„Die Ukraine soll EU-Mitglied werden, ohne dass die Bürger etwas zu sagen haben. Das kann nicht gut gehen. Europa hat nur eine Chance: Die EU muss verschweizern“, schreibt der deutsche Autor Wolfgang Koydl in der Weltwoche. Er meint damit mehr Föderalismus, weniger Zentralismus und vor allem die Beteiligung der Bürger.
Die Schweiz, die er beschreibt, ist aber bedroht, und zwar von innen: Aufgrund von Amerikas intelligentem „Stellvertreterkrieg gegen Russland, ohne Soldaten zu verlieren“ auf ukrainischem Boden, zehn Flugstunden weit weg von ihren eigenen Grenzen und dem ohrenbetäubenden Kriegsgeschrei des Westens könnten sich führende Schweizer Politiker unter Druck gesetzt gefühlt oder einen Vorteil für sich gesehen haben, sich dem umfassenden Wirtschaftskrieg Amerikas und seiner europäischen „Koalition der Willigen“ gegen Russland anzuschließen. Als wäre die Schweiz ein EU-Mitglied, hat die Schweizer Regierung (Bundesrat) sich verpflichtet, alle EU-Sanktionen sklavisch zu übernehmen.
Dass dieser Schritt vor allem den einfachen Schweizer Bürgern schadet und nicht den russischen Eliten schien die Politiker nicht zu stören. Selbst Washington war überrascht, als sich die neutrale Schweiz willfährig auf die Seite der USA gegen Russland schlug. Die Politiker in Bern scherten sich nicht mehr um die Verfassungsgarantie der „umfassenden, bewaffneten Neutralität“, eine jahrhundertealte Überlebensstrategie eines kleinen Staates, der von europäischen Großmächten umgeben ist. Sie scheinen auch vergessen zu haben, dass die Neutralität eine Spaltung zwischen den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Sprachgruppen, aus denen sich die Willensnation Schweiz zusammensetzt, im Falle von Konfliktsituationen unter den großen Nachbarn Deutschland, Frankreich und Italien verhindert.
Irene Kälin, Präsidentin des Schweizer Nationalrats (rechts), eine Politikerin der Grünen Partei (jetzt NATO-grün), trat die Verfassung mit Füssen, als sie selbst nach Kiew reiste, um ihre aufrichtige „Solidarität“ mit der Ukraine, einer Kriegspartei zu bekunden. Nach ihrer Rückkehr schämte sie sich nicht, sich an der Seite der aserbaidschanischen Parlamentspräsidentin fotografieren zu lassen und sie mit herzlichen Worten im Schweizer Parlament zu begrüßen. Kälin war aber nicht nach Berg-Karabach gereist, um ihre „Solidarität“ auszudrücken, als Aserbaidschan dort einen schmutzigen Krieg führte, Streubomben einsetzte and andere Kriegsverbrechen verübte, und hat nicht einmal ein Wort der Missbilligung darüber gegenüber der Vertreterin Aserbaidschans verloren. Die grüne Spitzenpolitikerin hat damit nicht nur die Neutralität verraten, sondern auch das letzte Fünkchen Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Neutral zu sein bedeutet, sich in Zurückhaltung, Distanz und Bescheidenheit zu üben. Diese Tugenden eines unparteiischen Landes widersprechen aber dem Drang vieler Politiker und Regierungsvertreter, auch als große Spieler auf der internationalen Bühne im Scheinwerferlicht zu stehen. Die politische Klasse der Schweiz hat auch Freude am internationalen Herumreisen auf Staatskosten, was beispielsweise in der erhöhten Reisetätigkeit der Parlamentarier der letzten Jahre und der dadurch entstandenen Bürokratie zeigt.
Etliche Schweizer Politiker liebäugeln auch mit dem Gedanken, der zunehmend kriegslüsternen und vermehrt amerikanischen Interessen dienenden Europäischen Union (EU) beizutreten. Dies würde ihnen neue Karrieremöglichkeiten als Eurokraten im fernen Brüssel eröffnen. Sie erhoffen sich mehr Macht und Prestige, ein höheres Einkommen und viel weniger Rechenschaftspflicht als in ihrem Heimatland, das sich durch politische Neutralität und Unabhängigkeit, Föderalismus und direkte Demokratie einschließlich des Verhältniswahlrechts auszeichnet. Letzteres gibt den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, die Politiker zu zügeln, was diese als störend empfinden.
Das Ergebnis einer großen neuen Studie zeigt, dass in der Schweiz (sowie in einem asiatischen Land) sich die Bürger durch ihr Regierungssystem besser demokratisch vertreten fühlen als die Bürger jeder anderen Nation durch das ihre.
Kira Rudik ist die Vorsitzende einer ukrainischen Partei und Mitglied des ukrainischen Parlamentes. Auf Twitter erklärte ich ihr, dass die Schweiz verfassungsrechtlich neutral sei und dass ihre Verfassung nicht mit einem Federstrich gekippt werden kann, egal wie viel Druck führende Politiker in der Ukraine auf die Eidgenossenschaft ausüben. Die Schweiz ist kein Land, das von Oligarchen regiert wird!
Noch haben es eigennützige Politiker nicht geschafft, die Schweizer zu überreden, EU-Bürger zu werden. Dabei geht es nicht nur um die Furcht der Schweizer vor Milliardenkosten, der höheren Staatsquote und -verschuldung, viel höheren Steuern, höheren Arbeitslosenquoten oder einem viel tieferen Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch um die Furcht vor der Fremdbestimmung statt der Selbstbestimmung, vor dem Zentralismus statt föderalistischer Vielfalt, vor der Preisgabe der Neutralität und vor dem massiven Abbau der Volksrechte und der direkten Demokratie.
Aber die Reise muss nicht zwingend in die falsche Richtung gehen. Im Gegenteil, was sich für die Schweiz bewährt hat und wozu die große Mehrheit ihrer Bürger steht, könnte sich auch für Deutschland und andere europäische Länder lohnen. Wie der Fall der Eidgenossenschaft zeigt, hat die Neutralität die Erwartungen der Bürger voll erfüllt, weil sie das Land vor Kriegen verschonte. Sie garantiert die Sicherheit des neutralen Staates und seiner Bürger.
Deutschland könnte die Vorreiterrolle übernehmen für ein föderales und neutrales Europa — als Pufferzone zwischen den großen Blöcken USA, China und Russland — mit wesentlich mehr demokratischen Rechten für die Bürger. „Mehr Demokratie wagen“ war vor Jahrzehnten einmal ein Wahlversprechen in Deutschland, das nicht eingehalten wurde. Stattdessen wurde die Demokratie abgebaut zugunsten nicht vom Volk gewählter Eurokraten in einem Glaspalast zu Brüssel.
Es ist aber nicht zu spät, Demokratie „nachzuholen“. Wenn die Europäische Union verschweizert würde, könnten die Mitgliedsländer und ihre Bürger die Rechte genauso genießen und von ihnen profitieren, wie die Schweizer Kantone und ihre Bürger.
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