Bei der Publikation von Mira Radojević und Ljubodrag Dimić mit dem Titel „Serbien im Großen Krieg 1914 — 1918“ handelt es sich um eine Sonderausgabe des Belgrader Forums für eine Welt von Gleichberechtigten (1). Das Buch liegt in vier Sprachen vor, serbisch, russisch, englisch, deutsch. Das Belgrader Forum für eine Welt von Gleichberechtigten ist eine Nichtregierungsorganisation, der ehemalige Außenminister von Jugoslawien, Živadin Jovanović, führt den Vorsitz. Diese Gruppe, die im Wesentlichen aus Intellektuellen besteht, widmet ihre Hauptaktivität der Herausgabe von Publikationen mit dem Schwerpunkt Balkan und seine Geschichte, unterhält eine Homepage mit aktuellen Themen, zum Beispiel die Preisverleihung an Peter Handke, führt regelmäßig Tagungen durch, die jeweils sehr gut besucht sind und vom Engagement der Teilnehmer getragen werden. So wurden beispielsweise alle Vorgänge um den Krieg von 1999 dokumentiert, scharfe Stellungnahmen gegen den Krieg veröffentlicht, wie auch Michel Chossudovsky von US-amerikanischer Seite.
Zur Aktualität des vorliegenden Buches hat die Tatsache beigetragen, dass die Frage der „Kriegsschuld“, in diesem Falle am Ersten Weltkrieg, wiederum mit unverhohlener Dreistigkeit aufgetischt wird. Besonders laut wird die Trommel der Kriegsschuld in Deutschland geschlagen. Diese Tatsache fand kürzlich auch ihren Niederschlag in einer unsäglich manipulierten Stellungnahme des Europäischen Parlaments mit Zielrichtung gegen Russland. Aber nicht nur Russland, sondern auch England stehen im Fokus. Der völkische Flügel der AfD um Höcke betreibt das Aufwärmen, wohl aus innenpolitischen Gründen und um Wähler zu sammeln.
Dringlich genug, höchst dringlich, also die Stimmen der serbischen Historiker aus Belgrad. Mira Radojević und Ljubodrag Dimić widmeten sich mit Hingabe der Darlegung der Kriegshintergründe des Großen Krieges 1914 — 1918 gegen die Serben. Sie hoffen, dass ihre Darlegungen in die Öffentlichkeit einfließen, auch in die der EU. Mira Radojević und Ljubodrag Dimić sind sich jedoch bewusst, dass diese Stimmen allzu leicht durch die politischen Machtzentren erdrückt werden, die das historiografische Bild des Ersten Weltkriegs ändern wollen. Die Autoren gehen davon aus, dass die neuere Geschichte schon seit längerer Zeit von einer revisionistischen Geschichtsschreibung unter Beschuss genommen wird. Der revisionistische „Anschlag“ leugne Fakten und mit seinem Angriff auf die wissenschaftliche Methodik werde das kollektive Gedächtnis sinnentleert. Wie Recht sie haben …
Ein Blick zurück: 1999, als die Hyänen mit ihrem alles zerfleischenden Gebiss über Peter Handke hergefallen waren, gab es in Deutschland nur sehr wenige aufrechte Publizisten. Es war die Zeit einer mental-psychologischen Vorbereitung auf den Krieg. Der Krieg 1999 gegen Jugoslawien war kurz. Danach „beruhigten“ sich die Hyänen, die Beute war gemacht, der Bauch gefüllt, der Kadaver lag in der Sonne, die unbarmherzig über Jugoslawien brannte.
Man vergass später allzu gerne, dass auch mit diesem Krieg der gesamte Balkan und seine nun zerstückelten Gebiete zum wehrunfähigen Opfer von Großmachtpolitik wurden, die nun materiell und institutionell dominieren und befehlen konnte, wie es gerade passte.
Und so ist es bis heute. Auf der Agenda steht die Unterjochung, Selbstbestimmung zuzulassen steht gar nicht zur Debatte. Wer solle Serbien „an sich binden“, Deutschland oder Frankreich? Solle Österreich nicht die Rolle eines „Primus inter Pares“ für den Balkan spielen, wird weiter gefragt, gefordert?
Geschichtliche Parallelen drängen sich auf. Die Autoren drangen tief in die Geschichte des Ersten Weltkriegs ein, wie sie sich aus zahlreichen Quellen erschließt. Wer seine tief eingewurzelten Vorurteile über die „Serben“ eventuell einer Revision unterziehen will, wird das Buch lesen. Wer das nicht in Betracht zieht und in alle Zukunft auf die „serbischen Nationalisten“ spucken will — wird leider als ignorant in die Geschichte eingehen. Doch deren gibt es viele.
Die Darlegung der Ereignisse beginnt mit Serbien um die Jahrhundertwende — vom Berliner Kongress bis zum Attentat von Sarajevo. Der Berliner Kongress sei der erste offene Schlag, den der deutsche Imperialismus bei seinem Marsch zur Weltmacht gegen die Balkanvölker richtete, so zum Beispiel Đorđe Stanković (2). Doch auch die Habsburger Monarchie galt als der „gefährlichste Feind des serbischen Volkes und Feind aller Slawen“ (3).
Generell bewirkte, so die Autoren, die Anwesenheit von Großmächten, die nicht zum Balkan gehörten, eine Vertiefung der Konflikte, die daher tragischer verliefen. Die Liebe zur Darstellung im Detail erweist sich als segensreich, gewinnt doch der Leser überhaupt erst einen Eindruck, mit welchen inneren und äußeren Zerreissproben das Volk der Serben zu tun hatte. Die feste Absicht der Serben war, einen serbischen Staat zu errichten, das Volk der Serben zu vereinen. Um eine Vorbereitung des serbischen Volkes, als Staat, auf das zwanzigste Jahrhundert zu ermöglichen, wurde die Errichtung von Schulen als geeignete Maßnahme gesehen. Eine Hochschule wurde 1867 in Belgrad gegründet, man wollte eine intellektuelle Elite heranbilden. Das damalige Serbien war 1914 weder willens noch in der Lage, einen Krieg zu führen. Die Schwäche und ungenügende Ausrüstung der Armee stellte jedoch einen Anreiz für die Feinde Serbiens dar. Und so nahm das Unheil seinen Lauf.
„Die Verknüpfung der aristokratisch-agrarischen und industriell-bürgerlichen Eliten mit dem Militär und ihre Bemühungen, die Stellung in der deutschen Gesellschaft zu bewahren, schlug sich auch auf der außenpolitischen Ebene nieder in der Formulierung offensiver Ziele und einer Orientierung auf Militarismus. Die Allianz ‚Rittergut‘ und ‚Hochofen‘ … war der harte reaktionäre Kern, der eine Schlüsselrolle in den Ereignissen, die zum Ersten Weltkrieg führten, spielen sollte …“ (4).
Schöner könnte man den deutschen Militarismus zu jener Zeit nicht beschreiben, als Fritz Fischer es 1979 tat.
Auch der österreichische Adel war alarmiert. Er sah die „slawische Flutwelle“ steigen, man fürchtete das „Ende der Deutschen in Österreich“, so der deutsche Gesandte am Vorabend des Krieges (5).
Es würde der Sache nicht gerecht, versuchte man, die detail- und faktenreiche Darstellung, die Informationsdichte dieses Buches nochmals zu verdichten. Deutlich wird, dass die Zerstörung Serbiens von „lebenswichtigem Interesse“ für die Habsburger Monarchie war. Die Furcht vor einem Zusammenwachsen der serbischen Teilregionen war riesig. Ein einheitlicher Staat, eine Nation war das echte und nicht verhehlte Interesse der Serben. Sie wollten eine Nation bilden, mit allem, was in der damaligen geschichtlichen Ära dazugehörte.
Über das Attentat von Sarajevo, das zum Beginn des Großen Krieges führte, gibt es wohl unzählige Varianten. Kern ist jedoch, dass sich die Beschuldigungen gegen „… die Serben …“ richteten.
„Die Serben“ sollen es bis heute gewesen sein. Bis 1999 richtete sich die Politik gegen sie und wird es wohl weiterhin tun — geheimdienstlich, militärisch, wirtschaftlich, geostrategisch.
Bis heute ist eine Mitwisserschaft der serbischen Regierung weder am Attentat noch an dessen Vorbereitung bewiesen (6). Vor dem geistigen Auge tauchen die Lügen auf, die Scharping, Fischer, Schröder und die Regierung Kohl, in der Vorphase des 1999 Krieges, auftischten. In dem Maße, wie die wirklichen Hintergründe der Zerstückelung Jugoslawiens aufgearbeitet und die Drahtzieher benannt werden, in diesem Maß kann ein bisschen Gerechtigkeit durch das Lügendickicht aufscheinen. Wir müssen jedoch nicht abwarten, bis die heutige deutsche Regierung den Bruch des Völkerrechts von 1999 zugibt — sie wird es nicht tun, denn sie will als die „Friedensmacht“ einen Sitz im UN-Sicherheitsrat ergattern und als die „Friedensmacht“ neue wirtschaftliche Abhängigkeiten schaffen, an Verhandlungen unter falschem Vorzeichen teilnehmen, und sich in Wirklichkeit weitere satte Filetstücke/Ressourcen einheimsen. China steht ja in der Türe …
Ein kompliziertes Zusammenspiel, auch auf diplomatischer Ebene ausgetragen, — es gab auch Stimmen gegen den Krieg — konnte die Kriegserklärung gegen Serbien durch Kaiser Franz Joseph nicht aufhalten. Serbien muss sterbien, hinter dieser Propagandawelle stand die klare Unterstützung von Berlin, dass Serbien so bald wie möglich als eine politische Tatsache vom Balkan beseitigt werden müsse (7). Kanzler Bethmann Hollweg erklärte im Reichstag am 4. August 1914, dass man den Krieg nicht gewollt habe. Die deutsche Regierung hatte im August 1914 ein Weissbuch erstellt, in dem die Dokumente zum Beweis der Unschuld der Deutschen am Ausbruch des Krieges gesammelt waren. Bereits Mitte der 1920iger Jahre wurde dieses Werk von einem Teil der kritischen deutschen Öffentlichkeit als das verlogenste Buch über den Kriegsausbruch betrachtet (8).
Dem nicht enden wollenden Gemetzel von Hunderttausenden jungen Männern, hungernden und verstümmelten Zivilisten folgten die Jahre nach dem Kriegseintritt 1914. Ein Krieg, wie ihn die Welt bisher noch nicht gesehen hatte, hatte begonnen. Deutschland suchte einen Weg, über den Balkan und die Türkei nach Osten vorzudringen. Das serbische Volk wurde abgeschlachtet. Hinrichtungen durch die österreichisch-ungarische Armee waren an der Tagesordnung. Gnade sei schädlich gegen eine solche Bevölkerung und wurde streng geahndet.
Diese bis zum äußerten gehende Grausamkeit rief eine Gruppe von Kriminologen auf den Plan, darunter den schweizerischen Arzt und Forensiker Archibald Reiss. In einem Bericht sammelt er die Fakten. Die von den Henkern gewählte Todesart sei sehr vielfältig gewesen, die Opfer seien vor oder nach ihrem Tod verstümmelt worden; sie seien oft erstochen, lebendig verbrannt, gesteinigt worden, Finger oder Zehen abgeschnitten, den Frauen wurden die Brüste abgeschnitten, Säuglinge den Schweinen zum Fraß vorgeworfen. Der Bericht von Professor Reiss verursachte Entsetzen in der zivilisierten Welt. Henry Barbusse versuchte, durch das Aufzeigen einer Reihe von Einzelverbrechen Solidarität gegenüber den unschuldigen Opfern zum Ausdruck zu bringen.
Die Bevölkerung wurde, so Barbusse durch Terror und Angst in den Wahnsinn getrieben.
Auch John Reed, der mehrere Monate später nach Serbien gekommen war, stieß überall auf die Beweise und Spuren dieser Verbrechen. Er bestätigte den Wahrheitsgehalt der Befunde der Schweizer Ärzte um Reiss: Es habe sich ausnahmslos um alte Männer, Frauen und Kinder gehandelt, gegen die die Strafexpedition der Habsburger veranstaltet wurde (9).
Serbiens Staatsprogramm im Jahr 1914 bestand darin, eine allgemeine Festigung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu erreichen. Es hätte dazu Jahrzehnte des Friedens nach den erschöpfenden Balkankriegen gebraucht. Ein starker südwestslawischer Staat sollte entstehen, und Serben, Kroaten und Slowenen sollten sich daran beteiligen. Auch Montenegro wurde von Nikola Pašić als zu Serbien zugehörig betrachtet. Doch der Krieg dauerte an, und das Buch zeigt auf, welche Fronten bestanden. Für Militärhistoriker ergeben sich interessante und neuartige Einblicke in das Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs.
Der Krieg endete 1918. Für die Serben, Kroaten und Slowenen waren die Ziele des Königreichs Serbien erreicht. Die Schaffung des gemeinsamen Staates erfüllte die Menschen mit einem Stolz, in den sich zwangsläufig die Trauer um die menschlichen und materiellen Opfer mischte. Serbien hatte zwischen 1914 und 1918 370.000 Soldaten verloren. Es waren 114.000 Kriegsinvaliden zu verzeichnen, weitere 630.000 Menschen waren an Hunger und Krankheiten und in den Gefangenenlagern gestorben. Mehr als eine halbe Million Kinder waren nun Waisen.
Der Balkan war und ist aufgrund seiner geografischen Lage prädestiniert, Opfer der Großmachtinteressen zu sein. Früher der Durchbruch nach Osten, heute ein Wall gegen Russland und China.
Das Mittelmeer muss auch beherrscht werden, ob malerische Hafenstädte NATO-Kriegsschiffe verbergen? Neue Hafenausbauten der NATO sind in Planung. Camp Bondsteel musste als strategisches Zentrum errichtet werden. Man muss die Absichten der EU und der USA nicht im Einzelnen kennen, um zu erahnen, dass wieder Böses im Gange sein könnte. Im Namen einer pervertierten Moral sollte der nächste Krieg aber nicht geführt werden können. Wird man es gleichwohl versuchen? Das Buch ist ein hervorragender Beitrag gegen den geschichtlichen, politisch motivierten Revisionismus, ausgezeichnet geschrieben, mit Quellenangaben, die nichts zu wünschen übrig lassen. Unsere Hochachtung!
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Serbien im Großen Krieg 1914 — 1918“, von Mira Radojević und Ljubodrag Dimić,
Verlag: Srpska knijzevna zadruga, Belgrad 2014
ISBN 978-86-379-1277-4 (SKZ), 334 Seiten
(2) ebd. S. 11f.
(3) ebd. S. 15
(4) ebd. S. 46f.
(5) ebd. S. 53
(6) ebd. S. 84f.
(7) ebd. S. 119
(8) ebd. S. 122
(9) ebd. S. 147f.
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