und eine direkte Demokratie errichtet wird. Dafür kämpfen sie — und das bereits seit genau sechs Monaten. Sie sind entschlossen, nicht aufzugeben, egal, auf welche Weise Notre-Dame wieder aufgebaut werden wird.
Mit Diebesgut erbaut
Das Ganze hat einen noch schändlicheren Aspekt — der sich auch auf andere Bauwerke bezieht: Hunderte von Jahren, in denen Frankreich seine afrikanischen Kolonien ausgebeutet hat, in denen es versklavt, missbraucht, verwüstet, getötet und afrikanische Ressourcen geplündert hat, haben es ihm und vielen anderen europäischen Staaten erlaubt, unglaubliche Mengen an Raubgut anzuhäufen — Vermögen, mit dem diese Länder die Denkmäler, Schlösser und Kirchen gebaut haben, mit denen sie nun prahlen und mit dessen Hilfe sie ihre damaligen Imperien und ihre heutigen Reiche aufrechterhalten haben.
Diebstahl und Plünderungen bilden die Basis der reichen Kultur und der berühmten Heiligtümer, die die wagemutigen und weisen Europäer erdacht und erbaut haben.
Notre-Dame — ein Haus Jesu — ist eines der Bauwerke, die heute möglicherweise nicht existierten, hätte Frankreich nicht über die illegal gewonnenen Ressourcen aus Kriegen und der Plünderung des afrikanischen Kontinents verfügt — ein Erbe, das seine Fortsetzung im heutigen französische Neokolonialismus findet: Die „ehemaligen" französischen Kolonien in West- und Zentralafrika stehen unter der Kontrolle der Banque de France. Dies ist ein weiterer beschämender und bis heute währender Vorgang, über den niemand zu sprechen wagt — was es Frankreich erlaubt, arme afrikanische Staaten unermesslicher Milliarden zu berauben und so sicherzustellen, dass deren Entwicklung gebremst wird. Solange in diesen Staaten Marionetten-Diktatoren an der Macht gehalten werden, wird dies kein Ende haben.
Heute ist es die NATO — mit ihren unvermittelten Kriegen und Amokläufen —, die den Kolonialismus am Leben hält, für den Ressourcenfluss vom Süden in den Norden sorgt, und damit den Süden verarmen lässt, ihn spaltet, indem sie Chaos verursacht, um sich selbst bessere Kontrolle zu verschaffen — und insbesondere um den Diebstahl fortzuführen, der die Eliten bereichert.
Mögen Notre-Dame — das Haus Gottes — und ihr Wiederaufbau uns daran erinnern, dass Frankreichs Oligarchen noch immer von dem entsetzlichen und illegalen Ablass wirtschaftlicher Ressourcen aus Afrika und dem Nahen Osten profitieren — und daran, dass solche Ungerechtigkeit aufhören muss.
Peter Koenig ist Ökonom und geopolitischer Analyst. Er ist außerdem Spezialist für Wasserressourcen und Umweltfragen; in diesem Bereich hat er über 30 Jahre lang für die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation gearbeitet. Er unterrichtet an Universitäten in den USA, Europa und Südamerika. Regelmäßig schreibt er unter anderem für Global Research, ICH, Russia Today, Sputnik, PressTV, The 21stCentury, TeleSUR, The Saker Blog und New Eastern Outlook (NEO). Er ist Autor des auf seinen Weltbank-Erfahrungen basierenden Romans Implosion — An Economic Thriller about War, Environmental Destruction and Corporate Greed sowie Ko-Autor von The World Order and Revolution! — Essays from the Resistance. Außerdem ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre for Research on Globalization.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Notre-Dame — Glory or Shame?“. Er wurde von Melina Cenicero aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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