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Die Zensur-Justiz

Die Zensur-Justiz

Die Furcht vor Kontaktschuld bedroht die freie Meinungsäußerung. Interview mit dem pensionierten Richter Peter Vonnahme zu einem fragwürdigen Gerichtsurteil.

Rolf-Henning Hintze: Herr Vonnahme, bedeutet dieses Urteil das Ende einer jahrzehntelang praktizierten liberalen Versammlungspraxis in München?

Peter Vonnahme: Die Saalverweigerung für eine Diskussionsveranstaltung über einen Stadtratsbeschluss stellt in der Tat einen Besorgnis erregenden Wendepunkt dar. Bezeichnenderweise fällt das in eine Zeit, in der deutschlandweit eine geradezu hysterische Angst vieler kommunaler und kirchlicher Stellen zu beobachten ist, wegen israelbezogener Veranstaltungen in den Verdacht des Antisemitismus zu geraten. Mit Blick auf die Zukunft lässt das nichts Gutes erwarten. Wenn die logisch klare Grenzlinie zwischen legitimer Israelkritik und unzulässigem Antisemitismus verwischt wird, wächst die Gefahr, dass antijüdische Ressentiments wie etwa „Die Juden haben zu viel Macht“ bedient werden und zu „neuem Antisemitismus“ führen.

Eine Besonderheit des Münchner Stadtratsbeschlusses liegt darin, dass er jegliches „Befassen“ mit der BDS-Bewegung – BDS steht für Boycott, Divestment, Sanctions – in städtischen oder städtisch geförderten Räumen unterbindet. Ist diese Einschränkung rechtlich zulässig?

Nein. Die Stadt verkennt, dass es sich bei den Räumen nicht um ihre Räume handelt, sondern um Einrichtungen, die mit dem Geld der Bürger finanziert worden sind. Hieraus folgt, dass die Stadt nicht nach Gutsherrnart darüber verfügen kann, sondern dass sie sich an die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften halten muss. Ohne auf die Rechtslage im Einzelnen einzugehen, ergibt sich die Widersinnigkeit des Stadtratsbeschlusses schon daraus, dass durch das zwingende Ausschlusskriterium „Befassen mit BDS“ sogar Veranstaltungen ausgeschlossen werden müssen, die sich ausdrücklich gegen die BDS-Kampagne wenden.

Sie sprachen eingangs von „legitimer Israelkritik“. Was verstehen Sie darunter?

Wenn hier von Israelkritik die Rede ist, dann werden weder die Legitimität noch das sogenannte Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt. Es geht allein um eine gerechte Beurteilung der israelischen Politik am Maßstab des internationalen Rechts und der Menschenrechte. In anderen Worten: So eindeutig Angriffe auf den Bestand des Staates Israel und antisemitische Diffamierungen zu verurteilen sind, so unmissverständlich muss Deutschland als demokratischer Rechtsstaat gewährleisten, dass öffentlich über alles, also auch über den Staat Israel, geredet werden kann.

Ein Beispiel: Kein Mensch hätte Verständnis dafür, wenn morgen ein öffentlicher Diskurs über die USA, Trump und Klimaschutz, über Russland, Putin und seine Krimpolitik oder über Großbritannien, May und den Brexit erschwert oder gar verboten würde. In gleicher Weise muss es möglich sein, im öffentlichen Raum über die israelische Besatzungs-, Nationalitäten- oder Militärpolitik zu sprechen. Das hat die Rathausmehrheit in München nicht verstanden. Sie zeigte sich servil gegenüber israelischen Erwartungen und handelte kopflos. Doch leider ist München kein Einzelfall. Das Kartell des Schweigens hat zahlreiche andere Städte sowie Universitäten, Akademien und kirchliche Einrichtungen erfasst. Das Münchner Gerichtsverfahren hat also Bedeutung weit über München hinaus. Es bleibt die Hoffnung, dass der Kläger und sein Unterstützerkreis dem Druck weiter standhalten und den Kampf für die Meinungsfreiheit fortführen.

Wie kam es zu der von Ihnen diagnostizierten übersteigerten Angst, des Antisemitismus verdächtigt zu werden?

Hier kommen mehrere Ursachen zusammen. Da ist zunächst einmal das, was der Erziehungswissenschaftler Professor Micha Brumlik unlängst als das „Prinzip der Kontaktschuld“ bezeichnet hat. Er meint damit die Angst von Personen und Gruppen, schon dann als Feind zu gelten, wenn sie „nur den geringsten persönlichen Kontakt zu einer als feindlich definierten Gruppe“ haben. Diese Angst, als antisemitisch zu gelten, bestimmte offensichtlich die Ablehnung einer Saalvermietung durch die Stadt München: Allein die Sorge, in städtischen Räumen könnte über die – des Antisemitismus verdächtigte – BDS-Kampagne gesprochen werden, hat den Stadtrat im Dezember 2017 zu einem höchst fragwürdigen Beschluss bewogen.

Er beschloss, wie bereits erwähnt, ein generelles Verbot der Raumüberlassung für alle Veranstaltungen, die das Thema BDS auch nur berühren. Das ist rechtsstaatlich unhaltbar. Es ist aber auch politisch fragwürdig. Denn die BDS-Bewegung richtet sich nicht gegen den Staat Israel als solchen und schon gleich gar nicht gegen das Judentum. Ziel der internationalen BDS-Bewegung ist allein, die israelische Regierung durch wirtschaftlichen Druck zur Aufgabe der rechtswidrigen Besatzung und Besiedelung Palästinas zu veranlassen und den Palästinensern die universell gültigen Menschenrechte zu gewähren.

Die Kontaktschuldängste werden verstärkt durch den seit Jahren zunehmenden Druck wirkmächtiger jüdischer und israelischer Lobbygruppen auf Politik und Verwaltungsstellen.

In den letzten Tagen hat die verhinderte Verleihung des Göttinger Friedenspreises in der Aula der Universität Göttingen an die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ für eine Kontroverse gesorgt. Gibt es auch hier einen Zusammenhang mit den von Ihnen beschriebenen Angstgefühlen?

Ja. Auch hier genügte eine schriftliche Intervention des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, dass wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie etwa der Oberbürgermeister und die Präsidentin der Göttinger Universität kalte Füße bekamen und von jahrelangen Routinen Abstand nahmen. Die beschriebenen Ängste sind nicht zuletzt Folge einer nachlassenden Trennschärfe zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Dieses Phänomen wird gespeist durch das Unvermögen deutscher Gegenwartspolitik, verantwortungsvoll und stimmig mit der Erblast des Holocaust umzugehen. Es ist auch ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des kulturellen Totalversagens nicht gelungen, ergänzend zu Wiedergutmachungsleistungen und Opfergedenken eine politisch und rechtlich vertretbare Haltung zur aktuellen israelischen Politik zu entwickeln.

Die hieraus erwachsende Verunsicherung wird begünstigt durch Merkels Knesset-Rede von 2008, in der sie Israels Sicherheit zum Teil deutscher Staatsräson erklärte. Angesichts dieser lapidaren Vereinfachung scheuen Verantwortungsträger bis heute das Risiko, durch israelkritische Bemerkungen als antiisraelisch oder gar als antisemitisch abgestempelt zu werden.

Die Münchner Verwaltungsrichter haben in ihrem Urteil der Stadt im Rahmen ihrer kommunalen Selbstverwaltung einen weiten Gestaltungsspielraum hinsichtlich ihrer öffentlichen Einrichtungen zugebilligt und die Grundrechte hintangestellt. Das ist für Nichtjuristen schwer verständlich. Kann ein solches Urteil Bestand haben?

Der Richterspruch ist auch für mich als Jurist nicht nachvollziehbar. Denn es besteht Einigkeit darüber, dass Kommunen bei hoheitlichen Maßnahmen – wozu auch die Überlassung von Räumen gehört – an höheres Recht gebunden sind. Dazu gehören zunächst die Vorschriften der Bayerischen Gemeindeordnung. Nach deren Artikel 21 sind alle Gemeindeangehörigen berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen. Hieraus folgt, dass der Münchner Kläger einen Rechtsanspruch auf Überlassung eines Raumes hat. Das wäre nur anders, wenn die Raumnutzung durch allgemeine Vorschriften ausgeschlossen wäre; dafür sind jedoch keine Gründe ersichtlich.

Zusätzlich verleiht das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 Grundgesetz dem Kläger ein Recht auf Nutzung städtischer Räume. Das Bundesverfassungsgericht hat im bekannten „Lüth-Urteil“ vom 15. 1. 1958 ausdrücklich anerkannt, dass dieses Grundrecht schlechthin konstituierend für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist und dass eine Grundrechtsverletzung vorliegt, wenn eine Gemeinde unter Hinweis auf zu erwartende missliebige Meinungsäußerungen die Vermietung eines Veranstaltungssaals verweigert.

Ob das Münchner Urteil Bestand haben wird, kann ich nicht voraussagen. Ich bin aber nach meinen Erfahrungen aus einem Vierteljahrhundert Richtertätigkeit an einem höheren bayerischen Gericht zuversichtlich, dass die verfassungsmäßig verbürgte Freiheit am Ende siegen wird. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht als Gralshüter der Verfassung hinter die Kriterien des Lüth-Urteils zurückfallen wird.

Die schlechte Nachricht ist, dass es Jahre dauern kann, bis endgültig rechtliche Klarheit erreicht wird. Denn nach Lage der Dinge ist damit zu rechnen, dass die Stadt München im Falle einer Niederlage den Rechtsweg ausschöpfen wird.

Angenommen das Urteil würde nach dem Weg durch die Instanzen erst vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, dann könnten mindestens acht weitere Jahre ins Land gehen. Bis dahin würde es in München keine Veranstaltungen in städtischen Räumen mehr geben, die der Stadtratsmehrheit unliebsam sind. Müssen sich besonders betroffene Gruppen wie zum Beispiel die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe, Pax Christi oder SalamSchalom damit abfinden?

Seriöse Prognosen über die voraussichtliche Verfahrensdauer sind nicht möglich, das hängt von zu vielen Unwägbarkeiten ab. Man sollte sich also darauf einrichten, dass Veranstalter in München bis auf weiteres keine städtischen Räumlichkeiten für die besagten Veranstaltungen bekommen. Das wäre nur anders, wenn sich im Stadtrat andere Mehrheiten ergeben oder wenn bei den Stadtspitzen unter zunehmendem öffentlichen Druck neue und bessere Einsichten reifen. Eine Notlösung für die Zwischenzeit besteht darin, dass Veranstalter auf Raumangebote kirchlicher, sozialer und universitärer Einrichtungen oder auf private Säle ausweichen. Doch auch hier zeigt sich vermehrt, dass Verantwortliche unter dem Eindruck des zu erwartenden Antisemitismusvorwurfs eine Raumvergabe ablehnen.

In München zählt das von der Stadt errichtete und bezuschusste EineWeltHaus zu den lebendigsten demokratischen Einrichtungen. Kürzlich übte dessen Geschäftsleitung heftige Kritik am Stadtratsbeschluss vom 13. Dezember 2017. Man fühle sich in dem Auftrag behindert, eine „kontroverse, aber sachliche Diskussion auf der Grundlage von Menschenrechten und Völkerrecht zu gewährleisten und dadurch öffentliche Meinungsbildung zu ermöglichen – auch zu BDS“. Der Kommentar endet mit dem Appell an den Stadtrat, seinen Beschluss vom Dezember 2017 zurückzunehmen und „dem öffentlichen Diskurs den notwendigen Raum“ zu geben. Halten Sie den Vorwurf für zutreffend, dass die öffentliche Meinungsbildung in München beeinträchtigt wird?

Für mich steht außer Frage, dass die öffentliche Meinungsbildung in München zumindest in einem wichtigen Teilbereich behindert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik des EineWeltHauses mehr als ein Hoffnungsschimmer. Sie zeigt, dass in aufgeschlossenen gesellschaftlichen Kreisen ein großes Unbehagen über die Behinderung der freien Meinungsäußerung vorhanden ist. Ich vermisse allerdings, dass in den sogenannten Qualitätsmedien angemessen über diese Problematik berichtet wird. Das ist die Stunde verantwortungsbewusster alternativer Medien. Sie haben wiederholt bewiesen, dass sie ohne Unterwerfungsgestus gegenüber Lobbygruppen ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag nachkommen.

Lassen Sie mich zum Schluss nochmals auf den schon angesprochenen Göttinger Friedenspreis zurückkommen. Er soll also am 9. März dem Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ verliehen werden. Die Universität hat entschieden, dass die Verleihung nicht wie bisher üblich in ihren Räumen erfolgen darf mit der Folge, dass die Veranstalter auf einen Ersatzraum ausweichen müssen, den sie nur mit Mühe fanden. Göttingens Oberbürgermeister wird im Gegensatz zu den Vorjahren keinen Empfang für die Preisträger geben. Zudem verweigert die Göttinger Sparkasse diesmal einen Zuschuss für die Preisverleihung. Sehen Sie einen Zusammenhang mit dem Münchner Stadtratsbeschluss beziehungsweise dem Münchner Urteil?

Einen unmittelbaren Zusammenhang sehe ich nicht, wohl aber vermute ich, dass sowohl der Münchner Ratsbeschluss als auch die erwähnten Göttinger Entscheidungen dem gleichen Geist – genauer gesagt: Ungeist – entsprungen sind. Was das Münchner Gerichtsurteil anbetrifft, glaube ich aufgrund meiner Kenntnis des richterlichen Selbstverständnisses nicht, dass sich die Kammer von diesem Ungeist hat leiten lassen. Vielmehr gehe ich – zugunsten der Betroffenen – davon aus, dass ihre von mir kritisierte Entscheidung das Ergebnis fehlerhafter rechtlicher Deduktion ist.

Was mich besorgt, ist nicht nur der geistige und zeitliche Zusammenhang zwischen den Münchner und Göttinger Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Weitaus schlimmer ist, dass eine Übersichtstabelle vom 1. Februar dieses Jahres mehr als 50 be- oder verhinderte menschenrechtsorientierte Veranstaltungen in deutschen Städten dokumentiert. Das lässt vermuten, dass der Ungeist inzwischen epidemischen Charakter angenommen hat.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich eine aufgeklärte Bürgergesellschaft diese Zumutungen nicht länger gefallen lässt.


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