„Das sind Vorgänge, die gehen in Richtung Terrorismus“, sagte der würdige ältere Herr mit Brille. Und wenig später: „Das ist dann nichts anderes als die islamistischen Einzeltäter, die denken, sie seien göttlich berührt, wenn sie einen Lehrer in Frankreich umbringen, der bloß — anhand von Mohammed-Karikaturen — über Meinungsfreiheit redet.“ Neben Islamisten sah Bodo Ramelow auch Nazis am Werk:
„Für mich ist so etwas vergleichbar mit dem, was Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten in Kassel, passiert ist.“
In welchem Jahr befinden wir uns denn nun? 1938? 1977? Nein, der Thüringer Ministerpräsident sagte das vor knapp einem Monat. Und die so Gescholtenen gehörten vermutlich zur Corona-Skeptiker-Szene. Obwohl noch kein Mensch im Zusammenhang mit Protesten gegen die Corona-Maßnahmen zu Tode kam, sieht Ramelow hier bereits einen neuen IS oder eine neue RAF am Werk.
Was war passiert? Ramelow hatte vor seiner Privatwohnung ein Grablicht mit einem Querdenken-Flyer gefunden. In einer Berliner U-Bahn haben Maßnahmen-Gegner Fahrgäste angebrüllt und sie gezwungen, ihre Masken abzunehmen. Sogar ein 13-jähriges Mädchen soll bedrängt worden sein. Auf Kunstschätze der Berliner Museumsinsel wurde ein Olivenöl-Anschlag verübt. Das ist nicht so lustig, wie es klingt, denn Kunstwerke kamen zu Schaden. Verbindungen zum Corona-Thema sind dabei nicht einmal erwiesen. Jedoch wird der Vegan-Koch Attila Hildmann zumindest der Anstiftung verdächtigt. Gegen die Fassade des Robert Koch-Instituts in Berlin wurden Brandsätze geworfen, ein Fenster ging zu Bruch. Auch soll es zwei Cyber-Angriffe auf das Institut gegeben haben.
Demonstranten, so Ramelow, hätten skandiert, „dass man die Kanzlerin an die Laterne knüpfen müsse.“ Journalisten wurden vermutlich aus Corona-Demonstrationen heraus beschimpft und angegriffen, so bei den Protesten in Leipzig am 7. November. Einem Journalisten wurde gesagt, dass er nach dem „Umsturz wie alle anderen Systemjournalisten an einem Baum hängen werde.“ In Berlin sollen Demonstranten Polizisten für kurze Zeit „eingekesselt“ haben, bevor diese wieder ausbrechen konnten. Jens Spahn war bei einem Wahlkampftermin in Bergisch Gladbach aus der Menge als „schwule Sau“ beschimpft worden. Derartige Berichte häufen sich in jüngster Zeit — nebst Berichten und Warnungen, die Querdenkerszene wäre nunmehr im Begriff, „sich zu radikalisieren“.
„Terror“ am Zaun des Kanzleramts
Am Mittwoch, dem 25. November, fuhr sogar ein Auto in langsamem Tempo in den Zaun vor dem Kanzleramt und beschädigte zwei Gitterstäbe. Auf der Fahrerseite stand: „Ihr verdammten Kinder- und alte Menschen-Mörder“, was den Täter ideologisch scheinbar eindeutig im Lager der „Corona-Leugner“ verortet. Das Presseecho suggeriert ungefähr folgendes: „Wenn ‚die‘ sich schon terroristischer Methoden bedienen, um auf sich aufmerksam zu machen, sollten wir uns alle jetzt doppelt inbrünstig hinter unsere gewählte Regierungschefin stellen.“
So mancher setzt seine Maske jetzt vielleicht sogar mit noch größerer Freude auf als vorher, wissend dass er damit ein Zeichen gegen Gewalt und grassierende „Staatsfeindlichkeit“ setzt.
Vielleicht gab der Attentäter damit sogar den Startschuss für eine Solidaritätswelle der Art „Je suis Angela“.
Dem Fahrer muss bewusst gewesen sein, dass er mit seiner Aktion niemals zur Kanzlerin vordringen würde. Derselbe Mann hatte eine ähnliche Aktion schon 2014 versucht — mit einem anderen thematischen Aufhänger: „Schluss mit dem Menschen tötenden Klimawandel.“
Wie immer in vergleichbaren Fällen geißelten Politiker und Medien nur die „Gewalttat“ und ignorierten die Frage, ob hinter dem verdammenswerten Verhalten des Täters nicht ein berechtigtes Anliegen stecken könnte. Greift ein Bürger zu drastischen Mitteln, um seinen Protest vorzubringen, hören ihm die Adressaten in der Politik nicht zu, weil das Anliegen dann völlig hinter der Tat verschwindet; werden keine drastischen Mittel eingesetzt — nun, dann hört ohnehin niemand zu.
Um es hier klar zu sagen: Alle diese Verhaltensweisen von Bundesbürgern sind falsch und kontraproduktiv. Falsch nicht nur, weil sie „strategisch“ nicht geboten scheinen und dem legitimen Protest gegen Corona-Zwangsmaßnahmen eher schaden; falsch auch, weil es ethisch verwerflich ist, Menschen psychisch oder körperlich zu verletzen, zu bedrohen und zu bedrängen, sie symbolisch zu demütigen, Kunstschätze zu zerstören und Sachschäden zu verursachen. Das viel zitierte „Gewaltmonopol“ sollten wir dem Staat überlassen. Er liebt es ja sehr und nutzt es weidlich aus — so gesehen zum Beispiel in Berlin am 29. August.
Der prominenteste Verstorbene
Gegen die Absicht, aus diesen Einzelfällen jedoch eine generelle Gewaltneigung der Corona-Skeptiker-Szene oder eine anbrandende neue Terrorwelle zu konstruieren, habe ich einige Einwände.
Zunächst: Für mich relevant sind nur Vorfälle, die sich tatsächlich so abgespielt haben, wie berichtet wird, und bei denen es sich nicht um False-flag-Aktionen beziehungsweise die Taten von „Agents provokateurs“ handelt. Hat das Grablicht vor Ramelows Wohnung tatsächlich ein Querdenker platziert oder jemand, der die Querdenker in einem negativen Licht erscheinen lassen wollte? Oder handelte es sich nur um eine Art Requiem auf die Freiheit — ausgedrückt in einem einfachen Symbol?
Wenige Tage zuvor, an Allerheiligen, entzündeten Demonstranten in München in großen Mengen Grablichter für den prominentesten Verstorbenen dieser Tage: unsere Demokratie. Würde jemand auf die Straße vor dem Kanzleramt den Satz „Tod für Merkel“ sprühen und hinterließe er dort demonstrativ ein Parteiprogramm der Partei „Die Linke“ — wer hätte einen Vorteil von einem solchen Verhalten? Die Linke gewiss nicht, wohl aber Kräfte, die ihr schaden wollen.
Ein weiterer Einwand: Man kann generell davon ausgehen, dass die Presse keinen Vorfall dieser Art „auslassen“ wird, sondern derartige Ereignisse vielmehr begierig aufgreifen und ausschlachten wird. Gleichzeitig bleibt Polizeigewalt, wie es sie zuhauf gegeben hat, weitgehend unbeleuchtet. Ebenso die relativ häufigen Fälle von Gewalt, die Freizeitpolizisten aus der „Mitte der Gesellschaft“ gegenüber Corona-Regelbrechern verüben, wie der Biologe und Autor Clemens G. Arvay berichtete. Auch der gewalttätige Charakter der Corona-Maßnahmen selbst wird als solcher nur selten benannt. Hierbei agiert der Staatsapparat ja grundsätzlich nach dem Erlkönig-Prinzip: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Man denke beispielsweise daran, dass teilweise schon Gebärende zum Tragen von Masken während des Geburtsvorgangs gezwungen werden. Ebenso kleine Kinder.
Thomas Wüppesahl, Sprecher der „Kritischen Polizistinnen und Polizisten“, sprach mit Bezug auf die Vorfälle bei Corona-Demonstrationen in Leipzig und Berlin von „Störmaßnahmen, die aus den Reihen der Staatsorgane, der sogenannten Sicherheitsorgane, massiver sind als zum Beispiel aus dem rechtsextremistischen Bereich“. Wenn Jens Spahn wegen seiner Homosexualität beschimpft wird, ist das für mich inakzeptabel. Aber ist es nicht menschlich mehr als verständlich, was dem Gesundheitsminister am 24. August in Wuppertal passierte? Dort wurde er am Marktplatz von Demonstranten ausgebuht. Eine Frau schrie: „Hören Sie auf, unsere Kinder zu quälen!“
Die wirklichen Friedensbrecher
Die Nerven liegen vielfach blank. Aber wessen Schuld ist das? Hat nicht die Regierung den sozialen Frieden im Land gefährdet und das lange gültige „Stillhalteabkommen“ zwischen Obrigkeit und Bevölkerung aufgekündigt? „Terror“ bedeutet Schrecken, die Erzeugung von Angst, um politische Ziele zu erreichen. Wer produziert derzeit am meisten Angst in der Bevölkerung? Und geschieht dies etwa nicht, um politische Ziele zu erreichen? Gemessen an der Tatsache, dass die Obrigkeit derzeit ein ganzes Volk massiv und ohne wirklich zureichenden Grund misshandelt, ist der Widerstand insgesamt gering, sind insbesondere Gewalttaten und Gewaltandrohungen überschaubar — so bedauerlich sie sind.
Wie viele „Gewaltbereite“ gibt es derzeit in Deutschland — von Polizisten und Soldaten einmal abgesehen? Es ist schwer, das zu schätzen, denn wenn man von „Bereitschaft“ spricht, geht es ja um Zukunftsprojektionen, um „Gefährder-Potenziale“, die geweckt werden oder weiter ruhen könnten. Am 18. November setzte die Polizei in Berlin 365 Personen fest. So viele wie das Jahr Tage hat. Waren alle potenzielle Terroristen? Und selbst wenn „Gewaltbereite“ darunter waren — ist eine dreistellige Zahl von Menschen, die der Polizei negativ aufgefallen sind, schon bedrohlich für die Gesellschaft als Ganzes?
Wie viele Menschen sind dem gegenüber negativ von den Corona-Maßnahmen einschließlich der sie begleitenden Angstkampagne betroffen? Wohl alle Deutschen — also 83 Millionen, um hier nur im Inland zu bleiben. Subtrahieren wir all jene, die mit den Maßnahmen im Wesentlichen einverstanden sind. Manche Menschen sorgen sich ehrlich um ihre Gesundheit und die ihrer Angehörigen — und dies ist nicht grundsätzlich unberechtigt. Viele fühlen sich ja nicht einmal in ihrem Stolz gekränkt, wenn man ihnen vorschreibt, wie viele Menschen sie in ihrem Wohnzimmer empfangen dürfen, wenn sie gezwungen werden, für einen Kinobesuch ihre Kontaktdaten zu hinterlassen, oder wenn sie rüde von „Sicherheitskräften“ zurechtgewiesen werden, weil ihre Nase über dem vorgeschriebenen Christian-Drosten-Gedenk-Lappen hervorlugt. Vielleicht auch, weil sie gar keinen Stolz besitzen. Weil sie demokratisch anspruchslos sind und Freiheits-Fasten für gesund halten.
Der homo obediens
„Es kommt mir vor, als wäre das Glücksgefühl der Deutschen gebunden an die Erfahrung, unterdrückt zu werden“, sagte der Publizist Henryk M. Broder im Gespräch mit Gunnar Kaiser. Ziehen wir also alle ab, die bei den Maßnahmen relativ gern mitmachen, und gehen wir davon aus, dass vielleicht jeder vierte Deutsche wirklich unter ihnen leidet — das wären immer noch über 20 Millionen. Wenn aus diesem Kreis einige hundert, gar einige tausend „gewaltbereit“ oder verbal aggressiv wären — Polizisten hier nicht eingerechnet —, läge dies nicht noch im Rahmen des statistisch Erwartbaren? Ja muss man derzeit nicht sogar eher von einer „Unterreaktion“ der geplagten Bevölkerung auf eine massive politische Zumutung reden?
Umgekehrt scheint bei den Staatsorganen eher eine Art Ungehorsams-Hypochondrie zu bestehen, also eine Überempfindlichkeit dagegen, dass Bürger für ihr Leben und ihren Körper eine andere Entscheidung treffen als jene, die „oben“ präferiert wird. Die Zügel-Anzieher im Staatsapparat wünschen nicht 90 und nicht 99 Prozent, sondern 100 Prozent Zustimmung zu jeder ihrer Anweisungen — mag es sich um ein wohlüberlegtes Machtwort der Kanzlerin oder auch nur um den skurrilen Einfall eines Einsatzleiters der Polizei vor Ort handeln.
Am besten sollten die Misshandelten als Reaktion auf massive Lebensbehinderungen und die Zufügung von millionenfachem psychischem Leid noch Hosianna-Gesänge anstimmen.
Politiker scheinen ernsthaft überrascht und entrüstet darüber, dass sich überhaupt Kritik erhebt oder Ungehorsam vorkommt. Sie stellen sich eine Demokratie vor wie eine Webseite, auf der die Zustimmung zu Cookies mit dem „Accept“-Button erzwungen wird und gar keine andere Alternativ existiert. Das ist so weltfremd wie lebensfeindlich, denn nur Roboter tun immer, was ihr Besitzer von ihnen will, und auch dies nur, wenn er sie korrekt programmiert hat. Bürger anständig zu behandeln, die ohnehin tun, was die Mächtigen von ihnen verlangen, ist keine Kunst. Die Nagelprobe für eine Demokratie — will sie sich von einer Diktatur unterscheiden — ist jedoch stets die Art und Weise, wie sie mit Widerspruch umgeht, mit Ungehorsam.
Die Macht wünscht gar nicht, dass Menschen die ihnen eigene Form bewahren. Der Bürger soll vielmehr dem Wasser gleichen, das willig in jede von der Obrigkeit vorgegebene Form fließt. Das aber hat mit Menschenwürde nichts mehr zu tun — noch nicht einmal mit Menschsein. Diese Politikergeneration kann mit Menschen, so wie sie sind, eigentlich gar nicht so viel anfangen. Deshalb versucht sie eine Art Schrumpfform zu züchten: den homo obediens, den gehorchenden Menschen.
„Terror“, der gelegen kommt
Die Liste der „Terrorakte“, die Bodo Ramelow und einige Medien angefertigt haben, zeigen also im Grunde nur eines: das starke Bedürfnis staatlicherseits, den Gegnern der Corona-Maßnahmen etwas anlasten zu können, was einen möglichst bedrohlichen Namen trägt. Terror zum Beispiel. Mangels wirklicher Belege für einen sich anbahnenden neuen Terrorismus haben sie irgendetwas an den Haaren herbeigezogen und zum Ereignis aufgeblasen, das mit Sicherheit nicht weltbewegend ist. Die Absicht ist klar: weitere Sicherheitsgesetze und Grundrechtseinschränkungen könnten damit begründet werden.
Terror — das Wort aktiviert tiefer liegende Ängste. Es suggeriert, dass nun etwas wirklich Ungeheuerliches passiert ist, das eine den üblichen Rahmen sprengende Kraftanstrengung des ganzen Volkes und speziell seiner Sicherheitskräfte erfordert. Bereits zwischen 1971 und 1977 beherrschte „Terror“ die Medien, ähnlich wie heute Corona, hingen Plakate gesuchter Terroristen an jeder Ecke, mussten Bürger damit rechnen, von der Polizei verdachtsunabhängigen Kontrollen unterworfen zu werden, wurden Anwaltsrechte beschnitten und verschärfte Sicherheitsgesetze verabschiedet. Wer Macht in seinen Händen konzentrieren und Machtkontrolle klein halten will, der verwende am besten die Begriffe „Krieg“ und „Terror“.
Zusammengefasst:
Es gibt staatlicherseits beinahe etwas wie eine Sehnsucht nach der Verwendung des T.-Worts, ohne dass sich ein dazu passender tatsächlicher Terrorismus bisher gezeigt hätte.
Zu den Ereignissen während Demonstrationen, zum Beispiel in Leipzig und Berlin, ist ja zu sagen, dass sich dort Personengruppen ausgetobt haben, die schon vor Corona gewaltbereit waren und denen verschiedenste Themen als Auslöser für Randale gedient haben — etwa Hooligans und Neonazis. Die Strategie von Staat und Staatsmedien ist dabei immer, möglichst das Ganze, also Corona-Kritiker im weitesten Sinn, für das Verhalten Einzelner in Mithaftung zu nehmen, gleichzeitig jedoch die eigene Mitverantwortung für die Taten gewalttätiger Polizisten zu leugnen. Staatsdiener muss man sich als Menschen mit besonders zartem Gemüt vorstellen — robust im Austeilen, aber ungemein dünnhäutig, wenn es ums Einstecken geht.
Hätte es also keine Vorfälle wie die anfangs Geschilderten gegeben, so hätten die Befürworter der Corona-Maßnahmen sie erfinden müssen — so gut passen sie ihnen ins Konzept. Benutzt jemand das Wort „Terror“, so will er damit sagen: Hier geht es nicht um ein beliebiges Gewaltverbrechen, es liegt ein epochaler Angriff auf die Gesamtheit unserer freiheitlich-demokratischen Lebensart vor. Die Mehrheit der Anständigen muss sich jetzt entschlossen gegen den gemeinsamen Feind stellen.
Überempfindlichkeit, wenn es um den Abbau von Freiheitsrechten geht, ist im Angesicht dieser Bedrohung unangebracht. Jetzt muss erlaubt sein, was unter normalen Umständen nicht so ohne weiteres durchsetzbar wäre. Wenn das Haus in Flammen steht, ist nicht der richtige Augenblick, die Autorität des Feuerwehrhauptmanns in Frage zu stellen.
Wie entsteht Terrorismus?
Was ist Terror und wie entsteht er? Hier hilft der Blick auf ein berühmtes Datum: den 2. Juni 1967. Für den Besuch von Schah Reza Pahlevi wurden in Berlin Sicherheitsvorkehrungen getroffen, die an polizeistaatliche Verhältnisse erinnerten. Oppositionelle Perser wurden in Vorbeugehaft genommen. Andererseits wurde es Schah-treuen Persern, sogenannten Jubelpersern, erlaubt, den Kaiser mit Fahnen und Hochrufen auf dem Flugplatz zu begrüßen.
Als sich der Schah auf dem Schöneberger Rathaus zeigte, um die Menge zu begrüßen, kam es zu Protestkundgebungen. Die Menge rief „Schah, Mörder“. Der Hintergrund der Proteste waren Menschenrechtsverletzungen des Schah-Regimes, die auch in Deutschland bekannt geworden waren. Das linke Magazin Konkret warf dem persischen Regime im Vorfeld des Besuches vor, „dass keine unzensierte Zeile in Persien veröffentlicht werden darf, dass nicht mehr als drei Studenten auf dem Universitätsgelände von Teheran zusammenstehen dürfen, dass Mossadeghs Justizminister die Augen ausgerissen wurden, dass Gerichtsprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, dass die Folter zum Alltag der persischen Justiz gehört …“ Diesen Beitrag schrieb Ulrike Meinhof.
Kaum wurden aus dem Demonstrationszug Farbbeutel auf den Schah geworfen (ohne ihn zu treffen), schlugen die „Jubelperser“, überwiegend Agenten des persischen Geheimdienstes, mit Holzknüppeln wahllos auf Demonstranten ein. „Blut floss, Studenten gingen zu Boden. Und die deutsche Polizei sah teilnahmslos zu, machte keine Anstalten, die Knüppelei zu beenden. Erst nach mehreren Minuten griff die Polizei ein — auf Seite der Perser. Die iranischen Latten und Stahlruten wurden durch deutsche Gummiknüppel ergänzt.“ So beschreibt Stefan Aust in „Der Baader-Meinhof-Komplex“ (1) die Szene.
Am Abend wiederholten sich ähnliche Szenen vor der Berliner Oper, wo das Kaiserpaar einer Mozart-Aufführung beiwohnen wollte. Farbeier, Tomaten und vereinzelt Steine wurden geworfen, die jedoch keinen Schaden anrichteten. Als die Demonstranten abrücken wollten und sich die Lage eigentlich hätte entspannen können, stürmten Polizeieinheiten ohne die gesetzlich vorgeschriebene Warnung los. Die Demonstranten versuchten zu fliehen, wurden aber wie die Hasen von den „Ordnungskräften“ gejagt und verprügelt. „Es setzte ein die brutalste Knüppelei, die man bis dahin im Nachkriegsberlin erlebt hatte. Blutüberströmt brachen viele Demonstranten zusammen“, beschreibt Aust die Szene. Auch „Jubelperser“ mischten wieder mit und griffen sich auf eigene Faust Demonstranten.
Für den 26 Jahre alten Studenten Benno Ohnesorg war es die erste Demonstration, an der er je teilgenommen hatte. Es sollte auch seine letzte sein. Er geriet in ein Handgemenge mit Polizisten. Aus der Pistole des Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras löste sich ein Schuss, der Benno Ohnesorgs Kopf aus einem halben Meter Entfernung traf — zu einem Zeitpunkt, als er von der Polizei längst überwältigt war und keine Gefahr mehr dargestellt hätte. Mit jener Gnade, die später Bundespräsident Horst Köhler dem Ex-RAF-Mitglied Christian Klar nicht gewähren wollte, wurde der Todesschütze vom 2. Juni geradezu überhäuft. Er lebt nach seinem Freispruch unbehelligt bis zu seinem Tod 2014.
Der lästige Bürger
Eine merkwürdige Verdrehung der Werte fand hier statt. Demonstranten, die sich über Menschenrechtsverletzungen empören, wie sie vom Schah, aber später auch von Obama, Erdogan und anderen zu verantworten sind, haben, so könnte man meinen, ihre demokratische Lektion besonders gründlich gelernt. Sie haben die Lehren aus der Katastrophe des Dritten Reiches gezogen, die nicht zuletzt auch der moralische Bankrott einer passiven bis zustimmenden Bevölkerungsmehrheit war.
Sie haben die Werte der Verfassung — Menschenwürde, Menschenrechte und Gerechtigkeit — verinnerlicht und sind bereit, für sie einzutreten. Bei ihnen meldet sich ein intaktes Frühwarnsystem, wenn sie beispielsweise von Folter im Machtbereich „demokratischer“ Nationen, von Angriffskriegen mit hunderten zivilen Opfern oder von der Zerstörung unserer Ökosphäre erfahren.
Heute meldet sich dieses Frühwarnsystem auch bei Menschen, die gegen den galoppierenden Demokratie- und Freiheitsabbau unter Berufung auf Corona protestieren. Damals wie heute gingen Menschen für jene Überzeugungen auf die Straße, die zu schützen auch die Aufgabe unserer Politikerinnen und Politiker sowie unserer Polizei wäre. Mit wenigen Ausnahmen waren und sind die Menschen trotz der Brisanz der weltpolitischen Lage und der Schwere der von einigen Staatenlenkern zu verantwortenden Verbrechen bereit, ihren Protest friedlich zu äußern. „Ein gutes Volk — und Vater dieses Volkes! Das, dacht ich, das muss göttlich sein!“ So sagte es Schillers Marquis Posa zu König Philipp von Spanien im Theaterstück „Don Carlos“.
Welche Erfahrungen mussten die Demonstranten des Jahres 1967 jedoch machen? Statt Anerkennung und einem offenen Ohr seitens „ihrer“ politischen Führung, erfuhren sie etwas, was sie in höchstem Maße enttäuschen und kränken musste. Sie waren der Staatsmacht lästig.
Das Volk — speziell die Teile des Volkes, die die Menschenrechte am besten verstanden hatten — war den deutschen Politikern peinlich. Sie versteckten es betreten vor ihren für Menschrechtsverletzungen verantwortlichen Gästen. Bis heute wollen auch Merkel & Co. nur Symptome unterdrückten, anstatt nach den Ursachen des Unmuts in der Bevölkerung zu fragen. „Warum sollten wir mit denen debattieren? Wir sind sowieso die Stärkeren — die sollen parieren“, scheint das unausgesprochene Motto zu sein.
Der nächste Benno Ohnesorg
Was also könnte zum Zündfunken für Terror werden? Es ist nicht so sehr die Tatsache, dass ein nervöser, überforderter Polizist einen — wenn auch sehr verhängnisvollen — Fehler begangen hat, was die Menschen empört. Was vielmehr Schmerz und Wut auslöst, ist die Arroganz eines Staates, der statt einer Entschuldigung, statt Einkehr und Umkehr seine Gegner beschimpft und sich mit beispielloser Ignoranz hinter die Täter stellt. Politiker, die Mörder und Prügler umarmen und das Volk mit der Haltung „mach meinen Kumpel nicht an“ auf Distanz halten. Dies ist mehr als nur mangelnde Solidarität, es ist Verrat am Bürger.
Der nächste Benno Ohnesorg könnte in der Tat schon bald tot auf dem Straßenpflaster einer Großstadt liegen, wenn die staatlichen Institutionen ihre Auffassung vom Verhältnis zwischen Staat und Bürgern nicht grundlegend überdenken.
Und es muss nicht unbedingt ein „Rädelsführer“ sein wie Rudi Dutschke, nicht notwendigerweise ein gewaltbereiter Rabauke und Verfassungsfeind. Es kann ein Demonstrant sein wie du und ich, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Gerade das ist ja die Lehre aus dem Fall des unbedarften „Normalos“ Ohnesorg: In einer beiderseits aufgepeitschten Atmosphäre kann es jeden treffen. Wenn auf staatlicher Seite noch zusätzlich Sicherheitshysterie und antidemokratisches Unbehagen gegenüber jeglicher Art von Bürgerprotest die Oberhand gewinnen, kann die Lage leicht eskalieren — wenn nicht 2020 in Berlin, dann bei anderer Gelegenheit.
In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1967 traf sich in der Berliner SDS-Zentrale, dem Hauptquartier der Studentenvereinigung, die Avantgarde der später so genannten 68er-Bewegung, eine Gruppe aufgebrachter Demonstranten. Eine junge Frau weinte und schrie:
„Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz — mit denen kann man nicht argumentieren.“
Die Frau war Gudrun Ensslin. Ihr Fall zeigt exemplarisch, welch verheerende Folgen staatliches Fehlverhalten mit sich bringen kann. Er kann aber ebenso als Warnung dafür dienen, wie auf Seite der Protestler auf keinen Fall gedacht und reagiert werden darf. Ensslins Fehler bestand ja gerade darin, dass sie aus dem Entsetzlichen, das sie wahrnahm, den Schluss zog, sie müsse dasselbe Entsetzliche nun selbst tun: Gewalt und Mord.
Das Versagen der „Peergroup“
Noch etwas können wir aber aus der Zeit zwischen 1967 und 1977 über die Entstehung von Terror lernen. Der hatte ja genau genommen drei Ursachen: Erstens die brutale Gewaltanwendung durch „Staatsorgane“ und zweitens die arrogante Weigerung des Staates, seine Mitschuld anzuerkennen, die Täter zu sanktionieren und sich bei den Opfern zu entschuldigen.
Es gab aber noch einen dritten Faktor: Das Versagen des Mitstreiter-Umfelds. 1970, als sich die RAF gründete, war die Demonstrationswelle der „68er“-Zeit bereits abgeflaut. Viele waren andere Wege gegangen: Rückzug ins Privatleben, Abtauchen in Hippie-Kultur und spirituelle Innerlichkeit oder Mitgliedschaft in linientreu sozialistischen, jedoch antilibertären Kadergruppen. Viele ließen sich einhegen durch eine nur leicht rötlich eingefärbte Bürger-Behaglichkeit oder glaubten, „Willy“-Euphorie sei ein Ersatz für eine breite, Kultur, Alltag und Politik durchdringende Bürgerbewegung.
Die RAF-Terroristinnen und Terroristen radikalisierten sich auch deshalb, weil sich gleichzeitig viele andere entradikalisierten, weil sie sich im Stich gelassen fühlten und das Gefühl hatten, „die ganze Arbeit“ jetzt allein machen zu müssen. Die Aufbruchs- und Widerstandsenergie, die zuvor von vielen tausend Menschen getragen worden war und deshalb wie eine große, jedoch sanfte Welle über das Land ging, verdichtete sich zu einem dünnen, konzentrierten Strahl: dem Terror Weniger.
Die Morde der RAF waren ein schwerer Fehler — unter grundsätzlich-moralischen wie unter politisch-strategischen Gesichtspunkten. Zu wenig gesehen wird dagegen das Versagen der anderen Beteiligten — des Staates, von dem die Gewalt ursprünglich ausgegangen war, wie auch der erlahmenden Widerstandsbewegung, die den späteren Terroristen wohl das Gefühl vermittelt haben musste, dass friedliche Formen des Protests nichts mehr bewirken konnten.
Was auf keinen Fall passieren darf
Gemessen an den staatlichen Zumutungen ist der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen heute ohnehin verhältnismäßig gering. Würde dieser weiter abbröckeln, so käme es vielleicht zu einer ähnlich unheilvollen Polarisierung: die Vielen tauchen ab und geben auf; die Wenigen — noch verzweifelter, noch einsamer und verbitterter — radikalisieren sich. Sie wären dann auch ein „gefundenes Fressen“ für den Staatsapparat, der Gewalttäter mühelos dämonisieren, isolieren und schließlich ausschalten könnte. Abschließend herrschte wieder Frieden im Land. Eine Kirchhofsruhe unter dem Diktat der Mächtigen und mit Duldung der Ohnmächtigen, die den Mund halten würden, um nicht zum Sympathisantenumfeld von „Terroristen“ gezählt zu werden.
Eben diesen Effekt scheinen die beim heutigen Stand der Ereignisse eher wehleidig wirkenden Klagen von Ramelow & Co. über „Terrorismus“ aus den Reihen der Querdenker erzielen zu wollen. Eben dieses Spiel gilt es zu durchkreuzen. Durch Nachdenken und Aufklärung zuerst — dann aber auch durch eine klare Linie der Gewaltfreiheit. Wir werden in dieser aufgeheizten politischen Atmosphäre niemals vermeiden können, dass man uns kritisiert — wohl aber sollten wir vermeiden, dass eine Situation entsteht, in der dies zu Recht geschieht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Verlag Piper, 992 Seiten, 18 Euro
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