Vor einigen Jahren, als wir an unserem Buch „Über den westlichen Terrorismus — von Hiroshima bis zum Drohnenkrieg“ arbeiteten, fragte mich Noam Chomsky, der renommierte Linguist und Denker, geradeheraus: „Hältst Du es für möglich, dass die meisten Europäer wirklich nichts über die Verbrechen wissen, die ihre Länder auf der ganzen Welt begangen haben?“ „Sie wissen es nicht … Sie wollen es nicht wissen … Sie gehen auf Nummer sicher, dass sie es nie wissen werden.“, antwortete ich.
Es ist eine allgemein anerkannte und bewiesene Tatsache, dass Europa und Nordamerika auf Hunderten von Millionen von Leichen errichtet wurden, die George Orwell „Unpersonen“ nannte. Aber dies hat nie das Unterbewusstsein der weißen Rasse erreicht, die im sogenannten Westen und in der eroberten Welt von Lateinamerika über Afrika bis Asien lebt.
Darüber spricht „man“ nicht
Wenn die Gräuel der Vergangenheit an Universitäten wie Cambridge, Oxford oder an der Sorbonne thematisiert werden, wurden diese vorher sorgfältig abgemildert durch schockabsorbierende akademische Fachbegriffe. Oder sie werden in den europäischen Kneipen mit lautem Jubel und Gläserklirren kleingeredet oder sogar geleugnet.
Es ist nichts, was in der „höflichen Gesellschaft“ angesprochen wird.
Und doch steht das Thema nicht nur mit der schrecklichen Weltgeschichte in Verbindung.
Alles, was wir jetzt auf der ganzen Welt erleben, erwächst zu einem gewissen Grad aus dieser Vergangenheit. Von Kriegen bis zur Plünderung natürlicher Ressourcen; von schamlosen „Regimewechseln“ bis zu furchtlosen Provokationen Russlands, Chinas und des Irans durch den Westen.
Selbst das, was die Menschen lesen oder wie sie denken, hat seine Wurzeln in Kolonialismus, Holocaust und Sklaverei.
Nur das Thema zu erwähnen, hat viele tapfere Männer und Frauen das Leben gekostet. Patrice Lumumba, der den Kolonialismus anprangerte, wurde von den Briten und den USA skrupellos ermordet. Präsident Sukarno wurde gestürzt und bis zu seinem Tod inhaftiert, genauso wie viele andere Menschen.
Den Kolonialismus des Westens und seine Verbrechen gegen die Menschheit, seine Könige, Armeen, Religionen und normale Bürger, anzuprangern, ist ein gefährliches Unterfangen, das oft mit dem Tod enden kann.
Doch sind die Verbrechen so monströs, dass immer wieder große und mutige Leute aufstehen und mit den Fingern auf Europa, die Vereinigten Staaten und die Eliten europäischer Abstammung in Lateinamerika und anderswo zeigen.
Obrador spricht das Unaussprechliche an
So auch kürzlich der links gerichtete Präsident Mexikos Andres Manuel Lopez Obrador (AMLO), der einen Brief an den König von Spanien, Felipe VI, und an Papst Franziskus schrieb, in dem er eine Entschuldigung für den „Missbrauch während der Eroberung Mexikos“ forderte. In Tabasco State vor einer antiken Pyramide erklärte er:
„Es gab Morde, Zwangsarbeit (…) Die sogenannte Eroberung wurde mit dem Schwert und dem Kreuz durchgeführt.“
Präsident Obrador löste einen Sturm aus, sowohl im In- wie im Ausland. Es kam zu heftigen Debatten unter mexikanischen Intellektuellen, Akademikern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und normalen Leuten.
Die spanische Regierung unter Pedro Sanchez lehnte das Schreiben „in aller Deutlichkeit“ ab. Offensichtlich haben „Euro Sozialisten“ heutzutage sehr wenig mit dem internationalen Kampf am Hut.
Die Rechte in Spanien sprach mit noch größerer Boshaftigkeit. Laut New York Times:
„Vor den Wahlen im kommenden Monat bezeichnet Pablo Casado, der Vorsitzende der konservativen Volkspartei, das Verlangen Mexikos als einen Affront gegen das spanische Volk. Spanien, sagte er, solle lieber seine historische Rolle in Mexiko ‚mit Stolz‘ feiern, wie es große Nationen tun, die andere Völker mitentdeckt haben.“
Das ist natürlich eine Beleidigung, aber eine vorhersehbare.
„Wir haben gerettet, was übrig geblieben war, und haben eine neue Kultur geschaffen, aber dieser Völkermord muss anerkannt werden“, erklärte der Wissenschaftler John Ackerman von der Autonomen Nationalen Universität von Mexico, UNAM.
„Es ist nicht unverhältnismäßig“, sagte Jesus Ramirez, ein Sprecher des Präsidenten, der mexikanischen Zeitung La Razon. „Sie, die Spanier, haben die Juden wegen ihrer Vertreibung 1492 um Vergebung gebeten, das Gleiche tat Deutschland für den Holocaust.“
Spanien machte deutlich, dass man sich nicht offiziell entschuldigen werde, und zur Ehrenrettung Spaniens boten sich solche überzeugte Anhänger des Westens an, wie Kolumbien mit seinem Haufen pro-westlicher und vom Westen bezahlter Intellektueller.
Spaniens Überheblichkeitskomplex
Trotz der Tatsache, dass Spanien Millionen der einheimischen Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Mexikos ermordete; Menschen, die zur Zeit der Eroberung eine weitaus fortgeschrittenere Zivilisation hatten als die Spanier selbst; trotz der Tatsache, dass es zahllose Vergewaltigungen, Fälle von Folter und religiösem Fanatismus gab, sowie ungezügelte Plünderungen, gibt es offenbar überhaupt keine Reue in Madrid.
Der tief verwurzelte Überheblichkeitskomplex steuert mal wieder deutlich das Verhalten der Europäer. Die Reaktion Spaniens ist insgesamt aufgeblasen, arrogant und ablehnend.
Die Vulgarität und Arroganz des spanischen Regimes sollten nicht als etwas Neues oder Unerwartetes angesehen werden. Genauso reagiert Großbritannien, wenn Indien oder Pakistan oder ein afrikanischer Staat versuchen, ein Verfahren in Gang zu setzen und sie für Völkermord, Sklavenhandel oder absichtlich ausgelöste Hungersnöte verantwortlich zu machen.
Genauso verhält sich Frankreich, wenn es wegen Verbrechen gegen die Menschheit in Afrika, Asien oder der Karibik angeklagt wird. Oder Belgien, wenn gesagt wird, dass es während der Herrschaft von König Leopold II. für mindestens 9 Millionen Tote im heutigen Kongo verantwortlich sei. Oder Deutschland für den Holocaust, den es auf dem Gebiet des heutigen Namibia begangen hat. Und so geht es immer weiter, denn die Liste der Verbrechen der europäischen Länder ist endlos und nicht anerkannt.
Spanien bildet da keine Ausnahme. Es ist nur so, dass es in der Vergangenheit ein sehr großes Stück vom Kuchen genommen hat, mehr als es schlucken konnte. Und sein Königreich war zu skurril, grotesk fanatisch und primitiv; zu religiös und gierig. Es konnte nicht wirklich gut über seine Kolonien regieren, und daher plünderte und mordete es und zwang die Menschen zum Christentum überzutreten, während es irgendwann viel von seinem „Profit“ an andere europäische Staaten verlor, die einfach in die spanischen „Expeditionen“ investierten.
Mexiko litt schrecklich, vor allem unter der spanischen Eroberung, aber nicht nur darunter: Es wurde auch von Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen ausgeblutet. Aber Spanien begann mit den Angriffen, und logischerweise sollte es das erste Land sein, das sich von Herzen entschuldigt.
Die Vergangenheit ausgraben!
Nicht alle in Spanien sind „empört“ über die Forderungen von AMLO. Einige erkennen an, dass die Vergangenheit nicht begraben werden sollte, dass sie tatsächlich von enormer Bedeutung ist.
„Lopez Obrador ist ein Präsident mit viel Würde. Er hat Recht, vom König eine Entschuldigung für die Grausamkeiten während der Eroberung zu verlangen“, erklärte Ione Bellara, Abgeordnete der spanischen politischen Partei Podemos.
AMLO regiert heute das bevölkerungsreichste spanischsprachige Land der Welt mit einer Bevölkerung, die dreimal so groß wie Spanien ist. Seine Worte sind wichtig. Die Position Mexikos ist wichtig. Sie kann nicht einfach abgetan werden, weder in Madrid, im Vatikan noch in Brüssel.
Mexiko ist eine äußerst komplexe und gespaltene Nation. Wie es fast alle zuvor kolonisierten Länder sind. Europäische Eliten wurden in Mexiko, in Indien und dutzenden anderen Ländern eingesetzt. Wo sie nicht direkt und dauerhaft eingesetzt wurden, wie in Indonesien oder Malaysia, wurden die Einheimischen handverlesen, im Ausland „ausgebildet“ und dann zurückgeschickt, um insbesondere Europa und dem Westen im Allgemeinen zu dienen.
In der Universitätsstadt Cholula, nahe der Stadt Puebla, errichteten die Spanier ihre Kirche auf der ihrem Umfang nach größten Pyramide der Welt — Tlachihualtepetl. Sie steht immer noch da: die Kirche auf der Spitze der Pyramide, unapologetisch. Die lokalen Behörden sind sogar stolz auf ihre Präsenz und fördern sie als „wichtige Touristenattraktion“. Ich hoffe, dass die UNESCO sie eines Tages als Symbol für kulturellen Vandalismus in die Liste „Gedächtnis der Menschheit“ aufnimmt.
Ich sprach mit einer der Kuratorinnen, Frau Erica, und fragte sie nach diesem Wahnsinn. Das war nur ein paar Wochen, bevor AMLO als Präsident vereidigt wurde. Sie erklärte geduldig:
„Uns wird oft dringend davon abgeraten, über die Brutalität in der Vergangenheit zu sprechen. Mexikos Haltung zu seiner eigenen Geschichte ist wirklich schizophren. Auf der einen Seite wissen wir, dass unser Land geplündert und Menschen vergewaltigt und missbraucht wurden, von den spanischen Kolonisatoren, von den Franzosen und dann von den USA. Aber uns Wissenschaftler, Lehrer, Kuratoren, fordert man buchstäblich dazu auf, es zu ignorieren, ‚positiv zu denken‘, ‚nach dem Guten Ausschau zu halten‘ in dem, was mit uns gemacht wurde und was wir geerbt haben.“
In letzter Zeit ändert sich das alles. Jetzt ist es möglich, darüber zu sprechen, sich an die Vergangenheit zu erinnern und Forderungen zu stellen.
In Indien, im Mittleren Osten und in Afrika beobachten die Menschen die Entwicklungen in Mexiko genau.
Sie analysieren auch die Situation in Europa und Nordamerika. In beiden Teilen der westlichen Welt sind Hunderte von Entschuldigungen überfällig. Offen gesagt schulden sie der Welt auch Hunderte von Billionen Dollar für die Ermordung von Millionen Menschen und die Zerstörung ganzer Kontinente.
Hoffnung auf Papst Franziskus
Möglicherweise ist Papst Franziskus viel entgegenkommender als die spanische Regierung.
„Mit diesem Papst könnte es einen Neubeginn für Katholiken und Christen im Allgemeinen geben“, sagte mir kürzlich der renommierte linke Theologe und Philosoph John Cobb.
Bereits 2015 sprach Papst Franziskus mit Bauern, Müllarbeitern und Einheimischen in Bolivien, wo er um Vergebung bat:
„Ich sage das mit Bedauern: Wir haben viele schwere Sünden gegen die Ureinwohner Amerikas im Namen Gottes verübt (…) Ich bitte demütig um Vergebung, nicht nur für die Beleidigungen durch die Kirche selbst, sondern auch für die Verbrechen, die während der sogenannten Eroberung Amerikas an den Ureinwohnern begangen wurden.“
Viele sind davon überzeugt, dass der argentinische Papst Franziskus ein heimlicher Sozialist sei. AMLO kann eine Entschuldigung von ihm erhalten, aber nicht von der spanischen Regierung.
Aber die Diskussion geht weiter. Die ganze Nation diskutiert über ihre Vergangenheit.
Während ich diesen Aufsatz an Bord eines 9 Stunden und 30 Minuten langen Fluges mit Aero Mexiko von Buenos Aires nach Mexiko-Stadt schrieb, gelang es mir, die Hälfte der Crew in die Debatte einzubeziehen.
„Das hat nichts mit mir zu tun“, erklärte ein älterer Flugbegleiter, nachdem er einen Teil meines Aufsatzes gelesen hatte.
„Aber ich will die Vergangenheit meines Landes kennenlernen“, protestierte eine junge Stewardess. „Es ist alles mit unserer Gegenwart und Zukunft verbunden.“
„AMLO kämpft für Mexiko!“, war die vorherrschende Meinung.
Ja, er kämpft für Mexiko. Die westliche Welt widersetzt sich. Aber der weltanschauliche Kampf um Gerechtigkeit geht weiter.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Mexico to Spain and Vatican: Apologize For Your Crimes!.“ Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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