Eine Freundin aus Ramallah schrieb mir dieser Tage: „Hier passiert gerade ein Völkermord.“ Es ist in Deutschland jedoch erschreckend mitzuerleben, dass die politische Elite mit ihrer bedingungslosen Solidarität zu Israel einem bevorstehenden Völkermord unbemerkt ihren Segen erteilt. Es ist entsetzlich mitzubekommen, dass bei vielen Politikern, Politikerinnen und Medien einzig die Sorge umgeht, dass eine Bodenoffensive Israels in Gaza in eine antiisraelische Stimmung umkippen könnte.
USA und Deutschland auf einem Auge blind
Im Gegensatz zur deutschen Bevölkerung, der die massiven Folgen der ständigen Unterdrückung der Palästinenser und Palästinenserinnen trotz einseitiger Berichterstattung der Leitmedien nicht ganz verborgen bleiben, ist die politische Elite Deutschlands mit Bezug zum Israel-Palästina-Konflikt auf einem Auge blind. Sie nimmt ausschließlich die gelegentlichen Reaktionen der Palästinenser gegen die israelische Zivilbevölkerung wahr, die wir vollkommen zu Recht als grausam empfinden. Für die Ursachen des Konflikts, der seit Jahrzehnten immer wieder gewaltsam explodiert, zeigen unsere Eliten jedoch keinerlei Interesse. Für sie sind Palästinenser Terroristen – fertig.
Die Frage nach den Ursachen der Katastrophe für das geschundene palästinensische Volk führt aber unweigerlich zur israelischen Besatzung von Palästina und zum Scheitern des Osloer Abkommens, das diese Besatzung beenden wollte. Mit diesem Abkommen von 1993 wurde das Ziel verfolgt, neben Israel auch einen palästinensischen Staat zu gründen. Dagegen rührte sich bei den national-religiösen Siedlern massiver Widerstand. Anstelle des hoffnungsvoll begonnenen Osloer Friedensprozesses machte sich alsbald große Enttäuschung breit. Im November 1995 ermordete Yigal Amir, ein national-religiöser Student, den amtierenden Premierminister Yitzhak Rabin in Tel Aviv, weil dieser aufrichtig an eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden mit den Palästinensern glaubte. Andere israelische Premierminister nach Rabin, wie Ariel Scharon und vor allem Benjamin Netanjahu, verfolgten jedoch zielstrebig und unumwunden die Absicht, die Vereinbarungen von Oslo systematisch zu torpedieren, wo sie das nur konnten.
Die illegale Ausdehnung israelischer Siedlungsgebiete, Zerstörung palästinensischer Häuser und Vernichtung von Olivenplantagen, Enteignung der Grundbesitzer, Sperrung der Straßen und schließlich Zersiedlung ganzer Gebiete mit der Absicht, eine einheitliche palästinensische Heimat und damit einen eigenen palästinensischen Staat technisch und strukturell unmöglich zu machen, waren an der Tagesordnung.
Hamas‘ Trugschluss
Auf der palästinensischen Seite lehnte die 1987 im Gazastreifen gegründete Hamas das Osloer Abkommen grundsätzlich ab, weil sie den Anspruch der Palästinenser auf ganz Palästina nicht aufgeben wollte. Die innerpalästinensische Spaltung lieferte Israels Hardlinern die Möglichkeit, die Spaltung zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Westjordanland, die weiterhin an der Perspektive der Zwei-Staaten-Lösung festhielt, und der Hamas, die sich im Gazastreifen großer Anhängerschaft erfreute, zu vertiefen. Während westliche Unterstützer Israels, allen voran die USA, die EU und insbesondere Deutschland die Autonomiebehörde der PLO mit Finanzmitteln versorgten und sie dadurch schließlich zu einer von außen abhängigen bürokratischen Institution verwandelten, wurde die Hamas zum Hauptfeind Israels und zu einer Terrororganisation erklärt. Der Gazastreifen mit einer Fläche von circa 360 Quadratkilometern, mit einer Bevölkerung von über 2,2 Millionen und somit das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt, wurde durch Israel abgeriegelt und faktisch in das größte Freiluftgefängnis der Welt verwandelt.
Israel kann jederzeit alle Versorgungszugänge für Trinkwasser, für Medikamente und Lebensmittel-Produkte, für Treibstoff und Strom blockieren. Eine solche Totalabriegelung verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht. Trotzdem macht Israel je nach Bedarf, beispielsweise seit dem 7. Oktober, massiv davon Gebrauch.
Damit ist die gesamte Zivilbevölkerung Gazas in permanenter Geiselhaft und stellt somit ein Erpressungspotential dar, das Israel immer wieder gegen die Hamas einsetzt. Kein Zweifel, die angesammelte Wut der Palästinenser in Gaza ist die Hauptursache für den massiven Druck und die politisch gänzlich irrationale und moralisch inakzeptable Reaktion der Hamas, durch Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung und Geiselnahme unschuldiger Menschen den Kessel zur Explosion bringen zu wollen. Der Hamas ist mit ihren Aktionen am 7. Oktober zwar ein Überraschungs-Coup gelungen, jedoch hat dieser die Palästinenser und Palästinenserinnen dem Ziel eines menschenwürdigeren Lebens keinen Zentimeter näher gebracht.
Israels irrationale Reaktion
Genauso wie Wut kein guter Ratgeber für politische Handlungen ist, sind auch Vernichtungsfantasien auf der israelischen Seite irrational und menschenverachtend. Inakzeptabel ist beispielweise die Äußerung von Israels Verteidigungsminister Yoav Galant, der die Palästinenser als „menschliche Tiere“ dämonisierte. Israel ist auch einem schrecklichen Irrtum ausgesetzt, wenn es glaubt, dass durch die Vernichtung der Hamas und deren militärischer Infrastruktur die Palästinenser im Westjordanland und in Gaza sich mit ihrer tagtäglichen Unterdrückung abfinden würden. Offensichtlich haben Israels Regierende und ihre internationalen Unterstützerregierungen in dieser Hinsicht aus der eigenen Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt.
Haben etwa deutsche Faschisten mit ihrer so großen kriminellen Energie und ihren Verbrechen es geschafft, das, wie sie es ausdrückten, „internationale Judentum“ auszurotten? Heute sind die jüdischen Bewohner dieses Planeten vermutlich zahlreicher und mächtiger als je zuvor. Und das ist auch gut so. Sie tragen immens zur kulturellen Vielfalt und zum materiellen Reichtum bei. So wie die Juden, werden sich auch die Palästinenser weder im Westjordanland und schon gar nicht in Gaza einem Schicksal menschenunwürdigen Lebens jemals ergeben. Und sie haben das Recht und die Moral auf ihrer Seite.
Unwürdige Staatsräson
Sicherlich ist der besondere Schutz Israels durch Deutschland angesichts des Holocaust ohne Wenn und Aber nachvollziehbar. Ist unserer politischen Elite jedoch bewusst, dass die bedingungslose Solidarität mit Israel im Umkehrschluss auch die bedingungslose Zustimmung zu Israel als Besatzungsmacht bedeutet? Haben Deutschlands politische Parteien mit ihren uneingeschränkten Solidaritätsbekundungen am 11. Oktober im deutschen Parlament auch nur einen Moment darüber nachgedacht, dass ihre Haltung als eine indirekte Zustimmung zu dem bevorstehenden Völkermord in Gaza missverstanden werden könnte?
Was ist es denn sonst als Völkermord, wenn Israels Verteidigungsminister ankündigt, die Hamas vernichten zu wollen, und wenn Israels Premierminister offen davon redet, Gaza plattzumachen?
Haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine Weile darüber nachgedacht, dass nicht das jüdische Volk als Ganzes der Nutznießer der deutschen Solidarität ist, sondern vielmehr die national-religiösen Hardliner in Israels Kabinett sowie der rechtspopulistische Premierminister Netanjahu, der zu allen Schandtaten bereit ist, um den bevorstehenden Gerichtsurteilen angesichts seiner kriminellen Handlungen zu entrinnen? Die Politik einer unversöhnlich agierenden und die Besatzungspolitik verfechtenden Clique hat die Palästinenser radikalisiert. Die Hamas macht durch ihren Terror natürlich alles noch schlimmer, gerade auch für die eigene palästinensische Bevölkerung, die die hauptleidtragenden Menschen des seit über 70 Jahren ununterbrochenen Besatzungs- und Apartheidsregimes sind.
Ja, Sie, die Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Frau Bundestagspräsidentin, Herr Bundespräsident, Herr Bundeskanzler und die Parteivorsitzenden, Sie alle haben Ihre Solidarität mit Hardlinern bekundet und nicht mit dem israelischen Volk. Es ist eine Schande für die deutsche Demokratie, die sich derart zur Geisel von antidemokratischen Kräften in Israel gemacht hat. Die Herren Scharon und Netanjahu haben mit Hilfe ihrer gut geölten Propaganda-Maschinerie für solche Momente gute Arbeit geleistet. Sie ließen die Hamas und die libanesische Hizbullah auf die Terrorliste der EU setzen, sie haben es geschafft, die leiseste Kritik an der israelischen Besatzungspolitik in Deutschland und der EU als antisemitisch zu diffamieren und Diskussions-Veranstaltungen zur Aufarbeitung des Israel-Palästina-Konflikts als antisemitisch, israelfeindlich oder Ähnliches zu brandmarken.
Das alles hat in meinen Augen mit der Sühne an den Holocaust-Überlebenden, mit einer echten Verantwortung und den Lehren aus den Gräueltaten und singulären Verbrechen deutscher Faschisten ganz und gar nichts zu tun. Das ist meines Erachtens vielmehr pure Judeophilie, um sich den schwierigeren Weg einer echten umfassenden Aufarbeitung mit der eigenen Vergangenheit auf Kosten anderer Völker, vor allem der Palästinenser, zu ersparen. Möglicherweise erklärt auch diese nicht gründlich stattgefundene Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, warum die Erzählungen der AfD auf solch fruchtbaren Boden fallen.
Konfrontation statt Kooperation
Haben Sie, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, es schon vergessen? Die UN-Überprüfungskonferenz hatte im Mai 2010 beschlossen, eine Konferenz für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten einzuberufen, die 2012 in Helsinki beginnen sollte. Daran sollten alle Staaten der Region und dazu noch die USA, Großbritannien und Russland teilnehmen. Ein neues Kapitel für Entspannung und Kooperation und gegen Konfrontation in der konfliktreichsten Region der Welt sollte aufgeschlagen werden. Alle Staaten hatten dem Gastgeberland Finnland ihre Teilnahme zugesagt. Eine Woche vor Konferenzbeginn haben jedoch Israel und die USA ihre Teilnahme abgesagt und den Beginn einer neuen Etappe blockiert.
Was bedeutete diese Verweigerung anderes als die offensichtliche Entscheidung der USA und Israels gegen Frieden und für Konfrontation? Die Islamische Republik Iran zog daraus die Konsequenz und forcierte fortan nicht nur ihr Atomprogramm. Sie entschied sich ferner auch für die massive Aufrüstung der Hamas in Gaza und für die militärische Stärkung der Hizbullah im Libanon. Die uneingeschränkte Solidarität mit Israel ist so gesehen auch die uneingeschränkte Zustimmung zur Konfrontation. Deutschland trägt daher ohne Wenn und Aber für die heutige Katastrophe im Nahen Osten eine Mitverantwortung. Und es ist auch eine Verdrehung der Geschichte, wenn Politik und Medien in Deutschland den Iran als Kern der Katastrophe ausmachen. Die Wahrheit ist jedoch, dass Israels Besatzungspolitik und ihr Monopol auf Atomwaffen den gefährlichen Schwelbrand weiterhin befeuern.
Geistige Verelendung
Man kommt nicht umhin, die groteske Einseitigkeit der Politik und der Medien in Deutschland, unabhängig von der Gefahr eines sich anbahnenden Völkermords im Nahen Osten, als ein Indiz der geistigen Verfassung in Deutschland wahrzunehmen. Es ist erschreckend zuzusehen, dass Politiker und Journalisten in deutschen Talkshows der letzten Tage angesichts des bevorstehenden israelischen Bodentruppen-Einsatzes in Gaza nicht die Ermordung unschuldiger Zivilisten, sondern einzig und allein die Sorge umtrieb, die Bilder eines solchen Massakers könnten in eine antiisraelische Stimmung umkippen.
Man könnte annehmen, längst hätte hierzulande die Kultur der Feindschaft, der Zustimmung zur Aggression und zum Krieg die Kultur der Menschenliebe, der Kooperation und des friedlichen Miteinanders verdrängt. Wie ist sonst zu erklären, dass der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil allen Ernstes behaupten kann, dass die Idee der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, den Frieden in Europa gemeinsam mit Russland gestalten zu müssen, von Grund auf falsch war, und die SPD den gegenteiligen Weg gehen und den Frieden ohne Russland aufbauen müsse?
Dass anlässlich dieses Verrats an der größten sozialdemokratischen Errungenschaft nur von einer Handvoll aufrechter Menschen die Stimme der Vernunft zu vernehmen ist, aber der Aufschrei der Parteibasis ausbleibt, scheint genau das Indiz für die geistige Verelendung zu sein, die gegenwärtig in Deutschland und Europa vorherrscht. Willy Brandt, Egon Bahr und viele ihrer Wegbegleiter waren in der Lage, sich die Sicherheit Russlands als Sicherheit Europas durchzubuchstabieren. Diese vernunftbasierte Geisteshaltung jener einzigartigen Politiker der Nachkriegszeit brachte einen Michail Gorbatschow auf der anderen Seite hervor, der die Idee des gemeinsamen Hauses in Europa von Lissabon bis Wladiwostok auf der Tagesordnung platzierte.
Doch mit der erfolgreichen Propaganda gegen Kooperation und für den neuen Kalten Krieg – nunmehr auch gegen die Volksrepublik China – und der unübersehbaren Präsenz der in den US-Think-Tanks und Militärakademien ausgezeichnet geschulten und zumeist rhetorisch brillanten „Experten“ – dazu noch die laute Stimme der Berufsbellizisten aller großen Parteien im Deutschen Bundestag , die uns tagein tagaus einbläuen, dass die Ukraine die Halbinsel Krim erobern müsse, um Menschenleben zu retten – haben auch die Gorbatschows leider keinen Platz mehr in Russland. Dort schlägt die Stunde von Wladimir Putin, die analog zu ihren westlichen Widersachern tickt. Gegen diesen geistigen Rückfall und die tiefgreifende Kultur des Unfriedens scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Mit einzelnen Aufrufen zum friedlichen Miteinander kann der Wucht der Feindschaft und Konfrontation, die die Köpfe erobert hat, offenbar nicht begegnet werden. Jetzt wäre es an der Zeit, den Kampf für eine Kultur der Kooperation und des friedlichen Miteinanders wieder aufzunehmen.
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