Wikipedia weiß es schon seit mehr als einem Jahr: Rubikon ist „eine Webseite, die hauptsächlich über deutsche Politik berichtet, dabei Narrative der russischen Regierung unterstützt und Verschwörungsmythen sowie falsche und irreführende Behauptungen veröffentlicht, unter anderem auch über das neuartige Coronavirus“. Quelle ist ein Zwölf-Seiten-Bericht von Marie Richter, der rechts oben in roter Schrift auf den Punkt gebracht wird: „NewsGuard empfiehlt Vorsicht bei der Nutzung dieser Webseite: Sie verstößt schwerwiegend gegen grundlegende journalistische Standards.“
Darunter stehen ein Score, 35 von 100 Punkten, sowie vier rote Kreuze, vier grüne Häkchen und ein weißes Feld, weil Rubikon keine Werbung hat, 7,5 Punkte. Wir lernen: Die Überschriften sind okay (10 Punkte) und man weiß, wem der Rubikon gehört, wer ihn bezahlt (7,5), wer hier schreibt (5) und wer redigiert (5). In meiner Welt wären das 100 Punkte. Transparenz pur und Menschen, die es schaffen, komplexe Artikel auf drei Worte zu verdichten und dabei auch noch einen Leseanreiz zu setzen.
NewsGuard kommt aus einer anderen Welt. In dieser Welt weiß man, was richtig ist und was falsch (22 Punkte), auf welche Quellen man sich stützen darf (18), was als Korrektur von Fehlern durchgeht (12,5) und wie man Nachricht und Meinung unterscheiden kann (12,5). Null von 65 Punkten für den Rubikon in der Rubrik „Glaubwürdigkeit“. Für 2021 hat Marie Richter aus den 100-Punkte-Seiten von NewsGuard ein Ranking gebastelt, das die „Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken“ abbilden soll. Ganz oben in den Top Ten: Spiegel, FAZ, BR, Süddeutsche Zeitung.
Ich gebe zu: Viel mehr wollte ich über diese Marie und ihre Sponsoren eigentlich gar nicht wissen. In ihrer Rubikon-Analyse schreibt sie, es gebe keine Beweise, „dass das neuartige Coronavirus und die Bemühungen zur Eindämmung des Virus Teil eines Plans zur Kontrolle der Weltbevölkerung“ seien oder dass ein tiefer Staat „im Geheimen die Macht gewählter Regierungen aushöhlt“. Außerdem hätten gleich „mehrere Faktenchecker- und Nachrichtenorganisationen“, „darunter Reuters, PolitiFact und Snopes“, bezweifelt, dass George Soros BLM-Proteste bezahlt habe. Auch Rockefeller, Ford und Gates werden von Marie Richter in dieser Sache freigesprochen. „Keine Beweise“, euer Ehren. Man muss das nicht zu Ende lesen. Die Impfung, 9/11, Skripal, MH17, Palästina.
Die Liste der Rubikon-Verfehlungen ist lang und wird offenbar getoppt durch die fixe Idee, dass die Erzählung von der Demokratie dem Realitäts-Check nicht wirklich standhält.
Warum ich jetzt trotzdem über NewsGuard schreibe? Die Redaktion hat gefragt. Anlass war eine Multipolar-Recherche von Paul Schreyer. Das Onlinemagazin, das Schreyer mit Stefan Korinth und Ulrich Teusch herausgibt, ist offenbar endgültig in die Oberliga der oppositionellen Nachrichtenseiten aufgestiegen und so in das Visier der Wahrheitswächter geraten.
Paul Schreyer hat dieses Thema so aufbereitet, wie wir das von ihm kennen. 100 Punkte. Wir erfahren, wer NewsGuard bezahlt: unter anderem der milliardenschwere Werbekonzern Publicis, der auch für Pfizer arbeitet. Wer die Organisation berät: lauter Menschen, bei denen Nato, CIA oder die US-Regierung im Lebenslauf stehen. Wer die Ratings erstellt: Journalisten, die auch für die Leitmedien arbeiten und teilweise sogar aktuelle oder ehemalige Arbeitgeber bewerten. Und wer Marie Richter ist: eine 25-jährige Professorentochter ohne Berufserfahrung jenseits von NewsGuard.
Natürlich geht es bei Paul Schreyer auch um die Kriterien, die zu roten Kreuzen oder grünen Häkchen führen. In Kurzform: viele Punkte dort, wo es um die „Gesinnung“ geht. Unter der Zwischenüberschrift „Objektivitätsmythos“ werde ich selbst zitiert:
„Hier (vermeintlich objektive) Nachrichten, dort Meinungen: Dieses Trennungsgebot ist Teil einer Ideologie, die die Interessen hinter der Berichterstattung der Leitmedien verschleiert. Journalismus ist Selektion. Das beginnt bei der Entscheidung, was überhaupt zum Thema wird, und endet längst nicht bei der Gewichtung (was steht groß vorn, was eher klein weiter hinten) oder bei der Berufung auf opportune Zeugen. Wertungen werden über Sprache transportiert — auch und gerade im ‚Nachrichten‘-Teil. Die Forschung hat vielfach nachgewiesen, dass dort die gleiche Botschaft zu finden ist wie in den Kommentaren. Wer wie NewsGuard das Gegenteil behauptet und auf dieser Basis auch noch Gütesiegel verteilt, wird zum Wächter der herrschenden Meinung. Es ist deshalb kein Zufall, dass diese Organisation überhaupt keinen Wert auf Vielfalt legt und das Kriterium Transparenz (wer schreibt hier, wer bezahlt und wer liefert warum zu) unter ferner liefen behandelt.“
Ich würde das hier nicht wiederholen, wenn mir die Post nicht am gleichen Tag das neue Buch von Hannes Hofbauer in den Kasten gelegt hätte. „Zensur“ steht auf dem Cover, das aussieht wie eine Akte aus dem Kirchenarchiv oder wie ein Abschnitt aus den „Reisebildern“ von Heinrich Heine, der einst für die „deutschen Zensoren“ nur das Wort „Dummköpfe“ stehen ließ (1). Hofbauer, ein studierter Historiker, startet seine Zeitreise zwar mit der Erfindung des Buchdrucks, kommt dann aber über das 20. Jahrhundert schnell in die Gegenwart und liefert so den Kontext, den Paul Schreyer in seinem NewsGuard-Porträt nur andeuten kann.
Hannes Hofbauer sagt: Zensur und Publikationsverbote gibt es immer und überall. „Betroffen sind Positionen, die das herrschende Narrativ in Frage stellen und gleichzeitig das Potenzial einer weiten Verbreitung besitzen.“ Und: Die Zensur wird stärker, wenn eine Zeitenwende näher rückt.
„In genau einer solchen Situation befinden wir uns. Die Wiederkehr der Zensur wurzelt in der Schwäche des transatlantischen Raumes. Im Niedergang kämpft das Establishment um seine Daseinsberechtigung“ (2).
Das heißt: Das Wahrheitsmonopol wird mit Zähnen und Klauen verteidigt. Auf in den Kampf gegen die „Demokratisierung des Wissens“, auch wenn die Geschichte lehrt, dass es der „Herrschaft“ nie — „und schon gar nicht vollständig“ — gelingt, alle Stimmen mundtot zu machen, die ihr „wirklich gefährlich werden können“ (3).
Es braucht diese gute Nachricht am Schluss des Buches, um verdauen zu können, was Hannes Hofbauer an neuen, in früheren Epochen „nicht gekannten Formen“ der Zensur auflistet.
Bevor ich das zu Stichpunkten verdichte, sei auf die beiden wichtigsten Muster hingewiesen. Zum einen reflektiert die westliche Zensurpolitik des 21. Jahrhunderts das, was Sheldon Wolin in die Formel „umgekehrter Totalitarismus“ gegossen hat — die „Koalition“ zwischen Staat und Monopolkonzernen oder, etwas ausführlicher, die „symbiotische Beziehung zwischen einer herkömmlichen Regierungsform und dem System des ‚privaten‘ Regierens, das durch moderne Kapitalgesellschaften repräsentiert wird“ (4).
Hofbauer zeigt vor allem am Beispiel von EU und Silicon Valley, wie dieses Zusammenspiel funktioniert und wie dabei gleichsam nebenbei jede Verantwortung verschleiert wird. Zum anderen dreht es sich immer um die gleichen Themen: „Ukraine, Krim, russische Nation, Migration, Embargo, Corona“. Ich zitiere hier nur exemplarisch. „Es geht um die transatlantische Position zu Russland und die Corona-Politik der allermeisten EU-europäischen Staaten“ (5).
NewsGuard fehlt bei Hannes Hofbauer genauso wie die „Trusted News Initiative“, über die ich im Rubikon schon berichtet habe. Dafür gibt es Abschnitte über die Faktenchecker und über Berufsverbote, über die Kriege gegen RT und Ken Jebsen, über die Cleaner von Facebook und die Trusted Flagger von YouTube sowie eine systematische Aufarbeitung der Attacken gegen die Meinungsfreiheit, die von der EU und vom deutschen Gesetzgeber in der jüngsten Vergangenheit geritten worden sind (6):
Bei Hannes Hofbauer beginnt der Reigen mit einem EU-Rahmenbeschluss vom 28. November 2008, bei dem es um „die Definitionshoheit über Völkermord“ ging und damit „de facto“ um Diskussionsverbote und Tabus in Sachen Kriegsschuld, etwa in Jugoslawien oder in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Es folgt die „East StratCom Task Force“, etabliert im März 2015 nach dem „Regimewechsel in der Ukraine“ mit dem Ziel, das „eigene Narrativ“ durchzusetzen. Auf der Seite EU vs. Disinfo wird seither in hoher Schlagzahl alles bekämpft, was diesem Narrativ widerspricht.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, in Kraft seit 1. Oktober 2017, interpretiert Hannes Hofbauer ganz richtig als „staatlichen Anstoß“, der es privaten Internetkonzernen erlaubt hat, zu „Zensurmaschinen“ zu mutieren. Die beiden wichtigsten Probleme: Die Begriffe „Hasskriminalität“ und „Fake News“ — die Zielscheiben des Gesetzes — zeichnen sich durch „interpretative Dehnbarkeit“ aus. Und: Das „neue Zensorenregime“ ist „irgendwo zwischen Berliner Justizministerium und US-amerikanischen Konzernzentralen“ angesiedelt und so „kaum fassbar“.
Die EU vereinbart im Oktober 2018 mit Facebook, Google und Twitter einen „Verhaltenskodex gegen Desinformation“, den inzwischen auch Plattformen wie Vimeo, Clubhouse, Avaaz oder WhoTargetsMe unterzeichnet haben.
„Vorläufig letzter Baustein“ ist bei Hofbauer der Medienstaatsvertrag, der am 7. November 2020 aus den Landesmedienanstalten „Kontrolleinrichtungen für die digitale Publikationswelt“ gemacht hat. Seitdem fordert der „Gesetzgeber von Webseitenbetreibern, Bloggern und Medienintermediären“ eine Wahrheitsprüfung — unter dem Etikett „journalistische Sorgfalt“ —, obwohl die „Definition von Wahrheit beziehungsweise ihrer Missachtung keine hoheitliche Aufgabe sein dürfte“.
Hannes Hofbauer erwähnt, dass der Rubikon aus dieser neuen Zensurbürokratie sehr schnell eine Abmahnung bekommen hat. Anders als das rote Warnschild, das NewsGuard zum Beispiel an Microsoft verkauft und das uns deshalb oft anschaut, wenn wir im Browser Edge nach Texten suchen, kosten solche „blauen Briefe“ Zeit, Nerven und vor allem Geld für den Anwalt oder für die Strafe. Sie konnten diesen Text trotzdem lesen. Vielleicht haben Sie sogar schon ein Buch von Rubikon gekauft oder einen Zehner gespendet. Der Streit um die Wahrheit lässt sich nicht unterdrücken, allen Warnschildern, Drohungen und Löschungen zum Trotz.
Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.
Stimmen zum Buch
„Ist zu den Themen Medien und Medienkritik bereits alles Wichtige gesagt? Michael Meyen belehrt uns auf fulminante Weise eines Besseren. Der Autor führt in die verzweigte Debatte ein, verdichtet sie, spitzt sie zu und treibt sie voran, entwickelt Perspektiven — stilistisch brillant, mitreißend, erhellend. Medienkritische Aufklärung als Lesegenuss!“
Ulrich Teusch, Professor für Politikwissenschaft
„Wer wie Goethes ‚Faust‘ wissen will, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, der muss Michael Meyens brillante Darstellung lesen, die tiefe Einblicke in die gegenwärtige Medien-Matrix liefert. Mit erzählerischer Leichtigkeit und analytischer Schärfe werden die Erkenntnisse von intellektuellen Größen wie Hannah Ahrendt, Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Michel Foucault, Walter Lippmann und Niklas Luhmann für die Beobachtung (...) fruchtbar gemacht. Sichtbar werden die ‚blinden Flecken‘, aber auch die neuen Chancen von demokratischer Beteiligung und selbstbestimmter Erkenntnis.“
Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler
„Michael Meyens Buch ist trotz des knalligen Titels vor allem eines: solide Wissenschaft. Der Autor verbindet dabei zwei Qualitäten, die im akademischen Feld Seltenheitswert haben: Er schreibt prägnant, ohne Umschweife und vermeidet zugleich jede Selbstgerechtigkeit. Dieser Stil ist auch den politischen Debatten zu wünschen, die dieses Buch mit seinen brisanten, brandaktuellen Überlegungen hoffentlich anstößt.“
Paul Schreyer, Bestsellerautor
„Michael Meyen geht es um mehr als um Verständnis für sein Fach. Er bietet seine Expertise, klärt auf, macht verstehbar und veranschaulicht Mechanismen mit nichts weniger als der Freiheit im Blick. Ein Weißbuch für einen besseren Journalismus, wenn nicht für eine Revolution der Medien!“
Martin Sinzinger, Naturfotograf
„Ein mutiges Buch, auf den Punkt. Meyens Medienbeobachtungen führen uns vor Augen, wie real die Abgründe im ‚Journalismus‘ unserer Zeit sind.“
Marcus Klöckner, Journalist
Quellen und Anmerkungen:
(1) Hannes Hofbauer, Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung. Promedia, Wien 2022
(2) Ebenda, S. 7
(3) Ebenda, S. 9, 237
(4) Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld. Westend, Frankfurt am Main 2022, S. 60 bis 63
(5) Hofbauer, Zensur, S. 8, 133f.
(6) Ebenda, S. 124 bis 144
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