Als ein Wunder geschah…
In diesem Umfeld absolvierte ich als 16jähriger und in Bayern mein Coming Out. Ich war davor jahrelang sehr allein mit meinen inneren Kämpfen gewesen. Und auch danach wurde zwar vieles besser, aber bei weitem nicht alles.
Ich habe homophobe Gewalt erlebt, Mobbing und Diskriminierung. Ein ganz normales schwules Leben halt.
Was allerdings gleichzeitig passiert ist, war für mich ein regelrechtes Wunder. Ich tauchte auf aus Depressionen und Einsamkeit und fand mich als Teil einer Generation wieder, die mutig aufstand. Plötzlich explodierten die CSDs. Plötzlich wurden wir zu Hunderttausenden, zu Millionen sichtbar. Ich war nicht nur nicht mehr allein. Ich war Teil einer riesigen, starken, bunten Welle.
Und irgendwann war das auch für die Medien und die Parteien nicht mehr zu ignorieren. Natürlich war die Medienberichterstattung zunächst meistens katastrophal und klischeebeladen - und ist es bis heute noch oft genug. Und natürlich hat die Politik taktiert und gezögert und angetäuscht und uns dann doch zumeist wieder hängen lassen.
Aber der Druck stieg und das Selbstbewusstsein queerer Menschen war, nach diesem phoenixhaften Aufstieg aus den Trümmern der AIDS-Katastrophe, nicht mehr so leicht zu brechen.
Schulz? - Druck, Druck, Druck!
Dass die Ehe für alle heute durchgesetzt wurde, ist diesem Druck geschuldet. Und ausschließlich diesem Druck, denn die Strategen und Taktierer mussten bis zuletzt zur Jagd getragen und geschlagen werden.
Dass etwa die Schulz-SPD sich nun in letzter Minute an die Spitze derer schieben möchte, die gleichen Rechte für Schwule und Lesben mutig erkämpft haben, darf als dreiste Lachnummer bewertet werden.
Denn exakt diese parlamentarische Mehrheit jenseits der Union, die nun für die Öffnung der Ehe genutzt wurde, steht lange, lange Jahre schon ungenutzt im Bundestag herum.
Mit dieser Mehrheit könnte mit anderen Worten die ganze schöne Politik, die sich SPD, Grüne und LINKE in die Wahlprogramme geschrieben haben, genauso schnell beschlossen werden, wie jetzt die Öffnung der Ehe.
Aber die SPD stimmt lieber mit der Union. Und die Grünen tun das oft genug und sie tun es sehr zuverlässig, wenn es um neue Kriegseinsätze der Bundeswehr geht.
Deutsche Fortschrittsheuchelei
Und wir sollten nicht übersehen: Die Öffnung der Ehe in Deutschland kam am Ende überraschend - aber sie kam spät.
Deutschland, das sich von der Ökologie und bis zu den Menschenrechten so gerne als Hort der Fortschrittlichkeit inszeniert, ist später dran mit der Ehe für alle als beispielsweise die USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien und Holland, später als traditionelle vatikanische Hochburgen wie Spanien, Portugal und Irland, später als Mexiko, Uruguay, Argentinien, Bermuda, die Faröer Inseln und Kolumbien - und wäre um ein Haar noch von der kreuzkatholischen Republik Malta überholt worden.
Man darf sagen: der deutsche Eiertanz war an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Denn irgendwie waren ja seit Jahren fast alle eigentlich dafür, die Ehe zu öffnen. Und sogar die meisten, die dagegen waren, betonten stets, dass sie, man ahnt es: „Nichts gegen Schwule und Lesben haben…“
Dennoch und gerade deswegen ist dieser Tag ist ein Tag des Triumphs und der Genugtuung.
Die Krise der bürgerlichen Ehe
Nicht, weil ich die Ehe für die wichtigste aller Fragen halte. Das ist sie nicht.
Ich selbst hatte kürzlich meine erste Beziehung mit einer Frau - nach zehn schwulen Beziehungen. Das war neu und es war spannend und gut. Und ich war schon mit einem Mann "verpartnert" und bin längst wieder geschieden von ihm.
Ich habe mich innerlich aus dem ganzen Identitätsgehege verabschiedet. Ich liebe Menschen und welches Geschlecht diese Menschen haben, zeigt sich im Einzelfall. Und mein Glaube an den Sinn der bürgerlichen Ehe liegt exakt am Nullpunkt.
Auch Ehen zwischen Männern oder zwischen Frauen werden von der Krise unseres Beziehungslebens im digitalen Zeitalter des totalen Konsums folglich nicht verschont bleiben. Auch hier werden sich die Scheidungsraten bald den 50% nähern. Denn die Schwierigkeiten, stabile Beziehungen zu führen, haben mit den instabilen Zeiten zu tun, in denen wir leben.
Rollback vorerst gestoppt
Aber die Art und Weise und das gesellschaftliche Umfeld, in denen dieser Bürgerrechtserfolg durchgekämpft wurde, kann man nur feiern. Auch wenn ein bitterer Beigeschmack bleibt. Wie Johannes Kram im Nollendorfblog schreibt:
„So bleibt festzuhalten, dass die „Ehe für alle“ in Deutschland – anders als etwa in den USA oder Frankreich – ohne entscheidenden Beitrag heterosexueller Alliierter erfolgt ist. Es war ja nicht nur so, dass (fast) keiner was für die Gleichstellung riskieren wollte. Im Gegenteil: Alle fingen dann an, dafür zu kämpfen, als sich die Machtoption verändert hatte, als es auf einmal so war, dass die Ehe zum machtpolitischen Gewinnerthema wurde
Es ist zu hoffen, dass nun auch der und die letzte begriffen hat: Nicht Einsicht hat gesiegt.
Sondern Druck, Druck und Druck.
Und: Merkel verdient keinerlei Respekt. Sie und die ihren hätten gerne so lange weiterdiskriminiert, wie man sie gelassen hätte. Merkel und die Union haben Lesben und Schwulen viel Leid zugefügt, in dem sie seit Jahren versuchen, mit Ressentiments gegen uns Stimmung zu machen.“
Keine Hierarchie der Unterdrückung
Viele vermeintlich fortschrittliche heterosexuelle Menschen haben in den vergangenen Tagen ihr weiterbestehendes Unbehagen mit gleichen Rechten für alle in gewundenen Argumentationsketten dargelegt.
Etwa, indem sie darauf verwiesen haben, dass anderes wichtiger gewesen wäre, dass die Ehe doch eigentlich nicht progressiv sei, dass es sich lediglich um ein Wahlkampfmanöver der SPD gehandelt habe, usw.
Nun scheint alles das ja irgendwie richtig.
Für schwule Männer zum Beispiel wäre vermutlich das Wichtigste, dass die schwulenfeindliche Gewalt, die 2016 regelrecht explodiert ist, endlich aufhört.
Und natürlich war es am Ende ein Wahlkampfmanöver.
Und sicherlich ist die bürgerliche Ehe auch nicht das letzte Wort des Fortschritts im Beziehungsleben - wobei man sich fragt, wieso diese gleichen Leute dann nicht jahrelang offensiv die Abschaffung der Ehe für Heteros gefordert haben, sondern erst angesichts der Öffnung dieser Institution für Schwule und Lesben darauf verfallen, sie grundsätzlich zu kritisieren.
Dann dieses Argument mit der „Wichtigkeit“ … es ist schon mehr als problematisch, einer gesellschaftlichen Gruppe, deren Unterdrückung neben dem Totschlagen immer auch im Totschweigen bestand, regelmäßig zum Ausdruck zu bringen, dass gerade ihre Belange irgendwie viel zu wichtig genommen werden.
Generell gehört zum ABC der Solidarität, dass es keine Prioritätenliste der Unterdrückung gibt. Die Situation, in der Menschen leben, ist immer konkret und wer in einem kleinen sächsischen Dorf mit harten Nazistrukturen sein Coming Out versucht, wird bald kein Problem mehr haben, das wichtiger ist als die Schwulenfeindlichkeit um ihn herum.
Ein Sieg, auf den weitere folgen sollten
Solidarität bedeutet, sich in die Schuhe der anderen zu stellen. Und queere Menschen sind in den letzten Jahren wieder massiv unter Druck gekommen. Es stand (und steht) zu befürchten, dass ein reaktionärer Rollback vieles von dem wieder zurücknimmt, was in den letzten drei Jahrzehnten erkämpft werden konnte.
Denn auch eine lesbische Alice Weidel an der AFD-Spitze ändert ja nichts daran, dass homophobe Gewalt, homophobe Einstellungen und homophobe Propaganda rund um den Aufstieg von Pegida und AFD massiv zugenommen haben.
Wo Flüchtlingsheime brennen, werden auch schwule Männer krankenhausreif geprügelt, lesbische Frauen diskriminiert und Transgender verfemt.
Die heutige Öffnung der Ehe ist auch deshalb ein so unglaublich wichtiger Schritt. Denn er sichert die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auch ab und stärkt die gesellschaftliche Position queerer Menschen - während das konkrete Abstimmungsergebnis Leuten in der CDU/CSU, die damit geliebtäugelt haben, mit homophoben Kampagnen auf Stimmenfang zu gehen, arge Kopfschmerzen bereiten dürfte…
Ein geschickter Schachzug Merkels? Bei 90 Ja-Stimmen aus der Union sah sie eher ziemlich alt aus.
So. Die Ehe für alle ist also durchgesetzt. Alle Humanisten sollten das feiern - und sich dann daran machen, die Ungerechtigkeiten, die ungezählt fortbestehen, entschlossen anzugehen.
Aber auch da wird kein Warten auf die SPD helfen, sondern nur und erneut:
Druck, Druck und wieder Druck!
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