Wo hat der deutsche Kriegsführer eigentlich die seltsame, so heilig wie hohl tönende Vokabel her, mit der er und seine Kumpane und Komplizen in Politik, Medien und Tötungsindustrie uns seit bald einem Jahr unablässig beschallen, als wäre es so eine Art „Amen“ einer neuen Kirche? Ein Blick ins tiefere Bücherregal zeigt Erstaunliches über das geweihte Wort: Es kommt – mehr oder weniger – direkt aus dem Sprech- und Denkschatz der Nazis.
Wir erinnern uns: Am 27. Februar 2022, dem dritten Tag nach dem Beginn des von ukrainischen Faschisten, der NATO und Deutschland über Jahre hinweg herbeiprovozierten Einmarschs russischer Truppen in der Ukraine, sprach der deutsche Kanzler Olaf Scholz im Bundestag erstmals von einer „Zeitenwende“ und verband die Proklamation untrennbar mit dem „brutalen Angriffskrieg“ oder „unprovozierten Überfall“, wie die Militäraktion den neuen Sprachregeln gemäß unbedingt und immer genannt werden muss.
Was Scholz bei dieser Gelegenheit an surrealem Blödsinn noch so zusammenraunte – Putin wolle ein „Imperium“ errichten, ein mit NATO-Waffen bis an die Zähne vollgepumptes „unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen“, weil die „Freiheit“, die dessen Bewohner angeblich genossen, sein (also Putins) „Unterdrückungsregime in Frage“ stelle – all das sei dahingestellt; man hat es meistenteils zu Recht vergessen, so wie von Scholz in den historischen Annalen rhetorisch wohl überhaupt nur die „roten Linien“ und eben die „Zeitenwende“ überdauern werden.
Diese „Zeitenwende“ regnet, schneit und hagelt es seitdem nur so, als wäre im Gehirn der deutschen Berufs- und Amtsverkünder ein Damm gebrochen. Kein Kriegsbericht in den Propagandamedien kommt ohne sie aus; und obwohl es noch keine gültige Übersetzung in irgendeine Sprache gibt, feiert selbst die US-Ausgabe des Wikipedia-Blogs die programmatische Ansage in einem eigenen Artikel. In Büchern, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und staatstragendem Internet wird der Begriff täglich, ja stündlich dahergebetet. Und zwar streng „untergehakt“ mit den politischen Marionetten der Herrschaft: Ein ARD-Redakteur rühmt den neuen deutschen Kriegsminister mit der Blödphrase, er sei „ein Vollblutpolitiker, der anpackt“ und schon seit längerer Zeit noch mehr Militärmilliarden fordert, für, na klar, die „Zeitenwende“.
Dass der Verfasser dieses widerwärtigen Propagandariemens schon sechs Tage später als „Sprecher“ ins Kriegsministerium berufen wurde, verbuchen wir nebenbei; es ist ja egal – die gesamte ARD ist nichts anderes als ein Sprachrohr der Kriegsherrscher, und wenn da mal wer ausschert – wie kürzlich die mutige MDR-Frau Rommy Arndt –, setzt es „schlagkräftige Gegenwehr“. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, von der man sich seit vielen Jahren fragt, was sie eigentlich sonst so treibt, wählte „Zeitenwende“ folgerichtig nicht zum „Unwort“, sondern zum „Wort des Jahres“. Es dürfte das einzige seiner Art sein, mit dessen Einführung tatsächlich eine neue Epoche begann.
Sucht man die „Zeitenwende“ vor 2022, wird es dünn, und vor 2020, als mit der Durchsetzung des totalitären „Corona“-Regimes die „Zeitenwende“ im Grunde ihren Anfang nahm, findet man sie so gut wie gar nicht mehr. Man möchte meinen, es habe das dumme Wort damals gar nicht gegeben. Gab es eigentlich auch nicht, weil Zeiten – schon die Mehrzahl ist ein Schmarrn – sich nun mal nicht wenden, höchstens bei Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise. Gab es aber doch, in vereinzelten „esoterischen“ und abseitig religiösen beziehungsweise pseudoreligiösen Nischen sowie als Titel des einen oder anderen Science-Fiction-Heldenromans, erschienen meist in etwas zwielichtigen Kleinstverlagen.
Lexika und Wörterbücher aus der Epoche zwischen dem „Dritten Reich“ und dem dritten deutschen Krieg gegen Russland seit 1914 kennen höchstens die „Zeitwende“, die den Beginn einer neuen Jahreszählung mit der Ankunft des Messias auf Erden verknüpfte.
Da wurde also lediglich – und übrigens mit erheblicher Verspätung von ein paar Jahrhunderten – die Zeitrechnung von „vor“ auf „nach“ umgestellt, was nebenbei vor einiger Zeit eine völlig idiotische Diskussion über ein „Jahr null“ auslöste. Dass Apologeten des „neuen Normal“ mittlerweile versuchen, diese Bedeutung ein bisschen umzubiegen und – via Wikipedia – eine angeblich gemeinte „Wende von einem für wesentlich erachteten Zeitabschnitt zum nächsten“ hineinzuprägen, ist lässlich. Diese Form der rückwirkenden Realitätskorrektur kommt ja gerne ein bisschen peinlich daher.
Ansonsten lautet der Befund: Vor 2020 keine oder höchstens eine irrtümliche „Zeitenwende“. Oder war da doch was? Ein tieferer Blick in die Bibliothek zeigt: Überraschenderweise gab es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hier und da ein paar Bücher, die eine „Zeitenwende“ im Titel führten. Wie kommt das, und wo kam die her? Da wird man neugierig und wühlt weiter – und siehe da, vor 1945 war die „Zeitenwende“ ein höchst beliebtes Schlagwort. Die Nazis schwärmten von Anbeginn ihrer Herrschaft und vereinzelt schon während der „Kampfzeit“, in der diese Herrschaft angebahnt wurde, von der erlösenden „Zeitenwende“.
Als ein Vorreiter darf vielleicht der ansonsten nicht näher bekannte Bauingenieur Herbert von Voß gelten, der im November 1932 im „Nationalsozialistischen Monatsheft“ Nummer 32 unter dem Titel „Zeitenwende“ unter anderem schrieb:
„Zeitenwende! In der Renaissance ging der Gemeinschaftsgedanke des Mittelalters mehr und mehr verloren. An seine Stelle trat die Idee der freien, durch nichts gebundenen Einzelpersönlichkeit. (…) Heute erleben wir es, wie sich die entscheidende Umkehr vorbereitet zurück zum Gemeinschaftsgedanken. (…) Ob das neue Zeitalter schon begonnen hat, oder ob wir erst an seinem Vorabend stehen und noch Jahrzehnte warten müssen, das zu entscheiden überlassen wir späteren Geschichtsschreibern. Aber das eine steht fest: Es kommt!“
Dem Voß folgten viele, manche gingen voran: Der Nazi-Historiker Willy Andreas, Mitglied bei SA, NSV, VDA, NSLB und Fördermitglied der SS sowie ab 1959 Ehrendoktor der Universitäten Heidelberg und Freiburg, publizierte schon 1932 sein Werk „Deutschland vor der Reformation, eine Zeitenwende“. Ebenfalls 1932 schwadronierte der selbsternannte Ritter Max de la Vigne-Erkmannsdorf – auch Verfasser von „Gott, Christentum, Völkische Kultur“ (1933) und einer „Anleitung zur Erkenntnis des menschlichen Lebens in einer nordischen Erkenntnis-Gemeinschaft, die er dem Führer zu Weihnachten 1939 überbringen ließ – von Geschehnissen „An der Zeitenwende“. 1934 erschienen unter dem Titel „Briefe von Gestern für Morgen“ die „Gedanken eines Arztes zur Zeitenwende“ von Kurt Klare, der die Mitgliedsnummer 2 im Nationalsozialistischen Ärztebund trug und die Hauptstelle des Sachverständigenbeirates für Volksgesundheit der NSDAP-Reichsleitung leitete.
Erich Mueller-Schnick lieferte 1935 unter dem Titel „Die Zeitenwende“ ein „Thingspiel“ vom „Kampf um die Arbeit“. Ihm verdanken wir übrigens auch das Schlagwort „Soldaten der Scholle“. Erich Kleineidam, Leiter einer Lehranstalt im Sudetenland, und der den Nazis angeblich nicht wohlgesonnene Otto Kuss ließen als Herausgeber 1935 auf 464 Seiten über „Die Kirche in der Zeitenwende“ sinnieren. Der weniger verdächtige, ehemals sozialdemokratische „Innenemigrant“ Olaf Saile widmete 1938 dem Astronom Johannes Kepler seinen „Roman einer Zeitenwende“, den manch einer als verkappten Protest gegen die Nazis deuten mochte. 1940 erschien der Deutschordensroman „Zeitenwende“ von Mia Munier-Wroblewska, die laut Auskunft der „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“ auf dem Rittergut Schleck in Kurland geboren wurde und „beim Kampf gegen die Rote Armee 1919 das Soldatenheim der Baltischen Landeswehr in Tuckum und Riga leitete“.
Ernst Anrich, Mitgründer der „Gilde Ernst Wurche“, fand als „Bevollmächtigter“ der Reichsuniversität Straßburg 1942 genug Freizeit und Muße, um sein relativ dünnes Buch „Deutsche Geschichte 1918-1939: Die Geschichte einer Zeitenwende“ abzufassen. Nach dem Krieg gründete er die Wissenschaftliche Buchgesellschaft und fungierte ab 1967 im Vorstand und Präsidium der kurz zuvor neugegründeten NPD.
So geht das weiter und immer weiter, solange man sucht: Man findet sie zwischen 1933 und 1945 allüberall, die „Zeitenwende“, die der Führer als Stellvertreter oder deutschtümige Reinkarnation des Messias herbeikämpfen sollte. Wenige benutzten den Slogan als – manchmal ironisches – Zitat, etwa die Herausgeber der Schriften der 1941 verstorbenen jüdischen Emigrantin Lucie Varga („Zeitenwende – mentalitätshistorische Studien 1936-1939“) und Nyota Thun, die ihre Sammlung früher sowjetischer Literatur zur Oktoberrevolution 1967 ebenfalls „Zeitenwende“ taufte. Allerdings war Thun auch Mitglied der Nationaldemokratischen Partei der DDR, die 1948 gegründet wurde, um ehemals nazistisches „Stimmvieh“ von LDP und CDU abzuziehen, und 1990 mit der FDP wiedervereinigt wurde.
Es war halt der – ähem – Zeitgeist so: Wenden tut der Deutsche ja gerne was, seinen Hals oder das System, und notfalls eben sogar die Zeiten, mit Gewalt.
Die große Vertuschung nach 1945 war auch in dieser Hinsicht sehr wirksam: Karl Eders Broschüre „Zeitenwende und Kirche“ von 1946 und Carl Friedrich Paul Straußens „Zeitenwende – Erzählung aus der Vormondzeit“ aus demselben Jahr mögen als versehentliche Nachgeburten gelten;, die Anthologie „Entblätterte Zeitenwende“ mit „politischer Zeitlyrik“ von 1948 als milde Abrechnung. Ein kleines Kuriosum war der deutsch-jüdische Hochschullehrer Hans Joachim Schoeps, der im Februar 1933 den nazitreuen Verein „Der deutsche Vortrupp – Gefolgschaft deutscher Juden“ gründete, 1938 nach Schweden flüchtete, 1946 nach Deutschland zurückkehrte, als glühender Monarchist 1951 die Wiederherstellung Preußens forderte und zwischendurch 1948 über „Gestalten an der Zeitenwende“ schrieb. Dann war erst mal weitgehend Schluss mit den „Zeitenwenden“.
Und vor den Nazis? Ist der Begriff wiederum so gut wie unbekannt – er taucht höchstens mal als Schreibfehler für die „Zeitwende“ auf, nach der auch eine religiöse Zeitschrift benannt ist. Das mag daran liegen, dass es „Zeiten“ damals noch nicht gab, nur die Zeit als solche und ihre Geschichte. Wer weiß. Einzig Albert Bovenschen proklamierte im Titel seines „Wegweisers in die deutsche Zukunft“ schon 1916 „Deutschland an der Zeitenwende“. Bovenschen war allerdings auch Hauptgeschäftsführer des „Zentralvereins zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“, ließ 1933 den Klassiker „Die Kleingartenbewegung im Deutschen Reiche“ folgen und tat dann nicht mehr viel, weil er schon 1939 verstarb. Ein Solitär, wie man so sagt.
Man darf also festhalten: Die „Zeitenwende“ ist ein ast- und lupenreiner Nazislogan. Ein Kernstück der Ideologie dieser menschenverachtenden, reindeutschen Brut wiederum war und ist die Vernichtung des Russen und des Slawen insgesamt zwecks Erringung von Lebensraum und Rohstoff im Osten.
So sammelt sich unter dem Schlagwort „Zeitenwende“ eine verquaste, müffelig-käsige, schmutzblutige Mischung aus völkisch-heroischem Wahn, kriegsgeiler Aufbruchs- und Vernichtungsstimmung, halbvergorener Mythisiererei, futuristischem Führerkult und pseudo-esoterischer Metareligion, die ganz offensichtlich mit den Nazis 1933 aufkochte, dann verschämt unter den historischen Teppich des Vergessens gekehrt wurde und erst 2022 mit dem nächsten Sturm gen Osten und gegen den Russen erneut losbrodelte. So wächst über die Zeiten zusammen, was zusammengehört; man möge mir den Tonfall nachsehen.
Freilich kann ich mich irren. Freilich ist dies alles kein letztgültiger Beweis dafür, dass die Nazis das Schlagwort „Zeitenwende“ erfunden und dass ihre moralisch-völkischen und militärischen Nachfolger und Erben ab 2022 den Kampfbegriff lediglich übernommen haben. Es ist eine These, die sich indes, wie gesehen, gut belegen lässt. Wer der Meinung ist, dass die neue deutsche Regierung nicht absichtlich und bewusst die geopolitische Ideologie und damit auch das Schlagwort der Nazis aufgreift, sondern dass es sich dabei um einen reinen sprachhistorischen Zufall handelt, ein unbewusstes Wiederaufleben eines vergessenen Zeitgeistes, oder dass es die „Zeitenwende“ schon immer gegeben hat, der muss die These – wie sich das für Wissenschaftler gehört – falsifizieren und die Gegenthese belegen. Ich bin gespannt.
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