Demokratie und Freiheit. Zwei Wörter, die mit unerhörten gesellschaftlichen Versprechen aufgeladen sind und gewaltige Veränderungsenergien zu deren Einlösung freisetzen können. Kaum mehr als ein Schatten ist heute von den mit ihnen ursprünglich verbundenen Hoffnungen geblieben. Was ist passiert? Wohl nie zuvor sind zwei Wörter, an die so leidenschaftliche Hoffnungen geknüpft sind, in gesellschaftlich so folgenschwerer Weise ihrer ursprünglichen Bedeutung entleert, verfälscht, missbraucht und gegen diejenigen gewandt worden, deren Denken und Handeln sie beseelen.
Demokratie bedeutet heute in Wirklichkeit eine Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten, bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind; damit liegen zugleich weite Teile der gesellschaftlichen Organisation unseres eigenen Lebens außerhalb der demokratischen Sphäre. Und Freiheit bedeutet heute vor allem die Freiheit der ökonomisch Mächtigen.
Mit dieser orwellschen Umdeutung kommt diesen beiden Wörtern nun ein besonderer Platz im endlosen Falschwörterbuch der Geschichte zu. Mit zwei Wortvergiftungen werden unsere zivilisatorischen Hoffnungen auf eine menschenwürdigere Gesellschaft und auf eine Einhegung von Gewaltverhältnissen verwirrt, getrübt, zersetzt und nahezu aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Durch den Verlust der mit diesen beiden Begriffen verbundenen zivilisatorischen Träume fällt es uns heute schwer, eine attraktive menschenwürdige Alternative zu den herrschenden Machtverhältnissen politisch zu artikulieren, oder schlimmer noch, überhaupt zu denken. […]
Von der Demokratie, die ursprünglich mit großen Hoffnungen auf eine politische Selbstbestimmung und auf eine Sicherung des inneren und äußeren Friedens verbunden war, ist in der realen Gestaltung der Gesellschaft nur eine formale Hülse übrig geblieben. Demokratie ist auf ein inszeniertes Spektakel periodischer Wahlen reduziert worden, bei denen die Bevölkerung aus einem ihr vorgegebenen „Elitespektrum“ wählen kann. Wirkliche Demokratie ist ersetzt worden durch die Illusion von Demokratie, die freie öffentliche Debatte ist ersetzt worden durch Meinungs- und Empörungsmanagement, das Leitideal des mündigen Bürgers ist ersetzt worden durch das neoliberale Leitideal des politisch apathischen Konsumenten.
Von den mit den Begriffen Demokratie und Freiheit verbundenen Hoffnungen sind nur die leeren Worthülsen eines falschen Versprechens von den Mächtigen beibehalten worden; mit ihnen lässt sich nämlich das Bewusstsein der Mehrheit der Machtunterworfenen wirksam manipulieren.
Auch das Völkerrecht hat sich heute in großen Teilen zu einem Instrument unverhohlener Machtpolitik entwickelt. Die selbstdeklarierte westliche Wertegemeinschaft pflegt wieder offen ihren geradezu religiösen Glauben an die Wirksamkeit von Gewalt, an die Heilsamkeit von Bomben und Zerstörung, von Drohnenmorden und Folter, von Unterstützung terroristischer Gruppen, von wirtschaftlichen Strangulierungen und anderen Formen von Gewalt, die ihren Zwecken dienlich ist - eine politische Fetischisierung von Gewalt, deren Auswirkungen über den gesamten Globus zu besichtigen sind.
Kaum mehr als eine geschichtliche Erinnerung ist von den großen Hoffnungen übrig geblieben, die ursprünglich mit Demokratie und Völkerrecht verbunden waren, nämlich Hoffnungen auf eine zivilisatorische Einhegung von Macht- und Gewaltbeziehungen. Umso kraftvoller wird jedoch die Bevölkerung in der politischen Rhetorik mit einer Demokratie- und Völkerrechtsrhetorik überzogen, mit der die ökonomisch oder militärisch Starken die Zustimmung oder Duldung der Bevölkerung für ihre tatsächliche Praxis einer Realpolitik der Gewalt zu gewinnen suchen. In der Realpolitik hat sich heute längst wieder das Recht des Stärkeren Anerkennung verschafft.
Zweihundert Jahre nach der Aufklärung, auf die wir uns in der politischen Rhetorik so viel zugute halten, leben wir in einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung. Zugleich verweisen die Mächtigen gerne, wenn es ihren Machtinteressen dient, auf die Aufklärung, um damit gegenüber denjenigen, die sie als ihre Feinde ansehen, ihre behauptete zivilisatorische Überlegenheit zu bekräftigen. […]
Eine Elitendemokratie stellt einen Widerspruch in sich dar. In einer Elitendemokratie gibt es zwar formale demokratische Elemente, doch sind sie strukturell auf ein Minimum reduziert. Trotz dieses demokratischen Minimalismus sind aus Sicht der tatsächlichen ökonomischen und politischen Zentren der Macht die demokratischen Elemente zwangsläufig nicht im gewünschten Maße risikofrei.
Um den Status der jeweiligen Machteliten zu sichern, sind diese darauf angewiesen, sich gegen demokratische Ansprüche abzusichern.
Die Schwachstelle ist nun gerade der öffentliche Debattenraum, der – vor allem in den periodischen Wahlen – als Stabilitätsrisiko wirksam werden könnte. Wie lässt sich dieses auch in einer Elitendemokratie demokratische Risiko kontrollieren und möglichst gering halten? Wenn die verbliebenen demokratischen Residualelemente auch noch beseitigt würden, wäre es nicht mehr möglich, die zur Revolutionsvermeidung nützliche demokratische Rhetorik aufrechtzuerhalten; denn der öffentliche Debattenraum und periodische Wahlen sind selbst für die bloße Illusion einer Demokratie unverzichtbar. Wenn die tatsächlichen Zentren der Macht sie also beibehalten wollen, benötigen sie geeignete Wege einer Stabilitätssicherung, durch die sich Demokratie für sie risikofrei gestalten lässt.
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Machtausübenden großen Aufwand betrieben, neue Wege einer solchen Stabilitätssicherung zu entwickeln, um die in einer Elitendemokratie verbliebenen demokratischen Residualelemente vor den Risiken demokratischer Ermächtigungen zu schützen.
Hierzu gehören insbesondere neuartige strukturelle Formen der Organisation von Macht sowie psychologische Methoden der Bewusstseinsmanipulation. Die Wurzeln dieser Entwicklungen reichen freilich sehr viel weiter zurück, doch haben sich diese Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten rapide beschleunigt und institutionell verfestigt. Der mit ihnen verbundene systematisch geplant und betriebene gesellschaftliche Transformationsprozess gleicht in seinen an die Wurzeln gesellschaftlicher Organisation gehenden Auswirkungen einer “Revolution von oben“, also einer Revolution, die ein Projekt ökonomischer Eliten darstellt und der Ausweitung und Verfestigung ihrer Interessen dient. Der mit dieser Revolution einhergehende Transformationsprozess ruht wesentlich auf zwei Säulen.
Die erste Säule dieses Transformationsprozesses besteht darin, dass die Organisationsformen von Macht immer abstrakter und mit gezielter Diffusion gesellschaftlicher Verantwortlichkeit gestaltet werden, so dass Unbehagen, Empörung oder Wut der Machtunterworfenen keine konkreten, also politisch wirksamen Ziele mehr finden und ein Veränderungswille der Bevölkerung keine Adressaten mehr unter den tatsächlichen Entscheidungsträgern hat.
Dieser Transformationsprozess besteht in einer schleichenden und für die Bevölkerung möglichst unsichtbaren Schaffung geeigneter institutioneller und konstitutioneller Strukturen, durch die sich Machtverhältnisse stabilisieren und Umverteilungsprozesse dauerhaft einem demokratischen Zugriff entziehen lassen und damit weitgehend irreversibel machen lassen. Dazu müssen die historisch mühsam gewonnenen demokratischen Strukturen beseitigt oder so ausgehöhlt werden, dass sie in ihrer Wirksamkeit neutralisiert sind.
Zudem muss die innerstaatliche und die zwischenstaatliche Rechtsentwicklung so ‚weiterentwickelt‘ werden, dass die Zentren ökonomischer und politischer Macht ihre Interessen in dem so geschaffenen Rechtsrahmen legal in autoritärer Weise durchsetzen können. Ein solcher Rechtsrahmen muss insbesondere so beschaffen sein, dass er eine Umwandlung ökonomischer Macht in politische Macht ermöglicht und dass er den angestrebten oder bereits etablierten Umverteilungsmechanismen einen rechtlichen Rahmen gibt, der unter den verbliebenen minimalen Möglichkeiten demokratisch nicht mehr aufgehoben werden kann.
Die organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse wird durch eine solche Verrechtlichung nicht nur legalisiert, sondern auch zeitlich verfestigt und gegen mögliche demokratische Eingriffe abgedichtet.
Die zweite Säule besteht in der Entwicklung ausgefeilter und höchst wirksamer Techniken, durch die sich das Bewusstsein der Machtunterworfenen in geeigneter Weise manipulieren lässt. Die Machtunterworfenen sollen nicht einmal wissen, dass es - hinter der an der medial vermittelten politischen Oberfläche scheinbar demokratisch kontrollierter Macht - überhaupt Zentren der Macht gibt. Das wichtigste Ziel ist, einen gesellschaftlichen Veränderungswillen der Bevölkerung zu neutralisieren oder auf politisch belanglose Ziele abzulenken.
Um dies in einer möglichst robusten und beständigen Weise zu erreichen, zielen Manipulationstechniken auf weit mehr als nur auf politische Meinungen. Sie zielen auf eine gezielte Formung aller Aspekte, die unser politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben betreffen sowie auch unsere individuellen Lebensformen. Sie zielen gewissermaßen auf die Schaffung eines “neuen Menschen“, dessen gesellschaftliches Leben in der Rolle des politisch apathischen Konsumenten aufgeht.
In diesem Sinne sind sie totalitär, so dass der große Demokratietheoretiker Sheldon Wolin zu Recht von einem „invertierten Totalitarismus“ spricht, einer neuen Form des Totalitarismus, der von der Bevölkerung nicht als Totalitarismus empfunden wird. Die Techniken hierzu wurden und werden seit etwa hundert Jahren mit großem Aufwand und unter wesentlicher Beteiligung der Sozialwissenschaften entwickelt, deren gesellschaftliche Blüte eng mit einer Bereitstellung von Methoden sozialer Kontrolle verbunden ist.
Ein zentrales Element dieser Techniken zur Manipulation des Bewusstseins der Bevölkerung ist die Schaffung geeigneter Ideologien, die für die Bevölkerung als Ideologien weitgehend unsichtbar sind und damit einen kaum noch hinterfragbaren Rahmen bereitstellen sollen, der allen gesellschaftlichen Erfahrungen der Einzelnen ihren Sinnzusammenhang gibt.
Den Kern dieser Ideologien, die in den vergangenen Jahrzehnten in der neoliberalen Ideologie kulminierten, bildet die Ideologie einer expertokratischen “kapitalistischen Elitedemokratie“, in der kompetente und dem Gemeinwohl verpflichtete Eliten die Geschicke der Gemeinschaft in möglichst effizienter Weise lenken sollen.
Beide Entwicklungen dienen dazu, Macht unidentifizierbar und damit gleichsam unsichtbar zu machen, um unsere natürlichen psychischen Abwehrmechanismen gegen eine Fremdbestimmung zu unterlaufen. Beide sind kennzeichnend für die modernen Formen der gegenwärtigen kapitalistischen Elitendemokratien.
Wir können nur dann erfolgversprechende Strategien eines Widerstandes gegen die gegenwärtige Macht- und Gewaltordnung entwickeln, wenn wir diese neuartigen Organisationsformen der Macht hinreichend verstehen. Gleiches gilt für die Manipulationstechniken, durch die sich gezielt Eigenschaften unseres Geistes für politische Zwecke ausnutzen lassen.
KenFM im Gespräch mit: Prof. Rainer Mausfeld ("Warum schweigen die Lämmer?")
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