Herr Wehr, Ihr neues Buch trägt hingegen den Titel: „Europa, was nun?“ Im Vergleich zu den vorgenannten ist das sehr zurückhaltend. Warum?
Bücher müssen verkauft werden, und da bietet sich natürlich an, möglichst reißerisch das Scheitern der EU zu beschwören, denn niemand will ein solches Ereignis verpassen. Nun, ich bin vorsichtig, was solche Ankündigungen betrifft. Die EU war nämlich bereits mehrfach in der Krise, und sie hat sie bisher alle überlebt. Ich erinnere nur an das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005. Auch damals läuteten viele Medien bereits das Totenglöckchen. Aber aus dem Verfassungsvertrag wurde der Lissabonner Vertrag und es ging weiter. Das europäische Integrationsprojekt ist den Herrschenden in Deutschland und den anderen Mitgliedsländern einfach viel zu wichtig, als dass man es mal so eben aufgeben kann. Was es aber gibt, ist eine verbreitete Ratlosigkeit über den weiteren Weg der Union. Deshalb der Titel meines Buches: „Europa, was nun?“. Die EU befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Stagnation. Die angestrebte Vertiefung der Integration, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron vorschlägt, ist wenig wahrscheinlich. Die EU hat es gleich mit mehreren Krisen zu tun, auf die sie keine Antworten findet. Die Verwirklichung des europäischen Traums von einer „immer engeren Union“ rückt dadurch in immer weitere Ferne.
Sie sprechen von mehreren Krisen. An welche denken Sie dabei?
Sie finden sich als Schlagworte im Untertitel des Buches: „Trump, Brexit, Migration und die Eurokrise“. Ich behandle zunächst jede dieser Krisen für sich, anschließend komme ich auf Gemeinsamkeiten zu sprechen, die es unter ihnen gibt. Da ist vor allem der Brexit, der Austritt Großbritanniens. Da er bereits für das Frühjahr 2019 vorgesehen ist, bleibt nur noch wenig Zeit, den Austrittsvertrag auszuhandeln. Und wie auch immer er aussehen wird, mit oder ohne Übergangsregelung, der Austritt selbst stellt einen schweren Rückschlag für den Integrationsprozess dar. Mit Großbritannien verlässt ein Land die Union, das von seinem Potential her – nach Deutschland, aber noch vor Frankreich – das zweitwichtigste Land der EU ist. Es bringt so viel Wirtschaftskraft auf die Waagschale wie die schwächsten 20 Mitgliedsländer der EU zusammen.
Nach dem Austritt kann sich die EU ja dann kaum noch anmaßend als „Europa“ bezeichnen.
Der Brexit stellt das Selbstverständnis der EU infrage. Bisher ging es mit ihrer Erweiterung immer nur voran. Lediglich Grönland trat aus, aber das wurde kaum bemerkt. Die Union wurde über die Jahre immer nur größer. Sie wuchs von anfangs sechs Staaten auf heute 28, so dass ihr eigener Anspruch „Europa“ zu sein, eine gewisse Berechtigung erhielt. Übersehen wird dabei allerdings, dass mit Russland, der Türkei und der Ukraine drei große europäische Länder nicht zur EU gehören. Mit Großbritannien geht jetzt aber nicht nur ein sehr wichtiges Land verloren, sondern auch eine historische Schlacht, denn die Insel benötigte insgesamt drei Anläufe, um Ende der siebziger Jahre überhaupt Mitglied werden zu können. Es gab einen langen Kampf um dieses Land, der schließlich am Ende für die „Föderalisten“, die Befürworter der EU, verlorenging. Eine Union ohne Großbritannien hat aber noch weniger Berechtigung, sich einfach mit „Europa“ gleichzusetzen.
Heute wird ja bereits darüber spekuliert, dass es zu weiteren Austritten kommen könnte, etwa von Polen oder Tschechien. Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?
Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich. In beiden Ländern gibt es zurzeit keine Mehrheiten für einen EU-Austritt, weder in der Politik noch unter den Bevölkerungen. Aber es gibt einen Entfremdungsprozess zwischen der Gruppe der Visegrádstaaten Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn auf der einen und den kerneuropäischen Ländern unter Führung von Deutschland auf der anderen Seite. Hauptstreitpunkt ist die europäische Flüchtlingspolitik und hier der Versuch der EU, die vier Länder zu zwingen, im Rahmen von Umverteilungen eine bestimmte Zahl von Migranten aufzunehmen. Dazu hat man deren Regierungen sogar per Mehrheitsbeschluss im Rat verpflichten wollen, und der Europäische Gerichtshof hat Klagen von Polen, der Slowakei und Ungarn gegen diesen Beschluss verworfen. Der ausgeübte Druck hat aber die Staaten nur in ihrer Ablehnung bestärkt. Im Abschnitt Migration meines Buches beschreibe ich diese seit dem Frühjahr 2015 andauernde Auseinandersetzung. Inzwischen musste der amtierende Innenminister Thomas de Maizière eingestehen, dass eine Verpflichtung aller EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen vorerst nicht durchsetzbar ist.
Dem Untertitel nach geht es in Ihrem Buch auch um die Eurokrise. Die setzte ja mit dem faktischen Bankrott Griechenlands bereits 2010 ein. Was ist heute der Stand? Wann wird sie zu Ende gehen?
Das Martyrium Griechenlands dauert an. Die EU erpresst das Land weiter und verlangt immer neue Kürzungen von Renten und Sozialleistungen, fordert Einschränkungen im Arbeitsrecht und mahnt Privatisierungen an. Erst Mitte Februar 2018 verweigerte Brüssel die Auszahlung einer weiteren Tranche des 2015 vereinbarten dritten Hilfspakets mit der Begründung, dass Athen Reformauflagen nicht nachgekommen sei. Wann diese Drangsalierung ein Ende haben wird, wissen wir nicht. Womöglich folgt auf das dritte Hilfspaket noch ein viertes im Sommer dieses Jahres. Der Verdruss über die EU wird in Griechenland indes immer größer. Die von der griechischen Regierungspartei Syriza abgespaltene Partei Volkseinheit hat jetzt einen Vorschlag für den Austritt des Landes aus der Eurozone vorgelegt.
Unklarheit herrscht auch darüber, wie man mit den zur Bewältigung der Eurokrise geschaffenen Institutionen umgehen soll. Dabei geht es um die immer noch unvollendete Bankenunion, vor allem aber um den 2012 geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der arbeitet gegenwärtig auf Grundlage einer zwischenstaatlichen Vereinbarung der Euroländer und damit außerhalb der EU-Institutionen. Emmanuel Macron und auch die Europäische Kommission wollen ihn jetzt zu einem Europäischen Währungsfonds machen und ihn dafür in die EU integrieren. Auch in der Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und SPD steht diese Forderung. Das würde aber zur Folge haben, dass die Euroländer ihn aus der Hand geben müssten. Sie könnten nicht mehr allein entscheiden, was mit ihren nationalen, dem Fonds bereitgestellten Mitteln passiert. Und hier geht es um hohe Summen. Dagegen gibt es verständlicherweise Widerstand, etwa in den Niederlanden, Finnland und anderen Euroländern. Und auch in Deutschland haben sich FDP, AfD, Teile von CDU und CSU sowie einflussreiche Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits gegen den Europäischen Währungsfonds ausgesprochen. Es ist also sehr ungewiss, ob dieser Integrationsschritt gelingt.
Sie haben anfangs davon gesprochen, dass es auch Gemeinsamkeiten zwischen den drei Krisenherden Brexit, Migration und Euro gibt. Woran denken sie dabei?
Alle drei Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass da nicht einfach nur Politiker am Verhandlungstisch streiten, sondern hier treffen ganz unterschiedliche nationale Sichtweisen aufeinander, die man daher nicht mal so eben mit einem „Kompromiss à la Bruxelles“ unter einen Hut bringen kann. Am deutlichsten wird das natürlich beim Austritt Großbritanniens. Hierfür hat sich die Mehrheit der Bevölkerung im Juni 2016 ausgesprochen, und daran kommen weder die britischen Politiker noch die EU-Bürokraten vorbei. Schließlich hat ja das Volk gesprochen!
Das gilt auch für die Unmöglichkeit, die osteuropäischen Länder auf eine gemeinsame europäische Migrationspolitik zu verpflichten. Die ablehnende Haltung dort wird nicht nur von den Regierenden getragen. Geteilt wird sie vielmehr von nahezu allen politischen Kräften dieser Länder, von ganz rechts bis nach ganz links. Daher würde auch nach einem Regierungswechsel in dem einen oder anderen Land sich in dieser Frage nichts ändern. In einem Text der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich vor kurzem die altbekannte Bezeichnung „Ostblock“ für die Visegrádstaaten gelesen. Das zeigt die ganze Verzweiflung der europapolitischen Strategen über die verfahrene Situation.
Schließlich die Eurokrise. Bei den Versuchen zu ihrer Lösung kommt der Widerstand gleich aus zwei Richtungen: Im Süden nimmt die Aversion gegenüber den mit dem Euro verbundenen Zumutungen zu. Es sind dort vor allem linke Parteien und Bewegungen, die der Kritik Ausdruck geben, so etwa in Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern. In den mittel- und nordeuropäischen Euroländern besteht hingegen ein großer Widerwille, immer neue und immer höhere Transferleistungen zur Stützung des Südens aufzubringen. Diese Kritik wird vor allem von rechten Kräften vorgetragen, von der FDP, aber auch von Teilen der Unionsparteien. Und die Entstehung der AfD ist der „Rettungspolitik“ für Griechenland geschuldet. Es waren neoliberale Ökonomen und Politiker, die die Partei gründeten. Erst später kam die Empörung über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung hinzu. Die Transferpolitik zur Bewahrung der Eurozone ist auch in Deutschland immer schwieriger durchzusetzen.
Im Untertitel Ihres Buches steht auch der Name Trump. Welche Rolle spielt der US-amerikanische Präsident in den europäischen Krisen?
Donald Trump liegt wie ein großer Schatten über der EU. Er verstärkt deren Krise, wenn er etwa den britischen Austritt ausdrücklich begrüßt. Sein Vorgänger Barack Obama war dagegen im Frühjahr 2016 noch extra nach London gereist, um die Befürworter der britischen Mitgliedschaft zu unterstützen. Trump hat das Transatlantische Freihandelsabkommen, ein Lieblingsprojekt der EU-Kommission, gekippt. Schließlich hat er die Union als Institution bezeichnet, die in Wirklichkeit nur der deutschen Wirtschaft nutzt. Das sind ganz neue Töne aus Washington, die man in Brüssel auf keinen Fall hören will. Es kommt aber noch etwas hinzu. Trump gilt in den Medien als Prototyp eines rechten Populisten. Sein Erfolg musste daher die europäischen Rechtsparteien ermutigen.
Man hat überhaupt den Eindruck, dass die EU heute weniger von links als von rechts infrage gestellt wird.
Dieser Eindruck ist nicht falsch. Die Kritik der Rechtsextremen an der EU und am Euro ist oft sehr laut, und es gelingt ihnen, damit bei Wahlen zu punkten. Anders sieht es dann schon aus, wenn sie an der Regierung sind. Dann wird aus der lauten sehr schnell eine kleinlaute Kritik. Man sehe sich nur den Wandel der österreichischen FPÖ an. Forderte sie noch vor den Nationalratswahlen im Herbst 2017 eine Volksabstimmung über den Euro, so ist jetzt, wo sie Regierungspartner in Wien ist, nichts mehr von ihr zu hören. In Frankreich hat Marine Le Pen nach der verlorenen Präsidentschaftswahl festgestellt, dass ihr die Ablehnung des Euros geschadet hatte. Sie hat daher diese Forderung kurzerhand aus dem Programm gestrichen. In Deutschland spricht sich die AfD zwar entschieden gegen eine Transferunion aus, mit der EU hat sie aber ansonsten kein Problem. Den schrankenlosen Binnenmarkt hält sie für eine gute Sache, nur kosten darf er eben nichts. Man sollte nie vergessen: Die Rechtsaußen sind in der Wolle gefärbte Neoliberale.
Die linke Kritik an der EU scheint dagegen immer schwächer zu werden.
Ja, leider. Je lauter die Rechtsaußen mit chauvinistischen Tönen gegen EU und den Euro Wahlpropaganda machen, umso mehr flüchten sich die Linken in eine Pro-EU-Position. Im Buch zitiere ich dazu Perry Anderson, den britischen Herausgeber von New Left Review: Es ist die Angst vor dem überall lauernden Nationalismus „der tieferliegende Grund, warum die meisten Linken die Auflösung der Währungsunion so entschieden ablehnen“. Auf diese Weise werden sie aber zu Verbündeten von Sozialdemokraten und Grünen. Die von den Linken außerdem erhobenen Forderungen nach einer „demokratischen, sozialen EU“ liegen aber jenseits jeder Realisierungsmöglichkeit. Man nimmt sie ihnen daher zu Recht nicht ab. Und so zählt am Ende nur ihr „Ja zu Europa“. Europäische Linksparteien wie die Kommunistische Partei Frankreichs, die Partei der Kommunistischen Wiedergründung (Rifondazione Comunista) und die Partei DIE LINKE gehören inzwischen zum breiten Spektrum der Pro-EU-Parteien. Den rechten Kräften überlässt man auf diese Weise die grundsätzliche Kritik an Globalisierung und EU.
Aber gibt es nicht doch noch eine prinzipielle linke Kritik an der EU?
Es gibt nur wenige linke Parteien, die in einer grundsätzlichen Opposition zur EU stehen. Zu nennen sind hier kommunistische Parteien in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien sowie die französische Bewegung „Das widerspenstige Frankreich“ (La France insoumise) unter Führung von Jean-Luc Mélenchon. Dazu zählen vor allem aber auch Linke in Großbritannien. Dort hat sich in der Labour Party eine Fraktion unter dem Namen „Labour Leave“ aktiv für den Brexit eingesetzt. Und die linke britische Tageszeitung Morning Star beschrieb am Vortag der Abstimmung, worum es ging: „Eine Stimme für Verlassen bringt nicht heute den Sozialismus. Aber sie wäre ein Schritt hin zur Wiederherstellung von demokratischer Kontrolle über unsere Wirtschaft, und sie würde ein Hindernis für Fortschritt beseitigen.“ Damit hatte sie es auf den Punkt gebracht.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
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