Noch verstört von meinen Erlebnissen als Journalistin in Kassel vor einer Woche, verfolgte ich dieses Wochenende erschüttert die vielen Livestreams aus Berlin. Bereits vergangenen Samstag musste ich fassungslos via Internet dabei zusehen, wie ein Journalistenfreund aus München in Berlin samt demenzkranker Mutter von der Polizei festgehalten wurde, weil er es gewagt hatte, zu filmen. Ähnliches wäre mir fast eine Woche vorher in Kassel passiert, da ich mit meiner filmjournalistischen Arbeit die Aufmerksamkeit einer Polizei-Eliteeinheit, dem Unterstützungskommando Bayern, auf mich gezogen hatte.
Nach sorgfältiger Überprüfung meiner Person mussten mir diese Herren dann zwar kleinlaut den Presseausweis zurückgeben, aber dennoch wunderte ich mich dann darüber, was eine bayrische Spezialeinheit in Kassel zu suchen hatte. Eine Woche später wurde aus dem Wundern Gewissheit. Filmjournalistisches Arbeiten oder Dokumentieren war auch in Berlin nicht erwünscht.
Und dann sah ich die Bilder von Sonntag, die solche Erlebnisse schnell in den Hintergrund stellten. Menschen wurden von Fahrrädern gerissen, Väter vor den Kindern abgeführt, Frauen brutal vom Platz getragen und Journalisten während der Livestreams von Polizisten geschubst.
Es herrschte Krieg zwischen der Polizei und den Demonstranten, die sich über das Demonstrationsverbot hinweggesetzt hatten und die Straßen von Berlin überfluteten.
Während in Kassel eine Woche zuvor noch 2.500 Polizisten einige hunderte Demonstranten durch die Straßen jagten, überrumpelten mehrere tausende Demonstranten 2.000 Polizisten in Berlin. Die Polizei hatte keine Chance, diese Menschenmassen in den Griff zu bekommen und hätte aus meiner Sicht ähnlich reagieren müssen, wie die Polizisten damals bei der Demonstration in Kassel am 20. März — deeskalierend. Stattdessen schlugen sie gewaltsam auf Menschen ein, die hilflos um sich schrien, und agierten aggressiv statt souverän.
Fazit: Jede Menge Verletzte auf beiden Seiten und ein Todesopfer. Das ist Deutschland im Sommer 2021 und ich frage mich: Was ist mit diesem Land passiert, dass es andersdenkende oder regierungsunbequeme Menschen nicht mehr aushält? Wieso wurden die Demonstrationen verboten? Wieso sind andere Meinungen als die der Regierung plötzlich nicht mehr erlaubt? Wie viele Opfer müssen noch gebracht werden im Einsatz für das Recht auf Freiheit und vor allem auch Meinungsfreiheit?
Friedrichsplatz als Gefängnis
Ich verzichte hier jetzt bewusst auf den Vergleich zur Christopher Street Day Parade in Berlin vor einer Woche, während die Demo in Kassel verboten wurde, denn ich habe mich für die tanzenden und singenden Freunde und Freundinnen in Berlin gefreut. Als Kulturschaffende verzichte ich jedoch nicht darauf, diese unerwünschten Demonstrationsverbote zu hinterfragen, denn das ist nicht nur mein Recht, sondern mittlerweile auch persönliche Pflicht, darauf hinzuweisen, dass vor einer Woche ein berühmter Platz der Documenta-Weltausstellung zum abgeriegelten und streng bewachten Gefängnis wurde, weil Andersdenkende oder meinetwegen auch Regierungskritiker in Kassel nicht erwünscht waren.
Der Friedrichsplatz im Gefängnis, während ein einzelner Security-Mann innerhalb des Gitterzaunes einsam wie ein Häftling an den Gittern entlangschreitet. In der Mitte steht verlassen eine einsame Bühne, an der eigentlich an dem Tag ein kostenloses Konzert stattfinden sollte. Im Hintergrund hält das Fridericianum dennoch majestätisch den Posten.
Dieses Gebäude hat einfach schon zu viel erlebt und gibt nicht auf. Angefangen von den Brüdern Grimm, die dort in der Bibliothek gearbeitet haben, bis hin zu der Verbrennung von über 2.000 Büchern aus der Fridericianum Bibliothek 1933 auf dem Friedrichsplatz, betrachte ich diese symbolträchtige Documenta-Installation oder ist es gar eine Skulptur und frage mich: Wo sind wir eigentlich hingekommen, dass aus Angst vor andersdenkenden Menschen solche Maßnahmen ergriffen werden?
Die Künstlerin in mir denkt sich, na, das ist in der Tat mal ein aussagekräftiges Documenta-Werk, die Journalistin fragt sich, wie Arnold Bode auf solche Bilder reagiert hätte. Hatte die documenta 1955 nicht damit begonnen, dass dort entartete Kunst gezeigt wurde, also jene Kunst, die während der NS-Zeit in Deutschland verboten war? Wie mag das documenta Kuratorium der documenta 15 vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 auf solche Bilder reagieren?
Ein kurzer Blick in die Website der bevorstehenden Documenta im nächsten Jahr liest sich zunächst vielversprechend:
„Gemeinsam werden diese lumbung member einen langfristigen Diskurs aufbauen, in dessen Verlauf das Wohlergehen ihrer jeweiligen lokalen Einrichtungen durch geteiltes Wissen, Solidarität und Ressourcen gesteigert wird. Diese ersten lumbung member werden über die nächsten zwei Jahre neue lumbung member einladen und mit ihnen ihre bewährten Vorgehensweisen teilen, sie werden diese Initiativen auf verschiedene Weise und durch unterschiedliche Ausdrucksformen zur documenta fifteen in Kassel und an anderen Orten sichtbar machen.“
Das steht auf der Website documenta-fifteen.de als Vision/Mission und erinnert an alternative Lebensgemeinschaften, die auch hier im Umkreis von Kassel zahlreich vertreten sind.
Großzügigkeit und Transparenz
Eine offizielle documenta Veranstaltungsreihe in der vierten Ausgabe von „lumbung calling“ am vergangenen 3. Juli 2021 widmete sich dem lumbung-Wert Großzügigkeit:
„In materieller sowie emotionaler Hinsicht ist Großzügigkeit, oder die Bereitschaft zu geben, unerlässlich für den Aufbau von Netzwerken. Sie wirkt als Mittel gegen Wettbewerb, Rivalität und Knappheit — kapitalistische Werte, die die Gegenwart bestimmen. In der lumbung-Praxis zeigt sich Großzügigkeit besonders als Ausweitung von Vorstellungsräumen durch Vernetzung und Zusammenarbeit. Da Wissen divers ist, kann es weder besessen noch beansprucht werden. Im Sinne von lumbung sind Zeit und Aufmerksamkeit unerschöpfliche Ressourcen, die großzügig geteilt werden, um stärker integrierte Ecosysteme zu schaffen.“
So lautet die Documenta-Pressemitteilung vom 24. Juni 2021, also 5 Tage nach der ersten Aktion der Stadt Kassel, Querdenkern, ich betitel sie lieber als Alternativdenkende, den Veranstaltungsort auf dem Friedrichsplatz zu verbieten, weil diese Menschen dort singen und tanzen wollten. Der Oberbürgermeister der Stadt Kassel, Christian Geselle, samt Stadtverwaltung und Behörden wollte damals verhindern, dass erneut über 20.000 Menschen singend und lachend durch die Straßen Kassels ziehen.
Fazit: 4.500 Polizisten riegelten die Stadt ab und bewachten den eingezäunten Friedrichsplatz, während circa 100 Demonstranten zum Buga-See auswichen, um dort spirituelle Lieder im Sitzkreis zu singen, natürlich auch dort unter strengster Bewachung der misstrauischen Polizei.
„Großzügigkeit“ also war das Thema Anfang Juli und die nächste offizielle documenta Veranstaltung am 7. August steht unter dem Motto „Transparenz“, alles Themen, bei dem mein Herz höher schlägt, aber in Anbetracht dieser aktuellen Doppelmoral eher fragwürdig im Raum stehen bleiben.
Liebes lumbung Team, sollten Sie diesen Text lesen, frage ich Sie ernsthaft: Diskutieren Sie nur über solch wichtigen Werte oder leben Sie die auch? Ich frage Sie, weil vergangenen Samstag knapp 100 impfkritische Menschen oder Gegner der Corona-Maßnahmen gewaltsam auf Befehl Ihres Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Geselle aus Kassel vertrieben und des Platzes verwiesen wurden, wohlgemerkt mit der Begründung, sie seien in Kassel nicht erwünscht, von der Polizei durch die Straßen gejagt, zum Teil für mehrere Stunden inhaftiert und gegen die zahlreiche Strafen wegen unerlaubter Demonstration verhängt wurden. Ich frage Sie:
Wie stehen Sie zu der Polizeigewalt gegen Andersdenkende? Ich frage Sie: Wie mögen ihre internationalen Künstler wie unser allseits beliebter Künstler Ai Weiwei wohl über Kassel oder Berlin denken, wenn sie die Bilder aus Berlin sehen, die gestern um die Welt gingen?
Ich frage Sie ernsthaft: Können Sie als künstlerische Leiter dieser doch zum Teil auch sehr politischen Weltkunstausstellung hinter solchen Maßnahmen stehen? Können Sie wirklich guten Gewissens mit so einem Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Oberbürgermeister der Stadt Kassel, Christian Geselle, zusammenarbeiten, der offensichtlich gegen Meinungsfreiheit ist?
Müssten Sie jetzt nicht eigentlich auch Angst um ihre internationalen Gäste in 2022 haben, die mit Sicherheit die Anzahl von 20.000 Menschen pro Tag überschreiten werden?
Nun, vermutlich werde ich hierzu nie Antworten erhalten, zu abhängig ist auch die lumbung Gruppe vom Kapital der Stadt Kassel, aber kritische Fragen an das persönliche Gewissen sind hoffentlich noch erlaubt.
In diesem Sinne möchte ich abschließend den Oberbürgermeister der Stadt Kassel, Christian Geselle, noch einmal im Rahmen einer Pressemitteilung vom 2. Juli zu Wort kommen lassen:
„Nach sorgfältiger Abwägung der Chancen und Risiken ist der Aufsichtsrat zu der Überzeugung gelangt, dass die Durchführung der documenta fifteen im Jahr 2022 auch unter möglicherweise fortdauernden Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wichtig ist, insbesondere in diesen nach wie vor unsicheren Zeiten. Gerade das kuratorische Konzept von ruangrupa bietet dabei Möglichkeiten, auf das jeweils aktuelle Geschehen zu reagieren und Gewohntes zu hinterfragen. Besucherinnen und Besucher aus Kassel und der Welt möchte ich wissen lassen, dass wir uns auf ihren Besuch freuen.“
„Hochgefährlich: Die Friedensaktivistin Gönna meditiert in Kassel für Freiheit, Liebe und Respekt“, Bild: Anika Neubauer
Diverse Fotos aus Berlin, Bilder: locke, Freie Presse Sauerland
Quellen und Anmerkungen:
Video-Download „Friedrichsplatz am 24. Juni 2021 — Im Interview mit Harry Busse“
Video Download „Polizeigewalt in Berlin am 1. August 2021, von Mitteldeutschland TV freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
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