Die wissenschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit — Wo bleibt der Mensch?
Die Coronakrise beschleunigt den Wandel der westlichen Demokratien zu technokratisch organisierten Gesellschaften. Ein Merkmal der technokratischen Gesellschaft ist die Reduzierung des Wirklichkeitsbegriffes auf das Diktum der Faktizität. Der permanente Prozess des Konstituierens von gesellschaftlicher Wirklichkeit, welcher zu einem nicht unerheblichem Maß durch die Kommunikation über subjektive Weltwahrnehmungen — determiniert durch den kulturell vermittelten Diskursrahmen — getragen wird, erlebt durch das Diktum der Faktizität eine Entwertung des Individuellen zugunsten des vermeintlich Funktionalen.
In der technokratischen Gesellschaft ist es nicht mehr seine intuitive Erfassung der Umwelt, welche das Individuum legitimiert, am wirklichkeitsbildenden Diskurs teilzunehmen, sondern sein Wissen über das, was wissenschaftlich überprüft und messbar als unwiderlegbarer Fakt als Wirklichkeit deklariert wurde.
Diese Delegitimierung seines intuitiven Weltzuganges erlebt der Mensch als eine quälende Entfremdung, weil es ihm nicht mehr gelingt, seine persönliche, weit über das technisch Funktionale hinausreichende Wahrnehmung und eben den auf diese Funktionalität reduzierten Wirklichkeitsdiskurs als konsistent zu erleben.
Der Mensch, so entwertet um seine subjektive Sinnhaftigkeit, kann sich ihrer aber dennoch nicht entledigen und sucht verzweifelt einen Rahmen für sein individuelles und affektives Potenzial. Dabei kann in einer technokratischen Gesellschaft ein immenser Konformitätsdruck entstehen, da die Entwertung des Subjektiven mit einer Bedürfnisunterdrückung einhergeht, welche, wenn eine gesamte Population betroffen ist, weniger zum Rebellentum als viel eher zur zwanghaften sozialen Anpassung führt, um nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
Der Sieg des Empirismus
Eine solche Gemeinschaft von konformen und — dies gilt es nicht zu vergessen — dem Diktum der Faktizität unterworfenen Subjekten neigt zu einer Form der Kommunikation, welche bei längerem Fortbestehen zunehmend die Möglichkeit von Kompromissbildungen ausschließt und die Kategorien richtig oder falsch zur singulären Beurteilungsgrundlage jeder Aussage macht. In der extremsten Ausprägung der technokratischen Gesellschaft wird demnach alles Individuelle, etwa das subjektive Gefühlserleben oder die eigene Meinung, irrelevant, ja sogar feindlich und bekämpfenswert, wenn es nicht in den Rahmen dessen passt, was als richtig angesehen wird.
Diese Polarisierung innerhalb des Diskurses geht einher mit einer enormen Aufwertung der Naturwissenschaften, da diese ihre Forschungsergebnisse in der Regel durch Messverfahren belegen können und damit die sichtbare Orientierung dafür bieten, was in der technokratischen Gesellschaft als richtig gilt. Gleichzeitig dringt der Empirismus mit einem ausgesprochenen Hegemonialanspruch in die Geisteswissenschaften ein — und wo diese ihm nicht standhalten können, etwa in der Theologie oder in der Philosophie, werden sie redundant und verlieren ihre gesellschaftliche Legitimation. Jegliche Metaphysik, der Glaube oder Gott — die Technokratie kann unter dem Diktum der Faktizität hier nur Aberglauben erkennen, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem solchen wird redundant.
Das Ende der Kommunikation
Das Menschsein wird in der technokratischen Gesellschaft so zur unlösbaren Aufgabe. Das Diktum der Faktizität verlangt den Verrat am Intuitiven, der Affekt gilt als primitiv. Jede Aussage wird zur bloßen Behauptung, wenn sie nicht wissenschaftlich nachweisbar fundiert ist. Der Bezug auf die wissenschaftliche Studie wird obligatorisch. Wissenschaft wird zum Phänomen der Massen und zum Richtmaß für das Richtige schlechthin.
Eine abweichende Wahrnehmung des Subjekts wird nicht mehr toleriert und als wissenschaftsfeindlich gebrandmarkt. In der Technokratie verliert damit die Wissenschaft ihren prozesshaften Charakter.
Die Suche nach der Wirklichkeit wird ersetzt durch ein Festlegen des Wirklichen, die Wissenschaft wird zur absoluten Instanz des Richtigen und zunehmend auch des Rechten — sie gibt ihren deskriptiven Charakter auf und entwickelt einen normativen Anspruch.
Was durch die beschriebenen Vorgänge verloren geht, ist nichts Geringeres als das Wesen des Kommunikativen selbst. Das Diktum der Faktizität untergräbt in der technokratischen Gesellschaft die Selbstbeteiligung des Einzelnen im sprachlichen Austausch. Die Perspektive des kommunikativen Aktes ist nun nicht mehr darauf ausgerichtet, dass der Mensch die Mitmenschen an seinem Erleben teilhaben lässt (lateinisch „communicare“ — „mitteilen“, „teilnehmen lassen“), sondern darauf, dass er in der Lage ist, sich möglichst faktenbasiert über die in einem bestimmten Moment kursierenden Fakten auszutauschen.
Dieser Art der Kommunikation aber fehlt jegliche Lebendigkeit, sie entwirft keine Vision eines gelingenden Miteinanders. Sie ist darauf geeicht, Fehlerhaftes zu eliminieren, Zufälle auszuschließen und durch die maschinenhafte Perfektion des faktisch Messbaren den Menschen als Mängelwesen abzuwerten. Dieses vermeintlich Perfekte aber kennt keine Grautöne mehr — nur 0 und 1, richtig oder falsch, Leben oder Tod. Die moralische Ausrichtung der technokratischen Gesellschaft entwickelt somit einen totalitären Charakter, was nicht gut ist, muss böse sein. Wer nicht gut ist, ist böse. Und wer will das schon von sich behaupten?
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