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Eine zweifelhafte Alternative

Eine zweifelhafte Alternative

Die Messenger-App Telegram gilt vielen als Garant für Privatsphäre — dies sollte kritisch hinterfragt werden.

Pavel Durov, der zurückhaltend wirkende IT-Entrepreneur und CEO von Telegram sieht sich gerne von einer mystischen Aura umgeben. In Interviews klingen seine Aussagen wenig authentisch und einstudiert. Und auch wenn der aus Russland stammende Milliardär bei jeder Gelegenheit die Meinungsfreiheit und den Datenschutz als sein größtes Anliegen anführt, erlauben sowohl die technischen Details seines angesagten Dienstes als auch sein persönlicher Werdegang Zweifel am Image des digitalen Revoluzzers und unabhängigen Business-Nomaden. Eine naheliegende Schlussfolgerung drängt sich auf.

Pavel Durov wurde am 10. Oktober 1984 in Sankt Petersburg (ehemals Leningrad) geboren. Den Großteil seiner wohlbehüteten Kindheit verbrachte er allerdings im schönen Turin (Italien), wo sein Vater arbeitete. 2001 kehrte Pavel im Alter von siebzehn Jahren nach Russland zurück und beendete dort die Gymnasiallaufbahn. Sein Vater Valery Semenovich Durov, Doktor der Philologie, ist Inhaber des Lehrstuhls für klassische Philologie an der staatlichen Universität von Sankt Petersburg — eben jener Uni, an der auch Pavel im Jahrgang 2006 sein Philologie-Studium abschloss, erstklassig und mit Auszeichnung natürlich. Ein Schelm, wer vermutet, väterlicher Einfluss hätte dabei geholfen.

Im gleichen Jahr begann Pavel zusammen mit seinem Bruder Nikolai die erste Version der russischen Social-Media-Plattform Vkontakte.ru zu programmieren, welche mittlerweile erfolgreich unter dem Namen vk.com firmiert und das russische Pendant zu Facebook darstellt. Nicht umsonst nannte man Pavel Durov seinerzeit den „Mark Zuckerberg von Russland“.

Im November 2010, also nur vier Jahre nach der Erstellung der Alpha-Version, hatte Vkontakte.ru bereits 100 Millionen Nutzer. Seit September 2014 gehört Vkontakte.ru vollständig dem Internetkonzern Mail.ru, der bereits seit dem Jahr 2010 in regelmäßigen Abständen mehrere Hundert Millionen US-Dollar in das neue soziale Netzwerk und damit auch die Durov-Brüder investiert hatte. Denn die hatten einen Blockbuster programmiert.

Den Führungsstab des heute einflussreichsten russischen Social-Media-Imperiums von vk.com mit seinen drei marktbeherrschenden Plattformen bilden Dmitry Grishin und Yuri Borisovich Milner, dessen Name auch in den sogenannten Paradise papers auftaucht. Beide Männer sind äußerst wohlhabende, einflussreiche sowie bestens vernetzte Investoren und haben sicher nicht nur in Russland Kontakte zu Sicherheitsdiensten und Datensammelstellen, die von der Monopolstellung auf dem russischen Social-Media-Markt profitieren möchten.

Nikolai Durov scheint auch unter dem neuen Eigentümer weiterhin technisch bei vk.com involviert zu sein. Pavel Durov dagegen verließ das Unternehmen 2014 nach der Übernahme durch Mail.ru und kritisierte die Fusion öffentlichkeitswirksam als feindliche Übernahme durch Putins Vasallen. Er hatte sich kurz zuvor ebenso lautstark und medienwirksam gegen Vladimir Putins Einflussnahme auf Vkontakte.ru gewehrt.

So gab er zum Beispiel die von Sicherheitsdiensten angeforderten Daten von ukrainischen Protestierenden nicht heraus oder verweigerte die Sperrung von Alexei Navalnys Seite auf seinem reichweitenstarken Portal. Er setzte sich als sperriger Tech-Revolutionär in Szene, der einem russischen Präsidenten die Stirn bietet. Dieses Image sollte sich bei seinem nächsten Vorhaben als Bank erweisen. Nach dem „Drama“ um sein erstes Unternehmen verließ Pavel Durov Russland. Er wird mit der Aussage zitiert, nie mehr zurückkommen zu wollen. Seither inszeniert er sich als digitaler Nomade, Freigeist und staatenloser Anarcho.

Dies unterstreicht ein Interview aus dem Jahr 2016, in dem er unter anderem erklärt: „Regierungen und Staaten sind generell weniger wichtig, als wir annehmen. Sie erhalten Anerkennung für Prozesse, mit denen sie nichts zu tun haben. Ich glaube an schlanke Staaten oder gar keine Staaten. Ich denke, die Mehrheit der Menschen wollen einen starken Staat, einen Big Brother, der sich um sie kümmert.“

Vor seiner medial mystifizierten Flucht ins Exil hat Pavel wohl ein Team fähiger Programmierer aus der Heimat um sich geschart. So gründete er kurz nach seiner Abdankung bei Vkontakte.ru den Messenger-Dienst Telegram, der im Gegensatz zum auf Russland fokussierten Vkontakte.ru ein globales Projekt ist. Der erste Firmensitz von Telegram befand sich denn auch in Berlin. Die App hat mittlerweile geschätzte 750 Millionen Nutzer in aller Welt und wurde bereits über 1 Milliarde Mal heruntergeladen. Das nächste große Ziel sind 3 Milliarden Downloads. Außer Facebook hat diese magische Marke bisher nur TikTok geknackt.

Telegram hat mit der Begründung, dass Datenschutz und Meinungsfreiheit im Unternehmen über allem stünden, über die Jahre mehrfach den Unternehmensstandort gewechselt.

Darüber wurde immer dann vermehrt berichtet, wenn Veränderungen der standortrelevanten Gesetzgebung die Herausgabe von User-Daten oder sonstige Kooperationen mit Behörden forderten und die Privatsphäre der Telegram-Community einzuschränken drohten. Diese Momente nutzte Pavel Durov marketingtechnisch geschickt, um sein Tech-Anarcho-Image zu festigen und mit seinem Telegram-Team weiterzuziehen. Heute residiert man nach eigenen Angaben in Dubai. Unter der Adresse „Business Central Towers, Tower A, Floor 23“ findet sich denn auch eine Postanschrift samt Telefonnummer. Und nach Angaben eines Unternehmensregisters in Dubai auch die Information, dass Telegram derzeit circa 25 Mitarbeiter beschäftigt.

Daher gibt es zum Beispiel nur einen abgespeckten Kundendienst. Die Betreiber des Messengers raten zur Kontaktaufnahme über andere Social-Media-Plattformen wie Twitter, wo der Hilfe suchende User einen Kommentar hinterlassen soll, um Probleme zu melden. Oder sie verweisen schlicht auf ihren FAQ-Bereich (Frequently Asked Questions). Mittlerweile gibt es aber zumindest ein minimalistisches Kontaktformular, über welches man sein Anliegen „direkt“ bei Telegram vorbringen kann. Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Antwortrate offensichtlich wenig befriedigend ist.

Und dann ist da noch das Thema Sicherheit und Datenschutz, welches gemäß Verlautbarungen von Telegram und seinem Gründer im absoluten Fokus des Unternehmens steht. Dass es damit jedoch nicht allzu weit her ist, zeigt eine Analyse der IT-Spezialisten von Heise Security aus dem November 2020:

„Telegram setzt sich in bestimmten Kreisen mehr und mehr als Synonym für sicheren Chat und Chat mit Privatsphäre durch. Doch schon ganz einfache Tests, die jeder selbst durchführen kann, zeigen, dass man sich bei der Nutzung des Messenger-Dienstes quasi komplett nackig macht.“

Wer sicher und mit maximalem Datenschutz kommunizieren möchte, wählt daher wohl besser einen Anbieter wie Element, Threema oder Signal.

Bis zu diesem Punkt könnte die Story von Pavel Durov als äußerst erfolgreiche Karriere eines couragierten Jungunternehmers durchgehen, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Ja, das aufgesetzte Revoluzzer-Image wirkt ein wenig gekünstelt und oberflächlich, und auch die App hat deutliche Schwachstellen. Das Marketingargument verspricht das Gegenteil von dem, was man bekommt — aber das ist bei Werbung ohnehin immer so. Trotzdem ist der Dienst schnell, bietet viele Funktionen und wächst konstant. Und dass der junge IT-Nerd mittlerweile Milliardär ist und vermutlich nirgends Steuern zahlt, so wie fast alle Superreichen — geschenkt. Insgesamt eine echte Gala- und Yellow-Press-Geschichte. Das ist allerdings nur eine Perspektive, die man zu Telegram und seinem Gründer einnehmen kann.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte man mutmaßen, dass Pavel im Umfeld von Putins Vasallen und russischem Sicherheitsapparat ein mächtiges Propaganda-Tool geschaffen hat, welches ihm zu einem wohl bedachten Zeitpunkt von seinen ehemaligen Mentoren aus Regierungskreisen abgenommen wurde. Anschließend hat er sich, medial geschickt flankiert, neue Partner gesucht. Beim Weltwirtschaftsforum (WEF) zum Beispiel. Und damit auch im Finanz-Filz der Institutionen der Europäischen Union und im Silicon Valley.

Auch die Vita von Pavel Durov lässt durchaus andere Schlussfolgerungen zu, die Beweggründe des umtriebigen Geschäftsmannes betreffend. So könnte man zum Beispiel fragen, welche Rolle der Vater und seine Verbindungen beim sagenhaften Aufstieg von Pavel Durov zum russischen Zuckerberg-Pendant spielten. Immerhin war Papa Durov Inhaber eines Lehrstuhls einer staatlichen russischen Universität — und damit vermutlich weder arm noch kritisch gegenüber der russischen Regierung. Im Gegenteil verfügte er über direkten Zugang zur russischen Oberschicht. Was in der ehemaligen Sowjetunion meist bedeutete: Nähe zu Nachrichtendiensten.

Des Weiteren wirft die auf den ersten Blick dramatisch wirkende Odyssee nach seinem Weggang aus Russland Fragen hinsichtlich Pavel Durovs Motiven auf. Um nach dem Verlassen seiner Heimat eine neue Staatsbürgerschaft zu erhalten, spendete der unnahbare Tech-Entrepreneur zunächst 250.000 US-Dollar an einen der kleinsten souveränen Staaten der westlichen Hemisphäre, Saint Kitts and Nevis, ein karibischer Inselstaat.

Zusätzlich brachte er 300 Millionen US-Dollar auf Schweizer Bankkonten in Sicherheit. Mit diesem Kapital startete er nach eigenen Aussagen seinen neuen Messenger-Dienst Telegram. Unklar ist, woher genau dieses Geld stammt. Dass er bei der quasi feindlichen Übernahme seines ersten Unternehmens fair und derart großzügig entschädigt wurde, ist in Anbetracht seines unrühmlichen Abgangs unwahrscheinlich. Ebenso wie die Annahme, dass solch ein Betrag in seinen acht Jahren als CEO von Vkontakte.ru zu erwirtschaften gewesen wäre.

Zudem könnte man seine auf den ersten Blick liberal bis anarchistisch anmutenden Äußerungen, zum Beispiel jene aus dem zuvor zitierten Interview von 2016, durchaus anderweitig auslegen als von Pavel Durov beabsichtigt. Denn die Aussage, dass Nationalstaaten weniger wichtig sind, als der Normalbürger annimmt, ist durchaus auf Linie des WEF, das mit seinem Ansatz von Stakeholder-Kapitalismus und Global Governance schon lange für supranationale Institutionen wirbt, die über den Gesetzen von souveränen Staaten stehen. Redet Durov also nicht über Freiheit, sondern nur globalistischen Machterhaltungskonzepten das Wort?

Wie es der Zufall will, wurde Pavel Durov im Jahr 2017, also im Alter von 33 Jahren, Mitglied der Young Global Leaders des WEF“ — als Repräsentant Finnlands. Vielleicht weil er zuvor vom Nordic Business Forum als „vielversprechendste nordeuropäische Führungskraft“ ausgezeichnet worden war. Ansonsten erschließt sich der Zusammenhang mit Finnland kaum. Die Mitgliedschaft im erlesenen Davos-Zirkel manövriert Durov jedenfalls in den Kreis der globalen Wirtschaftselite. Nicht nur Annalena Baerbock und Emmanuel Macron waren Mitglied in der Kaderschmiede des technokratischen Globalismus, sondern auch Mark Zuckerberg (Facebook), Sergei Brin (Google), Leonardo DiCaprio, Sebastian Kurz und Jens Spahn — um nur einige bekannte Namen zu nennen, die mit dem WEF verbunden sind.

Die mehrfache Verlagerung des Firmensitzes von Telegram könnte man als inszenierte Image-Kampagne deuten, die dem Unternehmen einen Hauch von Anarchismus verleiht und damit Marktanteile bei den gewünschten Zielgruppen erschließt. Man könnte unterstellen, dass es sich bei den Ortswechseln nicht um eine dramatische Flucht vor Staaten handelt, die Telegram zwingen wollen, Daten herauszugeben, sondern um medial nachhaltige Marketing-Moves, lanciert, um eine spezielle Klientel zu erreichen.

Anfang diesen Jahres sammelte Telegram eine Milliarde US-Dollar an neuen Investorengeldern ein. Und am 25. August 2021 wurde Pavel Durov nach offiziellen Regierungsangaben französischer Staatsbürger. Wie — und warum Frankreich — ist unklar.

Festhalten sollte man außerdem, dass die Telegram-App sowohl im Apple App Store als auch im Google-Play Store verfügbar ist. Sprich: Big Tech „toleriert“ Telegram und fördert den einfachen Zugang zu Pavel Durovs Dienst — obwohl man dem Unternehmen permanent die Verbreitung von Fake-News sowie die Duldung von radikalen Inhalten verschiedenster Couleur anlastet. Telegram aber scheint dahingehend eine Sonderstellung zu genießen. Denn andere Anbieter von liberalen Plattformen wurden von den Tech-Giganten schlicht aus ihren Stores entfernt und konnten so nicht mehr heruntergeladen werden.

Trotzdem macht die Zensur von Big Tech nun auch vor Telegram nicht mehr halt. Denn auch wenn man die Messenger-App von den Online-Stores der Marktführer auf sein Apple- oder Android-Smartphone laden und nutzen kann, werden bestimmte Inhalte nun vom Endgerät selbst gefiltert und können so nicht mehr angezeigt werden. Hat man die App aus den Big-Tech-Stores geladen und versucht nun beispielsweise einen Telegram-Kanal namens „Unzensiert“, der Nachrichten und Open-Source-Information aus aller Welt verbreitet, auf einem Apple-Gerät aufrufen, zeigt das iPhone bei dem Versuch, den Channel-Inhalt anzuzeigen, die lapidare Meldung:

„Leider kann dieser Kanal auf deinem Gerät nicht angezeigt werden“ (Apple).

Die Unterdrückung der Inhalte findet also nunmehr direkt auf dem Endgerät von Apple und Google statt — egal von wem und über welche Wege diese auf das Smartphone ausgeliefert werden. Big Tech versucht, die Deutungshoheit im Krieg um Informationen zu erzwingen.

Und da dies im freien Internet kaum möglich ist, nimmt man nun direkt den Anschluss des Kunden ins Visier — das Betriebssystem auf dem jeweiligen Handy. So scannt Apple nach dem jüngsten iPhone-Update auch automatisch alle auf dem Gerät gespeicherten Fotos und sucht selbstständig mittels Artificial Intelligence nach potenziell strafrechtlich relevanten Aufnahmen.

Bei Telegram erlauben Workarounds derzeit noch den Zugriff auf die von den Silicon-Valley-Konzernen unterdrückten Inhalte. Zum einen, indem man nicht die Version der Telegram-App aus den Big-Tech-Stores verwendet, sondern die Version direkt von der Webseite des Anbieters (Anmerkung: Apple hat hier bereits die Verwendung der freien Version gesperrt, während der Artikel entstand).

Zum anderen lässt sich Telegram mittels QR-Code-Scan als Web-Service über Browser am PC oder Smartphone aufrufen. So entsteht die groteske Situation, dass ein iPhone bei Verwendung der Apple-Store-Version von Telegram den besagten „Unzensiert“-Kanal in der App zensiert, man aber die in der App unterdrückten Inhalte auf dem gleichen Endgerät über den Safari-Browser aufrufen kann. Noch. Wer weiß, wie lange Apple und Google ihren App-Lieferanten noch gestatten, unterschiedliche Versionen ihrer Dienste außerhalb der Big-Tech-Stores anzubieten?

An dieser Stelle muss vor allem gefragt werden, warum Pavel Durov überhaupt mit Big Tech zusammenarbeitet und seine App weiterhin über deren Plattformen anbietet, wenn doch die Meinungsfreiheit sein erklärtes Ziel ist. Konsequent wäre es, wenn Telegram sein Angebot aus den Apple- und Google-Stores entfernt.

Sollten Privatsphäre und Datenschutz für das Unternehmen höchste Priorität einnehmen, könnte Pavel Durov seinen Messenger-Dienst fortan ausschließlich über die eigene Webseite offerieren und fragwürdige Partnerschaften und damit die Zensur über die Silicon-Valley-Stores aufkündigen. Dies ist bisher nicht der Fall — obwohl die Mehrheit der Anwender und vor allem technisch weniger versierte Personen ihre Applikationen bevorzugt aus den Stores der Tech-Oligarchen beziehen.

Anstatt autonome Ansätze zu verfolgen und ausschließlich Zugang zu unmanipulierten Versionen seiner Apps zu gewährleisten, um sich klar gegen die Beschneidung von freier Meinungsäußerung durch den digital-finanziellen Komplex zu positionieren, ist Telegram scheinbar Teil dessen geworden, was Pavel Durov stets vorgab, bekämpfen zu wollen.

In der Summe muss man nach Betrachtung vorgängig genannter Punkte zur Vermutung tendieren, dass Telegram nicht besser ist als die Datenkraken aus dem Silicon Valley. Diese verkaufen ihre Werbeslots bekanntermaßen gewinnbringend an große Marken wie Coca-Cola, Mercedes-Benz und Disney — oder auch an Regierungen, die ihre Propaganda verbreiten möchten. Wer aber garantiert, dass nicht auch Telegram alle Daten sammelt und diese heimlich kommerziell verwertet? Vielleicht handelt es sich nur um einen anderen Abnehmerkreis, der weniger an Öffentlichkeit interessiert ist als der typische Facebook-Werbekunde. Dafür aber umso mehr am Verhalten bestimmter Bevölkerungsgruppen, die versuchen, Big-Tech-Portale zu meiden.

Exakt nachvollziehen lässt sich das nicht, da Telegram keine detaillierten Geschäftszahlen oder Strategiepapiere veröffentlicht. Fragen dazu beantwortet das Unternehmen nicht. Im Hinblick auf die ab 2021 angekündigte Monetarisierung hält man sich ebenfalls bedeckt. Auf der FAQ-Seite des Unternehmens gibt es dazu lediglich ein vages Statement:

„Telegram wird 2021 mit der Monetarisierung starten, um die Infrastruktur und die Gehälter der Entwickler finanzieren zu können. Das Erzielen von Gewinnen wird jedoch nie das Endziel von Telegram sein.“

Ebenso bleibt im Dunkeln, warum Telegram ein neues Protokoll entwickelt hat, anstatt bewährte Lösungen zu verwenden. Focus schreibt dazu völlig korrekt in einem Artikel:

„Auch die Verschlüsselung der Chats basiert bei Telegram auf einem proprietären Protokoll — das heißt, externe Sicherheitsforscher können dieses nicht einsehen. Zwar gibt es eine Dokumentation, die zeigt, wie das Protokoll funktioniert, jedoch keinen Code. Somit liegt es an Telegram selbst, etwaige Sicherheitslücken zu entdecken und zu schließen. WhatsApp hingegen nutzt seit einiger Zeit den quelloffenen Algorithmus von Signal zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Chats und Medien.

Obendrein wird Telegram stets als quelloffene App angepriesen — das spräche eigentlich für den Messenger, denn Open-Source-Apps können von externen Experten begutachtet und analysiert werden und Bugs oder Sicherheitslücken werden schneller gefunden. Allerdings gilt das nur für die Clients. Der Servercode von Telegram ist nicht öffentlich zugänglich, man weiß also nicht, was auf den Servern des Anbieters passiert. Obendrein ist auch der Standort der Telegram-Server nicht bekannt und damit auch nicht die dort geltenden Datenschutzgesetze.“

Im Lichte dieser Informationen könnte man die Hypothese wagen, dass Telegram schlichtweg entwickelt und zielgruppenorientiert vermarktet wurde, um den Teil der Bevölkerung zu erreichen, der Mainstream, Big Tech und Regierungen nicht traut. Man hat die App in Bezug auf ihr Image so positioniert, dass sie den kritisch denkenden Teil der Menschen anspricht. Vor diesem Hintergrund machen auch die zusätzlichen Funktionen der App Sinn, die andere Anbieter vermissen lassen. Zum Beispiel das Erstellen von Kanälen, über die eine unlimitierte Anzahl von Medien jeglichen Formats geteilt werden kann. Oder auch die Tatsache, dass es kaum Upload-Beschränkungen gibt, man Gruppen für bis zu 200.000 Personen erstellen kann und mit seinem Broadcast ein unlimitiertes Publikum ansprechen kann.

Wären die über solche Funktionen gewonnenen Daten nicht ungemein nützlich, wäre man an den Informationen, Meinungen, Strömungen und Ängsten seiner Gegner interessiert? Vor allem, wenn diese sich weigerten, die offiziellen oder etablierten Kanäle für ihre Kommunikation zu nutzen. Ist Telegram somit nur ein marketingtechnisch geschickt positioniertes Abfangnetz für oppositionelle Strömungen und systemkritische Meinungen, um diese in der Folge besser dokumentieren, analysieren und kontrollieren zu können?

Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten. Die Hypothese erscheint abschließend jedenfalls wahrscheinlicher als Pavel Durovs eigene Telegram-Marketing-Erzählung vom bedingungslosen Kampf um Meinungsfreiheit. Auch wenn sich die vorgängig erläuterte Hypothese auf Indizien gründet, lassen diese doch primär eine Schlussfolgerung zu: Telegram ist ein Trojanisches Pferd in digitaler Form, und die hehren Versprechen des Gründers sind wenig wert. Die neuen Davoser Freunde des Telegram-Gründers haben ihn vermutlich nicht umsonst unlängst zum Protegé erkoren. Und sie denken vermutlich ähnlich wie ein einflussreicher Bankier, der mit den Worten zitiert wird:

„Wenn es eine Opposition gibt, kann sie sicher sein, dass wir sie kontrollieren.“

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