„Gut gefüllte Schulsäcke“ hätten wir Kinder. So lobte uns der kantonale Schulinspektor nach dem Schlussexamen in der fünften Klasse. Für den weiteren Lern- und Lebensweg seien wir genügend gerüstet. Da sei er ganz sicher, fügte er augenzwinkernd bei. Der Lehrer lächelte, und die Eltern nickten erleichtert. Wir Kinder waren zufrieden; wir hatten gezeigt, was wir können: sicheres Kopfrechnen, laut lesen, ein Lied singen, und zwar auswendig, etwas Schweizer Geographie. Dazu helvetische Heldengeschichte, eingeordnet am Zeitstrahl. Manches war eingeübt, einiges vorbesprochen, vieles gar auswendig gelernt. Ein bisschen Show gehörte dazu. Das störte niemanden. Das Leben kennt ja die Anklänge an die Theaterbühne.
Ein müdes Lächeln für den antiquierten Rucksack
Die alpine Rucksack-Metapher für die schulischen Inhalte? Das Bild scheint überholt. Es entlockt den Zuhörern vom Fach höchstens ein mildes, müdes Lächeln. Eine Vorstellung aus der pädagogischen Mottenkiste! Was sollen da der Schulsack und sein Inhalt, das Wissen? Er beschwere nur und hindere am zügigen, leichtfüssigen Vorwärtskommen. Darum: keine unnötige Last, kein überflüssiger Ballast.
Der Ruf ist allgegenwärtig: Mit der Digitalisierung lasse sich leichter lernen. Lernen 4.0 brauche keinen Rucksack mehr. In Zeiten von Alexa und Siri sei Wissen jederzeit und überall abrufbar, Faktenwissen darum überflüssig. So die Botschaft der Technikkonzerne und ihr unentwegtes Mantra. Die Digitalisierung revolutioniere den Unterricht und verändere alles.
Lernen bleibt Lernen
Für bestimmte Bereiche mag das zutreffen: für die Arbeitswelt und die Industrie beispielsweise. Die technische Innovation wälzt vieles rasant um. Doch der digitale Lockruf verkennt eines: Es gibt anthropologische Konstanten. Die menschliche Evolution ist nicht mit der digitalen Revolution gleichzusetzen (1). Lernen bleibt Lernen, ob digital oder analog. Und damit Lernen gelingen kann, braucht es nach wie vor Anstrengung und Einsatz, gezieltes und ausdauerndes Üben und Wiederholen sowie den menschlichen Kontakt mit positiven Beziehungen.
Die Technik in der Schule braucht den Menschen, damit sie wirken kann. Das galt für die bisherigen Medien wie Lehrbuch und Taschenrechner; das gilt auch für den Einsatz von Computer, Tablet und Smartboard. Bildung ereignet sich in der Interaktion zwischen Menschen, in Lehr-Lern-Prozessen. Bildung braucht Beziehung. Eben: Pädagogik vor Technik (2).
Ohne Wissen kein Denken und kein Tun
Doch wo liegt die Wahrheit? Im alten Bildungsrucksack oder im neuen Tablet? Weder da noch dort allein. Wir stehen vor keinem Entweder-Oder. Effektives Lernen resultierte stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch.
Gute Lehrerinnen und Lehrer unterschieden schon immer zwischen notwendigem Faktenwissen als Voraussetzung des Denkens und verstehender Einsicht als Grundlage des Könnens. Sturer Drill war ihnen so fremd wie leeres Pauken, das Vollstopfen des Rucksackes ein Tabu. Das führt lediglich zu trägem Wissen. Erfahrene Pädagogen wissen um den Zusammenhang von Oberflächenverständnis und Tiefenverständnis. Damit Schülerinnen und Schüler kreativ und problemlösend denken und handeln können, müssen sie ein gewisses Mass an reproduzierbarem Wissen erworben haben. Durch intensives Üben und Wiederholen — wie die junge Geigerin oder der kleine Himmelsforscher.
Eben: Sie brauchen einen gezielt gefüllten Rucksack. Nur so können sie in den Bereich des Tiefenverständnisses gelangen. Tiefenverständnis basiert auf Oberflächenverständnis. Es reicht darum nicht aus, nur zu wissen, wo etwas steht und wo eine Information zu finden ist. Damit die Schüler in die Tiefe vordringen und die Informationen weiterverarbeiten können, müssen die Fakten im Kopf sein, im geistigen Rucksack — und nicht nur im Tablet.
Ich hab’s gefunden! — Ergo weiss ich es
Die Einsicht, dass es eine grundlegende Differenz zwischen dem Abrufen von Informationen und dem Verstehen einer Sache gibt, droht verloren zu gehen. Im Zeitalter des Internets werden Aneignen und Begreifen vielfach durch Finden ersetzt, geleitet von der Vorstellung: Alles, was es an Wissen gibt, ist schon da. Man muss es nur suchen. Wenn ich es gefunden habe, kommt es automatisch auf die innere Festplatte. Dann habe ich es und weiss es. Zu lernen brauche ich’s kaum mehr; die Kunst liegt einzig darin, etwas zu finden. Doch wer nur weiss, wo und wie er nachschauen muss, um etwas zu wissen, weiss in Wirklichkeit nichts.
Wissen kann ich nicht konsumieren, so wie ich mir ein Glas Wasser einflösse. Das versucht nur der Nürnberger Trichter. Schon Sokrates karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das Gesicht einsetzen wolle. Das Aneignen von Wissen muss durch mich hindurchgehen; ich muss es erarbeiten, in mich einarbeiten, verarbeiten und reflektierend in Zusammenhang setzen. Erst dann kann ich verstehen. Friedrich Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-)Vorgang sinngemäss: „Ich verdaue es“ (3). Und in diesem „Verdauen“ realisiert sich der Bildungsprozess. Bildung als angemessenes Verstehen.
Intelligenz oder Kreativität ohne Wissen taugen nichts
Bildung als angemessenes Verstehen basiert auf verstandenem Wissen, auf Netzen von Sachzusammenhängen; sie müssen den Kindern und jungen Menschen einsichtig sein. Doch ohne Wissen gibt es keine Einsicht und kein Verstehen — und auch kein Können. Darin liegt die moderne Deutung des alten Rucksacks. In diesem Sinn darf er auch gut gefüllt sein. Mit leeren Händen löst man keine Probleme; Intelligenz oder Kreativität ohne Wissen taugen nichts. Das gilt auch für den Umgang mit den neuen Medien. Den Laptop bedient man am besten mit gutem Wissen und Können aus dem persönlichen Rucksack.
Das meinte wohl unser Schulinspektor — auch wenn er andere Fertigkeiten im Kopf hatte als den Umgang mit dem Tablet.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Klaus Zierer: Die Grammatik des Lernens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 4.10.2018, S. 7.
(2) Ders.: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Hohengehren: Schneider Verlag, 2018, S. 93.
(3) Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli, Mazzini Montinari, Berlin/New York, 1988. Bd. 11. S. 539, 608f.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Schwerer Rucksack oder leichtes Tablet?“ im Journal21.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.