Die Bundesregierung hat dem Druck, den Freunden der israelischen Regierung beizustehen, um die Kritik an der israelischen Politik noch wirksamer bekämpfen zu können, nachgegeben. Eine verbindliche Definition des Antisemitismus sollte diese Keule noch schlagkräftiger gegen die verbreitete und immer schärfere Kritik einsetzbar machen. Nun ist sie da.
Die Regierung hat sich dabei auf Arbeiten der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA), eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Institution mit Sitz in Berlin, gestützt. Die Definition ist im Mai 2016 von den 31 Mitgliedsstaaten der IHRA verabschiedet worden. Israel, Großbritannien, Österreich und Rumänien haben sie bereits übernommen. Doch was bringt sie? Wie die ZEIT berichtet, empfiehlt die Bundesregierung, die Definition zB. in Schulen und in der Ausbildung von Justiz und Polizei zu verwenden. Damit soll die Jugend frühzeitig gegen Kritik an israelischer Politik immunisiert werden, und vor allem sollen die Gerichte einen Leitfaden erhalten, um bestimmte Straftaten einheitlich als antisemitisch einzuordnen.
Schauen wir uns allerdings die Definition genauer an, kommen Zweifel, ob sie das wird leisten können. Der erste Satz lautet: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.“ Kann? Die „Wahrnehmung“ muss sich also gar nicht als „Hass gegenüber Juden“ ausdrücken. Antisemitismus ist also einfach „eine bestimmte Wahrnehmung“, gleichgültig, ob sich in ihr Hass gegenüber Juden ausdrückt oder nicht. Doch welche „bestimmte Wahrnehmung“ ist es dann? Der zweite Satz der Definition gibt darüber aber keinen Aufschluss: „Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Statt Schulen, Justiz und Polizei nun darüber aufzuklären, was Antisemitismus wirklich ist, gibt sie ihnen ein weiteres Rätsel auf. Denn Antisemitismus kann sich auch „gegen nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum“ wenden. Wie das? Kann damit die Kritik an der Bundeskanzlerin, den beiden christlichen Kirchen oder der Bundesbahn auch antisemitisch sein? Oder folgt die Regierung damit der verklemmten „Logik“ der „Anti-Deutschen“, die die Kritik am Finanzkapitalismus als antisemitisch einstufen, da der Jude historisch immer mit dem Finanzsystem identifiziert werde? Diese „Definition“ lässt den Suchenden verwirrter zurück als vor ihrer Lektüre.
Einen Hinweis zur Auflösung dieser Rätsel vermag eventuell der Zusatz zu der Definition geben, dass „auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein kann“. Darauf zielt auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, der den Beschluss der Bundesregierung mit dem Satz begrüßte: "Antisemitismus im Gewand vermeintlicher Israelkritik gilt es ebenso zu bekämpfen wie die alten Vorurteile gegenüber Juden". Das ist offensichtlich des Pudels Kern. Der weitere Hinweis der Regierung, dass eine israelische Entscheidung „kritisiert werden (darf), wenn sie kritisiert wird, wie eine Entscheidung in Polen, Amerika oder China“, kann die Kritiker allerdings nicht glücklich machen. Denn eine Kritik à la Böhmermann an Erdogan würde gegenüber Netanjahu ohne wenn und aber als antisemitische Verleumdung geahndet werden. Nein, es geht um die Illegalisierung der Kritik an der israelischen Besatzungspolitik in öffentlichen Auftritten und Veranstaltungen - hier muss das Grundrecht auf freie Rede seine Grenzen haben. Denn die bisherigen Versuche, private oder öffentliche Institutionen zur Kündigung ihrer Säle für derartige Veranstaltungen zu bewegen, scheiterten mehrfach vor Gericht. Aber es bestehen erhebliche Zweifel, ob diese Begriffserklärung jetzt helfen wird.
Nehmen wir die Bundesregierung beim Wort ihrer Erklärung, so hat sie sich listig aus der Affäre gezogen. Beiden Ministern, die die Erklärung der Öffentlichkeit vorstellten, Sigmar Gabriel und Thomas de Maizière, war gewiss noch in Erinnerung, dass Gabriel im März 2012 nach einem Besuch Hebrons die israelische Regierung hart anfasste und auf Facebook seinen Eindruck teilte:
„Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.“
Für dieses Urteil, das viele im politischen Berlin teilen, aber nicht öffentlich verkünden, gibt es gute Gründe. Für den Zentralrat muss es jedoch purer Antisemitismus gewesen sein, den kein einfacher Abgeordneter politisch überlebt hätte. Diesen Eklat im Hinterkopf musste die Definition so inhaltslos, beliebig und nichtssagend ausfallen, dass sie jeden und niemand dingfest machen kann und auf keinen Fall justiziabel ist. Das ist ihr gelungen.
Abgesehen davon, dass diese Erklärung auch für die staatstreueste Justiz nicht bindend ist - sie ist ein Regierungsbeschluss, kein Gesetz -, ist sie so unbestimmt und widersprüchlich, dass sich jeder seinen eigenen Antisemitismus-Reim darauf machen kann. So kann sich jeder dem Unsinn der israelischen Regierung anschließen, dass die UNO- Generalversammlung und insbesondere der Menschenrechtsausschuss wegen ihrer kritischen Resolutionen antisemitisch seien. Er kann das aber auch als offensichtlich abwegig ablehnen. Der Vorwurf „Apartheid-Regime“ kann nach dieser Definition ebenso gut als „Angriff auf den Staat Israel als jüdisches Kollektiv“ gewertet werden, wie der nachweisbare Befund, dass es sich bei den Siedlungen in den besetzten Gebieten um einen völkerrechtswidrigen Siedlerkolonialismus handelt. Dazu bedarf es allerdings nicht dieser Regierungserklärung, die wiederum nicht fordert, derartige „Israelkritik“ als antisemitisch zu bezeichnen.
Dass Antisemitismus ein Rassismus ist, wird jeder unterschreiben. Das wäre zwar eine präzise, jedoch zu enge Definition, um „Israelkritik“ darunter zu fassen. Sie musste also weiter, unbestimmter und ohne genaue Konturen gefasst werden. Dass Zionismus eine Form des Rassismus ist, bildete zwar 1975 den Gegenstand der Resolution 3379 der UN-Generalversammlung und ist auch wissenschaftlich begründbar. Die Resolution war politisch jedoch nicht haltbar. Mit dem Untergang der Sowjetunion stimmte Boris Jelzin in seinem ersten Jahr der Präsidentschaft 1991 der Rücknahme der Resolution zu, die im Dezember 1991 erfolgte.
Wir bewegen uns hier also auf glattem politischem Parkett mit der Gefahr, bei jedem Schritt auszurutschen. Eine wissenschaftliche Definition würde dem politischen Ziel, die Kritik an der israelischen Politik zu unterbinden, nicht dienen. Es musste also eine politische multiflexible Formel her, von der der Zentralrat und all die verbissenen Parteigänger der israelischen Besatzungspolitik enttäuscht sein müssen, wenn sie sie einmal genauer gelesen haben.
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