2018 war ein gutes Bewegungsjahr! Viele Organisatoren von Demonstrationen durften erleben, dass ihrer Aufrufe eine Reaktion hervorriefen, mit der sie selbst nicht gerechnet hatten.
Hunderttausende auf den Straßen
Da wäre die Rückkehr des Ökologiethemas als Massenbewegung.
Es gab für den Hambacher Wald nicht nur eine Großkundgebung mit 50.000 Leuten, sondern vor allem gab es hier einen eindeutigen Bewegungssieg in einer Auseinandersetzung, die Millionen elektrisierte. Die „Klimadoppeldemo“ in Berlin und Köln am 1. Dezember mobilisierte dann wiederum einige Zehntausend Menschen. Jetzt gibt es Klimastreiks von Schülerinnen und Schülern.
Da gab es die #Seebrücke-Demos, die über 100.000 Menschen mobilisierten. Es gab #Unteilbar in Berlin mit über 200.000, und es gab riesige Demos und Konzerte gegen Rechts. Auch der Widerstand gegen das neue Polizeigesetz in NRW sah mehrere Großdemonstrationen.
Es gab 2018 auch deutlich mehr Bewegung an der sozialen Front, zuletzt bei der Bahn, wo sogar die traditionell sehr brave Gewerkschaft EVG zum Streik rief. Es gibt inzwischen eine bundesweite Mieterbewegung. In vielen Orten brachte sie Tausende, in einigen Städten Zehntausende auf die Beine. In Berlin gipfelt dies in der Kampagne für einen Volksentscheid zur Enteignung der übelsten Immobilienheuschrecken.
Ohne freilich eine einheitliche Bewegung zu sein, brachten die zahlreichen Aufrufe im Jahr 2018 viele Hunderttausend Menschen auf die Straßen, so viele, wie seit langem nicht mehr.
Alleine München erlebte mit der Demo gegen das Polizeigesetz (40.000), der Demo „Ausg’hetzt“ (50.000), der Demo „Ausspekuliert“ (25.000) und einer weiteren Demo gegen Flächenfraß, Glyphosat und Gift in den Lebensmitteln (20.000) einen wahren Sommer des Massenprotests.
Funktionskrise des Parteienstaats
Dieser Aktivismus müsste sich nun auch bei den Wahlen deutlich niederschlagen, mochte man denken. Allerdings waren die riesigen Wählerwanderungen in Bayern und Hessen vor allem Verschiebungen innerhalb der Lager - sofern man die alte Lagertheorie noch bewirtschaften und etwa SPD und Grüne einer wie auch immer gearteten „Linken“ zuschlagen möchte, versteht sich.
Die Verluste der SPD jedenfalls kompensierten in der Hauptsache die Gewinne der Grünen. Die AFD stabilisierte sich dank vormaliger Nichtwähler und auf Kosten der CDU/CSU bei klar über 10%. Auch FDP oder Freie Wähler legten dank der konservativen Konkursmasse zu. Die LINKE stagniert derweil auf niedrigem Niveau. Die Zahl der Nichtwähler bleibt hoch.
Es wird immer deutlicher, dass wir es nicht mit einer Krise von Partei A oder Partei B zu tun haben. Auch die CDU ist tief gespalten. Die Massenparteien der Vergangenheit sind verschwunden. Die Ruinen, die davon noch stehen, dienen zunehmend nur noch als mediale Kulisse. Die Parteien sind immer weniger verankert in der Breite der Gesellschaft. Selbst die eigenen Mitglieder sind nur noch selten Überzeugungstäter. Die einen sind gekaufte Karrieristen, die anderen haben nichts zu sagen.
Was wir erleben, ist eine Funktionskrise der Parlamentarischen Demokratie. Als Orte der zentralen Entscheidungen sind die Parlamente weitestgehend entmachtet. Das merken die Menschen längst.
Der Glaube, mit dem Gang in die Wahlkabine auch nur das Geringste beeinflussen oder gar einen fundamentalen Wandel herbeiführen zu können, ist selbst bei denen, die noch wählen gehen, schwach ausgeprägt. Immer mehr Menschen quittieren derweil das Treiben in Parlamenten und auf Parteitagen mit Desinteresse oder mit offener Verachtung.
Aufstehen: von 0 auf 165.000
In die Lücke zwischen einer ansteigenden Welle von Kämpfen und einem Parteienangebot ohne jegliche Anziehungskraft, stieß im September 2018 die Sammlungsbewegung Aufstehen.
Die Idee war offensichtlich so gut wie der Zeitpunkt. Binnen weniger Wochen schrieben sich über 100.000 Menschen mit ihrer Email-Adresse ein und erklärten, „Teil der Bewegung“ werden zu wollen. Sahra Wagenknecht erkärte die 100.000 umgekehrt zu "Gründungsmitgliedern der Bewegung". Es roch nach massenhafter Rebellion.
Der mediale Mainstream war darüber derart entsetzt, dass er flächendeckend darauf verzichtete, den sensationellen Anfangserfolg dieser außerparlamentarischen Sammlungsbewegung großartig zu kommentieren.
Was machte nun diese explosive Anfangsdynamik aus? Sicherlich gibt es dafür viele Gründe. Die Popularität von Sahra Wagenknecht, der man zutraute, anders zu sein als die sonstigen Talkshowfiguren, war ein bedeutender Faktor. Die Verzweiflung über den scheint’s unaufhaltsamen Aufstieg der AFD und den jahrzehntelangen Dauerniedergang der deutschen Linken spielte bei vielen eine Rolle.
Besonders sexy wurde Aufstehen aber durch das glaubhaft vorgetragene Versprechen, anders als die anderen zu sein und eine Plattform für massenhafte Selbstorganisation anzubieten. Sanders, Corbyn und Mélenchon kommen endlich auch nach Deutschland, so schien es: linker Populismus mit Massenappeal auf der Basis radikal neuer Ansätze des Organizings.
Hinzu kam eine etwa mysteriöse Bewegungswunderwaffe namens „Polis. Niemand wusste ganz genau, was das ist und wie es funktioniert. Aber man raunte, in Thailand hätte Polis dazu beigetragen, eine Regierung zu Fall zu bringen. Das klang doch gut! Eine faszinierende Plattform digitaler Massenbeteiligung stand in Aussicht.
Auftaktveranstaltungen in Leipzig (400), Hamburg (300) oder Düsseldorf (250) zeigten bald, dass hinter den Emails echte Menschen standen. Die Erfolgsmeldungen verstärkten den Sog. Aus 100.000 Leuten, die sich eingetragen hatten, wurden bald 165.000.
Würde sich diese quasi über Nacht entstandene Massenbasis nun strukturieren und vernetzen, würde diese so kurz nach ihrer Geburt schon so mächtige Bewegung erst richtig ins Rollen kommen, wäre auch eine Mitgliedschaft von einer halben Million möglich, träumten einige. Sie verwiesen auf die Hunderttausenden, die die Labourparty nach Jeremy Corbyns Urwahlsieg förmlich gestürmt und von unten transformiert hatten.
Von der Sammlungsbewegung zur Spaltungsbewegung?
Gut drei Monate später träumt fast niemand mehr von einer halben Millionen Aufständischen.
Polis gibt es nicht mehr. Auf der Webseite www.aufstehen.de ist es tagelang schwarze Nacht geworden, wegen Streitigkeiten mit einer Werbeagentur, wie man in der BILD lesen konnte. Es gibt keine digitalen Tools zur Selbstorganisation der Bewegung, sondern lediglich einen Haufen Aufstehen-Gruppen auf der NSA-getriebenen Dauerstreitmaschine Facebook.
Es gab bisher keine überzeugende, mit Biss und Plan durchgeführte Kampagne, die vermocht hätte, die Schwungmasse der 165.000 auch nur annähernd in Bewegung zu setzen. Der größte Mobilisierungserfolg der Sammlungsbewegung liegt bei unter 1.000 Leuten - bei einer Kundgebung mit Sarah Wagenknecht, die solche Zahlen allerdings auch bei einer Lesung ihres Goethe-Buchs in der Münchner Philharmonie erreicht.
Den bisher größten und sichtbarsten Aufstehenblock bei einer Großdemonstration gab es am 1. Dezember bei der Klimademo in Köln. 350 Aufständische lieferten dort eine grandiose Show, sie waren bestens ausgestattet mit Fahnen, Transparenten und großen Heliumballons, Megaphonen und allem drum und ran. Die Stimmung war prächtig. Das machte Lust auf mehr.
Aber in NRW gibt es 17.000 Email-Adressen, die mit insgesamt drei Massenmails zur Demo mobilisiert wurden. Da sind 350 Leute auf der Straße deutlich ausbaufähig.
Die Fahnen, Transparente, Aufkleber und Heliumballons haben die Aktivisten vor Ort übrigens selbst hergestellt. Das ist einerseits gut und eine herausragende Leistung. Andererseits ist das so, weil es bis heute keinen offiziellen Webshop gibt, der Fahnen, Aufkleber und dergleichen zentral anbieten und vertreiben würde.
Trotzdem ist diese Demointervention natürlich ein Erfolg gewesen. Und es gibt auch viele gute Aktionen in der Fläche. Speziell die Inspiration der Gelbwesten in Frankreich hat bei vielen Aufständischen voll eingeschlagen. Es gibt vielerorts Flashmobs und Kundgebungen mit gelben Aufstehen-Westen, wie hier in Leipzig:
Aber es bleibt dabei: die Ausbeute an echten Aktionen ist weitaus geringer, als die Zahlen vermuten lassen konnten. Aufstehen, so hat es den Anschein, steht am Scheideweg. Kann es gelingen, die Masse der zunehmend ratlosen Aufsteh-Willigen nach vorne zu reißen? Oder sollte diese großartige Initiative im Rekordtempo zum Rohrkrepierer werden?
Was ist (nicht) passiert?
Es gibt nun mindestens 165.000 Versionen davon, was genau falsch gelaufen ist. Das nun Folgende ist die meine.
Es war von vornherein klar, dass es keine leichte Aufgabe sein würde, aus der Vielzahl unterschiedlicher Erwartungen und Traditionen, die bei Aufstehen zusammenkamen, eine funktionierende Arbeitsteilung und eine schlagkräftige Organisation werden zu lassen.
Gleichzeitig gab und gibt es jedoch ein Ungleichgewicht in der jeweiligen Zusammensetzung der Basis und der bundesweiten Ebene.
Die Bundesebene dominieren alte oder auch weniger alte Hasen der Parteipolitik. Sie haben begriffen, dass es so nicht weitergehen kann und dass aus dem bestehenden Parteienspektrum nichts mehr zu erwarten ist. Sie suchten also nach neuen Wegen und nennen das eine Bewegung. Aber ihr Erfahrungshorizont ist eben doch von langjähriger Partei- und oftmals Parlamentsarbeit geprägt.
Parteilos und Politikneulinge sind demgegenüber sehr, sehr viele der 165.000 eingetragenen Aufständischen. Aufstehen ist es tatsächlich gelungen, ganz neue Leute für ein politisches Projekt zu begeistern. Der Altersdurchschnitt, das ist wahr, ist auffällig hoch. Aber die Zahl der Greenhorns, die einfach nicht mehr tatenlos auf die Fresse bekommen und deshalb endlich aufstehen wollten, ist enorm. Mindestens 145.000 der 165.000 haben angegeben, parteilos zu sein. Das ist eine Sensation.
In meinem eigenen Umfeld gestanden die unwahrscheinlichsten Leute, sich ebenfalls bei Aufstehen eingetragen zu haben. Das reichte von einem befreundetem Musikmanager über ein Burn-Out-geschädigtes Werbeagenturopfer - bis hin zu meiner Therapeutin.
Die jedoch sagt eines Tages nach der Stunde, sie hätte Ihrerseits noch eine Frage:
„Sie sind doch auch bei Aufstehen dabei. Sagen Sie: wie kann ich denn da jetzt mitmachen? Ich habe mir dieses Polis angesehen und überhaupt nichts verstanden. Es kamen einige Mails, die mir aber auch wenig geholfen haben. Und andere von Aufstehen habe ich bisher nicht getroffen…“
Diese simple Frage: „Wie kann ich da mitmachen?“ konnte die bundesweite Struktur von Aufstehen, konnten aber auch viele lokale Gruppen den meisten der 165.000 bis heute nicht schlüssig beantworten. Es wurde aber auch kein Tool bereitgestellt, das ermöglichen und erleichtern würde, dass Menschen sich selbst finden und organisieren.
In größeren Städten oder dort, wo es von Anfang an organisatorische Kerne gab, fällt dies weniger ins Gewicht. Aber in der Fläche und Breite ist vom vermeintlichen Sturmlauf der Sammlungsbewegung ein allgemeines Rätselraten geblieben.
Hambikultur
Ich möchte die Bewegungskultur im Hambi und die Parteikultur der LINKEN als Kontrast nehmen, um die Probleme und die Chancen von Aufstehen zu analysieren. Wenn ich vorausschicke, dass ich die spezielle Parteikultur der LINKEN für unfassbar missglückt halte, würden mir vermutlich auch die allermeisten Mitglieder der LINKEN zustimmen, und zwar strömungsübergreifend.
Aber beginnen wir mit dem Hambacher Wald. Angewiesen auf jeden Mitstreiter und ständig von RWE-Sicherheitsdienst und Polizei bedroht, herrschte hier eine eigentümliche Mischung aus Grundvertrauen und äußerster Wachsamkeit vor.
Die Kunst, neue Leute sehr schnell ihren Platz in der Bewegung finden zu lassen und sie mit all ihren Fähigkeiten, aber auch Unfähigkeiten in eine funktionierende Arbeitsteilung zu integrieren, war eines der Erfolgsgeheimnisse dieser Bewegung.
Jeder Neuankömmling konnte problemlos und sofort an Aktionsbesprechungen teilnehmen. Allerdings wurden dort sämtliche Mobiltelefone eingesammelt und außer Reichweite gebracht. Dann wurden Aktionen gemeinsam vorbereitet und die Strategie der Bewegung besprochen. Geleitet wurden die Besprechungen von einem Moderationsteam, das sich sehr gut auf die Aufgabe verstand, einen freien Fluss des Gesprächs und eine möglichst breite Beteiligung an der Debatte sicherzustellen - aber auch auf die Fixierung von zählbaren Ergebnissen.
Überhaupt wäre es ein Missverständnis, sich die Hambi-Bewegung als rein basisdemokratische, lediglich spontan organisierte Veranstaltung zu denken. Selbstverständlich gab es hier auch Gesprächskreisläufe im kleinen Kreis, einige konspirative, strategisch arbeitende Gruppen, sowie Menschen mit langer Erfahrung und besonders guter Vernetzung, die womöglich an Entscheidungen größerer Tragweite beteiligt waren.
Daran ist nichts verkehrt. Eine spontan ausbrechende Bewegung wie die Gelbwesten kommt in der Sturmzeit ihres Anfangs gut aus ohne Strukturen, Repräsentanten und definierte Abläufe. Der Kampf um den Hambacher Wald währt aber schon sechs Jahre und natürlich geht das nicht ohne die Herausbildung von Strukturen und eine gewisse Formalisierung der Zuständigkeiten. Für die Küche ist dann eben das Küchenteam zuständig.
Die Frage ist freilich, wie rigide oder offen solche Strukturen dann bleiben.
Linksparteikultur
Nun ist die nahezu tägliche Konfrontations- und Kampfsituation im Hambacher Wald mit ihrer Vielzahl von Aktionen, bei denen eine reduzierte Treue zum Buchstaben des Gesetzes zumindest hilfreich war, natürlich nicht zu vergleichen mit dem Alltagsbetrieb einer Partei oder gar einer Parlamentsfraktion.
Bei der LINKEN allerdings, deren tägliche Hauptangst sich nicht auf die Polizei richtet, sondern auf die Presse und auf die parteiinternen Gegner, herrscht oftmals eine böse Mischung aus Mistrauen und Hysterie einerseits und einer unfassbaren Nachlässigkeit auf der anderen Seite vor.
So hat man panische Angst vor „Durchstechereien“ und „Leaks“. Diese Angst ist soweit verselbständigt, dass die Fähigkeit zur strategischen Kommunikation und zu offenem Austausch ernstlich beeinträchtigt ist. Teilweise kann man sich auch des Verdachts nicht erwehren, dass diese große Angst vor „Leaks“ auch sehr punktuell eingesetzt wird, um Debatten, die einem nicht gefallen, zu unterdrücken.
Andererseits scheint niemand in der Lage, seine Emails zu verschlüsseln. Bei Besprechungen, die für sensibel gehalten werden, liegen 20 Handies auf den Tischen herum.
Kurz und gut: Misstrauen gegenüber dem eigenen Mitstreiter - jeder könnte ein V-Mann oder ein Informant von Katja Kipping sein! - paart sich in der Kultur der Linkspartei mit totaler Nachlässigkeit. Im Hambacher Wald dagegen paart sich das Grundvertrauen unter den Aktivisten mit erhöhter Wachsamkeit.
Die Aktivisten im Hambi waren mit ihrer Mischung extrem erfolgreich. Die Linkspartei mit der ihren… naja.
Schwätzer oder Macher?
Der Wald hat seine eigenen Gesetze. Im Hambi hört man irgendwann von selbst auf, ständig mit seinem Handy zu kommunizieren. Hier kommt es einzig auf das Tun an. Die Tätigen dominieren die Kultur im Wald. Nicht die Schwätzer.
Die granitharte, selbstverständliche Überzeugung, keinerlei Rangunterschiede von Mensch zu Mensch zu akzeptieren, betraf auch die Polizisten, die aus dieser Haltung heraus mit größter Konsequenz geduzt und gleichzeitig mit selbstverständlichem Respekt als Mitmenschen angesprochen wurden. Im Bewegungsinneren kultivierte die Haltung grundsätzlicher Gleichheit eine fantastische Mischung aus Freiheitlichem Geist und bereitwilliger Verantwortungsübernahme.
Auch das hat sich leider in der Linkspartei ganz anders entwickelt. Da wird geschrieben und gechattet und geschwätzt, gestritten und gehetzt, was das Zeug hält. Auf der anderen Seite steht ein sehr überschaubarer Zeitaufwand für echte Aktionen echter Menschen auf echten Straßen.
Diese Problematik alleine an der Linkspartei festzumachen, wäre jedoch viel zu einfach. Der ewige Streitvirus zersetzt wahrlich mehr als nur diese eine Partei. Die gesamte Linke und Arbeiterbewegung, nicht nur in Deutschland, hat seit Marx, Engels und Bakunins Zeiten eine traurige Geschichte geradezu grotesk anmutender Dauerstreitigkeiten angehäuft. Die Versuchung, Meinungsunterschiede der Gegenwart in die Konfliktlinien der Vergangenheit einzuschreiben, scheint dann auch übergroß. Einige meinen, den Kampf zwischen Josef Stalin und Leo Trotzki um das Erbe Lenins fast 100 Jahre danach noch einmal austragen zu müssen.
Es ist noch dazu ein Zug unserer facebooksüchtigen Zeit, dass wir immer nur „Empörungen aufeinanderstapeln“ (Rainer Mausfeld), anstatt uns mit aller Konsequenz ins Tun zu begeben. Gäbe es für alle populären Online-Petitionen einen einzigen vernünftig durchorganisierten Streik und wäre jedes viral gehende Share-Pic in den Sozialen Medien Teil einer Welle echter, tatkräftiger Solidarität, stünden wir besser da.
Eröffnet die Debatte!
Aufstehen ist nun weder eine Bewegung Marke Hambi noch eine Kopie der Linkspartei, sondern ein Mosaik radikal verschiedener Organisationskulturen und Erfahrungshintergründe. Das war von vornherein so beabsichtigt. Immerhin soll Aufstehen ja eine Sammlungsbewegung werden.
Deswegen ist die Kunst entscheidend, aus all der Unterschiedlichkeit ein neues, vielfältiges Ganzes wachsen zu lassen. Es ist klar, dass die entscheidenden Ressourcen hierfür Vertrauen, Transparenz, aber auch Geduld sind.
Vertrauen ist nun keine Stärke vieler Parteileute. Geduld nicht gerade ein hervorstechendes Merkmal vieler Bewegungsaktivisten. Und mit der Transparenz verhält es sich oftmals so, dass man sie vor allem von den anderen einfordert.
Was es deshalb braucht, ist eine organisierte und offen geführte Debatte, die eine Selbstverständigung der Bewegung ermöglicht. Und das Ziel der Sache darf nicht zu niedrig angesetzt werden. Es geht nicht einfach um eine „Demokratisierung“, wenn damit gemeint ist, dass man die inneren Strukturen von handelsüblichen Parteien einfach 1:1 kopiert: Ortsvereine, Delegiertensystem, Bundesvorstand, Geschäftsführung.
Nichts von dem ist grundsätzlich falsch. Aber es ist wohl klar, dass damit nichts Entscheidendes und Neues erreicht werden kann. Immerhin haben wir Erfahrung genug gesammelt, mit Organisationen dieses Musters. Und es gibt ja einen Grund, dass 165.000 Menschen Teil von Aufstehen werden wollten, aber nicht Teil einer klassischen Partei.
Aktion & Experiment
Wir kehren zum Anfang zurück: es gibt eine fundamentale Krise der parlamentarischen Demokratie. Diese Krise hat auch damit zu tun, dass dieses ursprünglich fortschrittliche Modell sich historisch überlebt hat. Denn bitte, wir leben im dritten Jahrtausend. Unsere Vision von Demokratie sollte über einen weiteren Neuaufguss des Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts endlich hinausgehen.
Was wir brauchen, sind neuartige Organe der Demokratie - in der Bewegung und in der Gesellschaft! Es ist ja kein Zufall, dass die meisten der 165.000 als Hauptbeweggrund nicht etwa angekreuzt haben „Frieden“ oder „Soziale Gerechtigkeit“, sondern: „Echte Demokratie“.
Die Leute sind klug. Sie wissen, ohne echte Demokratie wird das nie was mit Gerechtigkeit und Frieden. Hätte man aber einen echt demokratischen Mechanismus, gäbe es niemals eine Mehrheit für Kriege und schreiende Ungerechtigkeiten.
Also Liquid Democracy? Piratenpartei 2.0? Ich bin mir der Unzulänglichkeiten all jener schicken, neuen, digitalen Methoden der Entscheidungsfindung durchaus bewusst. Es ist eben auch nicht so, dass die Parteileute durchgehend das Problem sind und die unerfahrenen Aktivisten die Lösung.
Während die Parteidenke oft nicht sehr bewegungstauglich ist, gibt es auf der anderen Seite eine derart radikale Forderung nach „Basisdemokratie“, dass man mitunter das Gefühl hat, Demokratie beweise sich darin, dass man möglichst lange mit möglichst vielen zu möglichst gar keinem Ergebnis kommt.
Es gibt also keinen Königsweg, der breit und schön gepflastert vor uns läge. Wenn aber das Alte erkennbar nicht mehr funktioniert und das funktionierende Neue noch nicht erkennbar ist, muss man experimentieren. Dann kommt es darauf an, einen ergebnisoffenen Prozess zuzulassen, um Schritt für Schritt herauszufinden, wohin die Reise Richtung „Echte Demokratie“ uns führen könnte.
Da werden einige über ihren Schatten springen müssen. Denn Kontrolle ist eben nicht besser als Vertrauen, davon abgesehen, dass dieses berühmte Zitat gar nicht von Lenin stammt, sondern von Rudolf Virchow. "Nicht wir haben die Revolution - die Revolution hat uns gemacht!", sprach dagegen einst der Volksheld der französischen Revolution, Danton.
Das Herz des Massenexperiements namens "Aufstehen" darf deshalb nicht die Geschwätzigkeit, es muss die Aktion sein. In dem, was dieses Bewegung praktisch leistet, damit unsere Seite nicht mehr auf die Fresse bekommt, sondern endlich wieder gewinnt, muss sich beweisen, was funktioniert und was nicht.
Was dabei das Ziel sein muss, ist aber hoffentlich allen Beteiligten klar. Denn auch eine Linkspartei 2.0 braucht kein Mensch. Und als bloßes Instrument für innerparteiliche Fraktionskämpfe wird Aufstehen für die Masse der 165.000 völlig uninteressant werden.
Was es braucht und was sich die Menschen dringend wünschen, ist vielmehr genau das, wofür Aufstehen gemäß seiner Gründungsdokumente gestartet wurde: eine starke, selbstbewusste Massenbewegung für Echte Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Öko-Wende.
Eine solche Bewegung entsteht aber auch nicht durch Nörgelei und ständige Forderungen, "die da oben" sollten es gefälligst besser machen. Ja, es gibt vieles zu verbessern. Einige besonders schräge Vorgänge verlangen nach Aufklärung.
Aber eine echte Bewegung entsteht durch das Selbermachen. Sie entsteht durch selbstbewusste Macherinnen und Macher, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und sich mit anderen Macherinnen und Machern vernetzen.
Es ist Eure Bewegung, Ihr 165.000 - wo auch immer Ihr steckt.
Sammelt Euch!
Werdet aktiv!
Steht auf!
...damit 2019 ein noch besseres Bewegungsjahr wird!
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