Da steht sie plötzlich an meiner Tür, ich erkenne sie kaum wieder. Wie sie aussieht! Total verwahrlost, denke ich. Und dann auch noch kurz vor der Ausgangssperre. „Komm rein“, sag ich, „du bleibst doch hoffentlich über Nacht? Doch, das geht. Wir sind hier nur zu zweit, eine weitere, haushaltsfremde Person, das ist erlaubt. Ich mach uns erst mal einen Tee, Tee hilft immer. Setz dich, wärm dich, ruh dich aus. Hast du Hunger? Nein? Du siehst aber so aus, wie ein einziger Hungerhaken.“
Sie spricht nicht, das tut sie eh selten, aber heute … , sie macht mir wirklich Sorgen. Ihre Kleidung, wenn man das so nennen kann, dürftig, würde ich sagen, und geschmacklos. Grellbunt, neonfarbenes Plasikzeug, Schuhe, na ja, Latschen eher, die bei jedem Schritt irgendwie blinken, sind wohl Batterien drin.
„Haben sie dich gechipt? Oder geimpft? Was hast du mit deiner Haut gemacht? Diese Frisur, und du stinkst nach billigem Parfum, … so kenne ich dich gar nicht.“
Ihre schönen Lachfältchen um die Augen, und ja, zugegeben, die letzte Zeit auch sehr viele Sorgenfalten irgendwie, alle weg. Botox, denke ich, obwohl das nicht sein kann. Maskenhaft sieht sie aus im Gesicht. Aber ihre Augen, die sind wie immer. Funkelnd, strahlend, wie Abertausend Sterne am klaren Nachthimmel in einer schönen Sommernacht. Und doch ist da noch etwas, eine Art, fast hätte ich gesagt „heiliger Zorn“ oder eher eine wilde Entschlossenheit.
Es muß ihr alles doch recht zugesetzt haben, was man ihr angetan hat über die Jahre. Überall, aus allen Lebensbereichen, ist sie rausgeflogen. Zuerst betrogen, dann irgendwie geschändet, in ihrem Namen wurde jede Menge Schindluder getrieben, und zum Schluss immer dasselbe: Raus hier! Dabei würde sie so dringend überall gebraucht. Wo das hinführt, sieht man ja.
Ganz früher einmal, da waren alle diese Lebensbereiche Teil ihrer geistigen Heimat, könnte man sagen, bis sie zuletzt nur noch in dieser süßlichen Hollywood- und Unterhaltungsbranche tätig war. Jetzt verstehe ich auch ihren affigen Aufzug, daher also dieser ganze Kitsch. Als ich sie zuletzt sah, erzählte sie, sie werde überall, wo sie rausgeflogen war, durch eine andere ersetzt. Immer die gleiche Sorte. „Die Lüge“, sagte sie damals nur, „die Lüge!“ „Klingt ja auch ähnlich“, meinte ich dann viel zu zynisch. Doch sie lachte nicht, sie nickte nur. Sie hat recht, denke ich jetzt. Es klingt so sehr ähnlich, dass die meisten darauf hereingefallen sind, und sie tun es immer noch, kapieren es immer noch nicht! Unfassbar.
„Wieder einen Tritt bekommen?“, frag ich. Sie nickt. „Hast du wenigstens in der Privatsphäre, wenn ich das so nennen darf, noch Freunde? Nein? Selten? Aha.“
Sie hält ihre Tasse und wärmt sich ihre ausgemerkelten Hände.
„Es sind ja auch gerade schlechte Zeiten“, sag ich. „Die Menschheit ist irgendwie hypnotisiert, es scheint eine Art Massenpsychose zu sein. Die Menschen spinnen komplett! Die meisten sind entweder in Kurzarbeit oder in einem heimlichen Konkurs oder sowieso schon ganz unten angekommen. Trotzdem wachen sie nicht auf, kaum zu glauben. Der Rest versucht noch, seinen Arsch zu retten mit Unterwerfungsstrategien, die sie sich schön reden“, rede ich mich in Rage. Und ich erzähle, wie es mir ergangen ist, was überall los ist, was ich denke, was auf uns noch zukommen wird. Ich rede und rede, bis mir irgendwie schlecht wird.
Ich schaue in ihre Sternenaugen, und plötzlich ist alles weg — der ganze Dreck, die ganze Verzweiflung, das Entsetzen, die ganze Wut, die innere Kälte und Leere, alles weg.
„Himmel noch mal, wie schön, dass du da bist, wie hab ich dich vermisst, ich kann's dir gar nicht sagen!“ Und ich springe auf und werfe mich in ihre ausgestreckten Arme, schmiege mich an sie und weine hemmungslos, den ganzen Schmerz heule ich raus, und dann kommen Tränen der Rührung. Sie tröstet mich, wie immer, sie wärmt mich, Leben durchströmt mich, Hoffnung, neue Kraft.
„Du fehlst! Du fehlst überall! Du bist die einzige, die jetzt noch den Karren aus dem Dreck ziehen, das Ruder rumwerfen, endlich, endlich den richtigen Kurs anlegen und halten kann trotz aller Stürme und Gewalten!“ Ich schaue ihr in die Augen und frage sie stumm, ob sie wohl meint, dass es endlich so weit ist, dass die Menschen begreifen, dass sie endlich diese Lügen durchschauen und die Wahrheit entdecken, die Wahrheit, wer sie wirklich ist und wie groß und mächtig sie wirklich ist, meine Freundin hier. Werden sie jetzt endlich ihre Türen für sie öffnen, ihre Augen, ihre Ohren und ihre Herzen? Wenn nicht jetzt, wann dann?
„Ich bin doch da!“, sagt sie plötzlich, mit ihrer tiefen und weichen Stimme, alt, uralt irgendwie und doch ewig jung. „Sie brauchen mich doch einfach nur einzuladen. Es wird noch ein wenig dauern, noch ist es vielleicht nicht dunkel genug da draußen. Doch dann kommt die Zeit, wo sie sich vielleicht an mich erinnern. Auch wenn das Zeitfenster nur klein ist, um zu begreifen. Ich bin doch da.“
Bis in die frühen Morgenstunden schmiege ich mich in ihre Arme, rede nicht mehr, denke nicht mehr, fühle nur noch und trinke in ihren Augen. Als ich erwache, ist sie wieder fort, doch ihre Tasse steht da noch, ich habe also nicht nur geträumt. Ich erinnere mich vage an etwas, was sie mir wohl gesagt hat, als ich eingeschlafen war: „Du schreibst doch. Schreibe den Menschen von mir. Schreibe ihnen, dass sie mich einladen dürfen. Schreibe ihnen, wer ich wirklich bin, wie ich wirklich bin. Und sie sollen es weitererzählen. Die Menschen haben das vergessen, sie haben nur noch an all die Lügen geglaubt, die hohlen, leeren, bösen Lügen. Schreibe ihnen von mir, schreibe ihnen von der Liebe.“
Das will ich tun, denke ich, doch wie soll ich es machen? Wie finde ich die richtigen Worte, damit sie mir glauben, damit sie ihr glauben? Und ich erinnere mich an die Hochzeit zweier Freunde vor langer, langer Zeit. Das Paar schenkte jedem Gast ein Gedicht (1). Da steht es doch, denke ich, und suche in meiner „wichtigen Schachtel“ und finde es. Das will ich den Menschen geben, nehme ich mir vor. Ja, Liebe, ich schreibe und gebe ihnen dieses Gedicht, sie werden verstehen, ganz bestimmt. Sie werden dich einladen, zu sich nach Hause in ihre Familien, in ihre Firmen und Betriebe, in jeden Wirtschaftsbereich, in die Landwirtschaft natürlich auch, in die Politik, in ihre Gruppen, vielleicht sogar endlich, ich wage es kaum zu denken, auch in ihre Kirchen. Und in die Medienhäuser, ganz bestimmt! Ach, überall, sie brauchen dich überall, sage ich noch in Gedanken versunken, als wäre sie noch da. Doch, sie ist irgendwie noch da. Ich spüre ihre Wärme noch.
Liebe Menschen, ich hatte Besuch und soll euch von der Liebe eine Botschaft geben: Ich soll euch sagen, sie ist da, lasst sie herein und lasst sie helfen.
Und hier, dieses Gedicht (2), das zeigt euch einen Weg, das hilft euch bestimmt, zu verstehen, wie ihr es machen könnt:
„Ich möchte Dich lieben, ohne Dich einzuengen,
Dich wertschätzen, ohne Dich zu beurteilen,
Dich ernst nehmen, ohne Dich auf etwas festzulegen,
zu Dir kommen, ohne mich Dir aufzudrängen,
Dich einladen, ohne Forderungen an Dich zu stellen,
Dir etwas schenken, ohne Erwartungen daran zu knüpfen,
mich von Dir verabschieden, ohne Wesentliches versäumt zu haben,
Dir meine Gefühle mitteilen,
ohne Dich dafür verantwortlich zu machen,
Dich informieren, ohne Dich zu belehren,
Dir helfen,ohne dich zu beleidigen,
mich um Dich kümmern, ohne Dich verändern zu wollen,
mich an Dir freuen — so wie Du bist!“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das Gedicht steht handschriftlich auf einer schönen Karte. Die bekam ich auf der Hochzeit zweier besonderer und lieber Menschen. Doch einer starb vor einigen Jahren. Ihm will ich sagen: Ich denke an dich und danke dir, lieber Freund!
(2) Der Verfasser ist mir nicht bekannt.
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