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Die Russen und ich

Die Russen und ich

Ein typischer Wessi erzählt, wie Klischeevorstellungen aus der alten Bundesrepublik unser Russlandbild bis heute prägen. Teil 2/2

Mit Alexander Solschenizyn und David Oistrach war das Image Russlands in meiner Jugend komplett: Es war ein dunkles Land, in dem schlimme Dinge passierten. Russen waren aber auch seelenvoll und immer etwas melancholisch. Beide Aspekte schienen nicht so recht zusammenzupassen, es sei denn, man deutete die Melancholie als Reaktion auf das Leid und die Armut, die das russische Volk immer wieder hatte erfahren müssen.

Für mich entwickelte sich, seit ich als älterer Teenager Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ las, eine besondere Vorliebe für klassische russische Literatur. Sie erlangte große Bedeutung für mich am Gymnasium und im Studium, gipfelnd in meiner Magisterarbeit, in der ich unter anderem die Darstellung russischer Bauern in den Romanen Tolstois behandelte. Russische Bücher erschienen mir tiefer und grüblerischer als vergleichbare Werke anderer Literaturen. Sie arbeiteten sich an zentralen ethischen und religiösen Fragen wie Schuld, Glaube, Liebe und Krieg ab, zeigten glutvolle Charaktere, oft am Rande des Nervenzusammenbruchs, in tosende Schicksalsstürme geworfen. Setzt man berühmte Ehebrecherinnen der Literatur wie Effi Briest oder Madame Bovary neben Anna Karenina, wirken die Vertreterinnen „des Westens“ blass.

Unberührt von derart erhabenen Kultureindrücken, entfaltete sich im Westdeutschland der Nachkriegszeit eine reichhaltige und teilweise skurrile Populärkultur rund um Russland. 1963, in meinem Geburtsjahr, lief „James Bond: Liebesgrüße aus Moskau“ in den deutschen Kinos. Darin verfiel die schöne russische Agentin Tatiana Romanowa dem virilen britischen Helden.

James Bond: Liebesgrüße aus Moskau, Trailer

Der Film „Doktor Schiwago“ nach einem Roman von Boris Pasternak erschien 1965 und diente klar der Delegitimierung des Sowjetregimes, das als Feind der Poesie und der Liebe, ja jeder gesunden Regung der Menschlichkeit dargestellt wurde. 1986 besiegte Rocky alias Sylvester Stallone im Kino den tumben sowjetischen Riesen Drago im „Kampf des Jahrhunderts“. Drago wurde als Maschinenmensch dargestellt, ein emotionsloser Killer, zum Supersportler aufgeblasen durch Hightech-Trainingsmethoden. Der Film spiegelte die Angst des Westens vor der vermeintlichen Übermacht des Ostens wider, jedoch auch die realistische Chance, dieser Gefahr mittels altmodischer Kämpfertugenden und Mentaltrainingsphrasen Herr zu werden.

Rocky IV — Der Kampf des Jahrhunderts, Trailer

„From Russia with love“

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit standen Romanzen zwischen Männern aus NATO-Ländern und schönen russischen Frauen hoch im Kurs — in der Fantasie westlicher Kulturschaffender natürlich. Von dem allgemeinen Misstrauen gegenüber „den Russen“ waren Russinnen — ein gutes Aussehen vorausgesetzt — ausgenommen.

Der böse Russe, die schöne Russin und der westliche Mann bildeten miteinander die Dreieckskonstellation „Täter — Opfer — Retter“. Kaum wurde eine russische Frau eines Mannes aus den USA oder Großbritannien ansichtig, verfiel sie ihm unweigerlich — nach einer nur kurzen Phase ideologisch bedingter Sprödigkeit.

Wichtig war dabei, dass stets westliche Schauspielerinnen die schöne Russin gaben. Populäre wirklich aus Russland stammende Darsteller in deutschen Filmen gab es nicht. Unvergessen bleiben etwa Julie Christie („Doktor Schiwago“), Audrey Hepburn („Krieg und Frieden“) oder Michelle Pfeiffer („Das Russlandhaus“). In der deutschen ScienceFiction-Serie „Raumpatrouille“ gab Eva Pflug die kühl-dominante Offizierin Leutnant Tamara Jagellovsk. Auch sie lag bald gezähmt in den Armen eines US-amerikanischen Helden (Dietmar Schönherr).

Ost-West-Lieben erschienen reizvoll, weil man um sie herum Romeo-und-Julia-Geschichten konstruieren konnte. Zugleich mit dem gebotenen Herzschmerz konnten die Drehbücher dabei die kommunistische Ideologie als ultimatives Liebeshindernis inszenieren. Meist endeten die Affären tragisch, stützten aber gerade durch ihren frustrierenden Verlauf das Narrativ von der Überlegenheit des westlichen Systems. Dieses Schema fand auch Eingang in populäres Liedgut, man denke nur an Gilbert Bécauds „Nathalie“, eine fiktive Romanze des Sängers mit einer russischen Reiseführerin in Moskau. Udo Jürgens variierte die Geschichte 1981 in seinem Schlager „Ich sah nur sie“. Darin heißt es: „Sie sagte: Was weißt du von meiner Stadt. Du hast dein Hotel und den Roten Platz gesehen; dass man Metro fährt, dass man Wodka trinkt; das reicht doch nicht aus, um die Menschen zu verstehen.“ Eigentlich sprach die schöne Russin also recht vernünftig, daran hätte sich ein echter kultureller Austausch anschließen können. Der Sänger jedoch würgte jeden Ansatz einer Verständigung mit dem Hinweis auf das einzige ab, was ihn an dieser Frau wirklich interessierte: ihre körperlichen Vorzüge: „Ich nahm das, was sie sagte, kaum noch wahr, denn das Morgenrot fiel zärtlich auf ihr Haar.“

Udo Jürgens: Ich sah nur sie

Dieses Russlandbild war jedoch noch freundlich im Vergleich dazu, was der österreichische Showstar Peter Alexander fabrizierte, der 1969 gar eine komplette Schallplatte mit Liedern über Russland veröffentlichte. Sein einzigartiger Videoclip „In Nischni Nowgorod“ setzte den Kalten Krieg fort, indem er den gegnerischen „Menschenschlag“ lächerlich machte. Mit diesem Lied versuchte sich der Kalte Krieg lustig zu geben. Peter Alexander erzählt von einem Multikulti-Treffen in einer Spelunke. Seine Trinkgefährten sind „Jim Baker, der alte Halunke, und Tschang, der schlaue Japs.“ Alle Nationalitäten werden von ihm gestisch und mimisch auf klischeehafte Weise parodiert. Dann aber der Höhepunkt: „Iwan, der russische Lümmel, der legte mächtig los.“ Alexanders Körpersprache entgleitet sogleich ins Unflätige, die Stiefel landen auf dem Tisch, und ein „russischer Akzent“ bemächtigt sich seiner Aussprache. „In Nischni Nowgorod, in Nischni Nowgorod, da gibt’s kein Kussverbot und keine Hungersnot. Und es wird Morgenrot, und es wird Abendrot, und alle schlafen dann wie tot.“ Einige Statisten, deren Kleidung sie offenbar als „russisch“ ausweisen sollte, kippen dabei mit roboterhaften Bewegungen ein Getränk in sich hinein — gemeint war wahrscheinlich Wodka.

Peter Alexander: In Nischni-Nowgorod

Die Konstruktion des „typisch Russischen“

Diese merkwürdigen Kulturerzeugnisse sind insofern für unser Thema relevant, als sie die Atmosphäre mitgestalteten, in der Nachkriegsdeutsche in den 60ern und 70ern aufwuchsen. Es gab ja keine authentische russische Kultur, an der sich der westdeutsche Fernsehzuschauer hätte orientieren könnte. Das Fernsehen rekrutierte aus jedem Land einen „typischen“ Künstler oder eine Künstlerin, die als exotische Beigabe in den Shows Peter Alexanders oder Wim Thoelkes ihre heimische Kultur repräsentieren mussten. Für Frankreich stand Mireille Mathieu, für Griechenland Nana Mouskouri, für die Tschechoslowakei trällerte Karel Gott, Dänemark wurde durch Gitte Haenning vertreten, und sogar einen Vorzeigeschwarzen kannte der westdeutsche Unterhaltungszirkus: Roberto Blanco. Dies signalisierte nach den Rassismus-Exzessen Nazideutschlands Toleranz, eine Öffnung zur Welt hin. Aber die Tür öffnete sich auch nicht zu weit, denn alle Genannten mussten ihre Lieder auf Deutsch singen.

Auch Russland wurde durch einen speziellen Künstler vertreten: Ivan Rebroff. Das Besondere an seinem „Fall“ war jedoch: Rebroff war gar kein Russe. Er hieß Hans Rolf Rippert und war Berliner, vermochte dieses Manko jedoch durch einen Patriarchenbart, russische Folklore-Bekleidung sowie eine hoch aufragende Fellmütze auszugleichen. Ivans Paraderolle war der „typische Russe“, er sang das ganze Repertoire russischer Klassiker, „Kalinka“, „Katjuscha“, „Abendglöckchen“. Er sang es sehr gut, beherrschte die russische Sprache und kokettierte mit angeblichen russischen Vorfahren — ein Umstand, der bis heute offenbar nicht vollständig geklärt ist. Seine Liebe zu der Kultur, die er publikumswirksam vertrat, dürfte echt gewesen sein. Ivan Rebroff also repräsentierte mitten im Kalten Krieg für das westdeutsche Showpublikum das „bessere Russland“. Man wollte ja nicht intolerant wirken.

Ivan Rebroff: Kalinka

„Ein Mensch genau wie ich und du“

Anerkennenswert war der Versuch des Liedermachers Stefan Sulke, „dem Russen“ ein menschliches Antlitz zu verleihen. Sein Lied „Der Mann aus Russland“ entstand 1977, also noch mitten im Kalten Krieg und viele Jahre früher als vergleichbare englischsprachige Titel wie „Russians“ von Sting oder „Leningrad“ von Billy Joel. Sulke beschreibt dabei seine Begegnung mit einem Russen auf einer „öden Cocktailparty“. Sein Gegenüber ist — wieder ein Klischee — „schon beim zwölften Wodkaglas“. Und es ist nicht einmal sicher, ob der Mann überhaupt im heutigen russischen Staatsgebiet ansässig war, denn: „Von den Städten schwärmte er, von Kiew und Minsk, vom Schwarzen Meer, und dass er Heimweh hatte, weiß ich ganz genau.“ Vor allem aber zeichnete den Mann aus Russland eines aus: Er „war ein Mensch genau wie ich und du“. Denn er „konnte weinen, traurig sein und glücklich scheinen“. Das Lied war nett gemeint und warf dennoch ein Licht auf die damals herrschende russophobe Stimmung.

Einem US-Amerikaner zu bescheinigen, er sei „ein Mensch genau wie ich und du“, wäre dem westdeutschen Publikum der 70er-Jahre überflüssig vorgekommen. Das war doch selbstverständlich. Bei einem Russen dagegen musste dies eigens erwähnt werden, quasi in friedensstiftender, volkspädagogischer Absicht.

tefan Sulke: Der Mann aus Russland

Später dann, Ende der 70er, sank das Niveau noch einmal ab, es wurde klamaukiger, und man versuchte gar nicht mehr, den Eindruck zu erwecken, etwas anderes als das pure Klischee zu produzieren. An Boney M.s „Rasputin“, das Disco-Lied über „Russias greatest lovemachine“, schloss sich als vorläufiger Tiefpunkt die Gruppe Dschingis Khan mit ihrem Lied „Moskau“ an. Da erschien „der Russe“ als trunk- und vergnügungssüchtiger Barbar. Die Gruppe vermochte den russischen Volkscharakter nur noch durch das Ausstoßen von Urlauten zu charakterisieren: „Kosaken, hey, hey, hey, hebt die Gläser. Natascha, ha, ha, ha, du bist schön. Towarisch, hey, hey, hey, auf das Leben. Auf dein Wohl, Bruder, hey, Bruder, ho!“ Oder — besonders respektvoll gegenüber Frauen: „Liebe schmeckt wie Kaviar. Mädchen sind zum Küssen da — ha, ha, ha, ha, ha, hey.“ Wer Russland auf diese Weise kennengelernt hatte, mochte wohl befürchten, bei einer Moskau-Reise von den Eingeborenen mit „Auf dein Wohl, Bruder, hey, Bruder, ho!“ zu einer Überdosis Wodka genötigt zu werden.

Dschingis Khan: Moskau

„Gorbi“-Rufe und ein paar Brocken Russisch

Kein „echter“ russischer Unterhaltungskünstler wurde je in Westdeutschland populär. Ausnahme — ein bisschen — Ala Pugatschowa, die 1987 mit Udo Lindenberg im Duett dessen Lied „Wozu sind Kriege da?“ anstimmte. Diese Kooperation war an und für sich eine gute Idee — speziell im Zusammenhang mit einem Friedenslied. Das war aber schon in der Ära Gorbatschow, der 1985 in Russland das Ruder übernommen hatte. Für kurze Zeit schlug die Russophobie der Nachkriegsjahrzehnte in eine fast hysterische Gorbatschow-Verehrung um, gipfelnd in den „Gorbi“-Rufen der Bevölkerung auf dem Bonner Rathausplatz im Juni 1989, also kurz vor der Maueröffnung. Die Euphorie war verständlich. Schließlich hatte kaum jemals ein Politiker so viel für die Bevölkerung eines anderen Landes getan, wie es Gorbatschow mit der Ermöglichung der Wiedervereinigung für Deutschland tat.

Udo Lindenberg, Alla Pugatschowa: Wozu sind Kriege da?

Die Interessen seines eigenen Landes standen ganz offenbar dahinter zurück, was unter anderem der junge Wladimir Putin so empfand — in der Wendezeit KGB-Offizier in Dresden. Man kann es auch so sagen:

Es musste schon ein Russe kommen, der den Deutschen ein wirklich außergewöhnliches Geschenk machte, bevor Deutschland Russland seinen Angriffskrieg auf das östliche Land wenigstens teilweise verzieh.

Dennoch blieb das Verhältnis der Deutschen zu Russland verklemmt, fremdelten Westdeutsche noch lange mit dem plötzlich neu gewonnenen „Freund“. Bis sie ab 2014 — mediengetrieben — wieder zum großen Teil zu jenen Emotionen zurückkehrten, die für sie im Verhältnis zu Russland offenbar die natürlichen waren: Abneigung und Misstrauen.

Tatsächlich hatte ich mich bald nach dem Beginn von „Gorbis“ Amtszeit von der damals wieder russlandfreundlichen Stimmung anstecken lassen und schrieb mich für ein Semester Russisch an der Volkshochschule ein. Immerhin konnte ich damals das kyrillische Alphabet, mehrere Vokabeln und Redewendungen und hatte vermutlich eine passable Aussprache des Russischen. Wir Kursteilnehmer konnten damals das Volkslied „Stenka Razin“ teilweise auswendig singen. Unsere Lehrerin war sehr nett und trug — ganz passend zur damaligen politischen Ära — den Vornamen Raissa. Ich hatte Reisen nach Russland und eine vertiefte Auseinandersetzung mit Sprache und Land geplant. Wegen anders gewählter Prioritäten in meinem damals beginnenden Universitätsstudium wurde dann nichts daraus. Vielleicht schien mir der Weg doch zu weit — geografisch und emotional —, selbst wenn ich, Gorbi sei Dank, damals im Fall einer Einreise nicht mehr unmittelbar mit einer Verhaftung durch den KGB rechnete.

Russland in Ost und West

Ich habe bewusst nicht versucht, meine eigene Rolle als „typischer“ westdeutsch sozialisierter Mensch hier zu idealisieren. Einiges habe ich vielleicht Dank Tolstoi, Oistrach und Raissa von diesem unerschöpflichen Land verstanden — aber es führte kein geradliniger Weg vom Sohn eines Kriegsgefangenen über den jungen „Normalbürger“ im Kalten Krieg hin zum „alternativen“ Journalisten, der versucht, in Zeiten einer erneuten massiven Russlandhetze eine faire und ausgeglichene Position einzunehmen.

Wahrscheinlich stellte sich das deutsch-russische Verhältnis für Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren, etwas anders dar. Auch jüngere Westdeutsche, die mit Gorbatschow und Jelzin als Vertretern Russlands aufgewachsen waren, mögen vieles anders wahrgenommen haben. Die „Arschkarte“, wenn ich das so salopp sagen darf, hatten und haben jedoch wir älteren Westdeutschen. Wir haben das volle Programm mit auf den Weg bekommen: traumatisierte Eltern, deutsche Kriegsschuld, Gefangenschaft, Vertreibung, Kalter Krieg und Eiserner Vorhang, das Bild eines dunklen Reichs im Osten, in das sich in den Unterhaltungsmedien teilweise Elemente des Klischeehaft-Läppischen mischten. Man hätte schon frühreif, sehr gut informiert und geistig außergewöhnlich frei sein müssen, um sich dieser negativen Grundstimmung Westdeutschlands gegenüber Russland völlig zu entziehen. Mir gelang das sicher nicht vollständig.

Freunde, die wir noch gar nicht kennengelernt haben

Die Ambivalenz im Verhältnis der Westdeutschen zu Russland kommt im momentanen zweiten Kalten Krieg noch einmal an die Oberfläche; der Konflikt wurde durch Gorbi-Rufe und die Kooperation Lindenberg-Pugatschowa nur vorübergehend zugedeckt. Nichts — auch nicht die gegenwärtigen Kriegshandlungen — rechtfertigt pauschalisierten Hass und Diffamierungen gegen ein Volk.

Es erscheint mir allerdings realitätsfern, zu fordern, dass sich alle Deutschen — speziell Westdeutsche — in allen Wechselfällen der politischen Großwetterlage spontan und völlig eindeutig auf die Seite Russlands stellen. Dazu wurden die meisten von uns nicht erzogen, und so sind wir nicht geprägt. Annäherung — der Durchbruch zu einer zugleich freundlichen, offenen und realitätstauglichen Freundschaft — ist noch immer harte Arbeit.

Speziell auch jetzt, da das Verhalten der Staatsführung in Russland und die Medienberichte darüber neuen Gegenwind erzeugt haben.

Es ist tragisch, dass es so kommen musste — bedingt auch durch den negativen Einfluss der alten Westmächte und unsere devote Vasallenhaltung ihnen gegenüber. Das deutsch-russische Verhältnis ist jedoch etwas, das von uns allen gestaltet werden kann — bei jeder Gelegenheit, durch die Art und Weise, wie wir Russinnen und Russen begegnen und mit anderen Deutschen über sie reden beziehungsweise uns öffentlich äußern. Die Grundalternative ist, ob wir versuchen, uns dem Land mit Verständnis zu nähern, oder uns dem modischen Unverständnis widerstandslos hingeben. Wer russischen Zupfkuchen von seinem Speiseplan und Dostojewski von seinem Lektüreplan streicht, vertieft nur ein Unverständnis, das gerade jetzt unbedingt abgebaut werden sollte. Wenig hilfreich erscheint da auch die Wiederauferstehung des Russenklamauks in einem Boney-M.-Cover, das die Sendung extra3 für den NDR produziert hat: „Ga-Ga-Gasputin, die Heizung läuft nicht ohne ihn.“

Billy Joel hat ein sehr bewegendes Russland-Lied geschrieben, in dem er die Gegensätze und beiderseitig feindseligen Prägungen, denen junge Menschen in Ost und West ausgesetzt waren, keineswegs leugnete. Joel überwindet in „Leningrad“ Jahrzehnte des Kalten Krieges durch die konkrete menschliche Begegnung mit dem russischen Clown Victor Razinov während seiner Tour durch die Sowjetunion 1987. Die Begegnung ist authentisch, was das Lied noch wertvoller macht. „Er brachte meine Tochter zum Lachen, dann umarmten wir uns. Wir wussten nicht, was wir für Freunde hatten, bevor wir nach Leningrad kamen.“

Billy Joel: Leningrad

Weigern wir uns, Feinde zu sein!

Deshalb: Was immer auch für ein Rattenschwanz an historischer Traumatisierung an uns hängt und egal, welche Vorurteile und Abdrücke kriegerischer Propaganda noch in unserem Geist vorhanden sein mögen — versuchen wir neu anzufangen, die Wahrheit unverstellt wahrzunehmen und einander zu begegnen. Auch und gerade während „Putins Krieg“, der in Wahrheit nur das jüngste Kapitel eines endlosen und grausamen Romans ist über Schuld, ideologischen Wahn, Gewalt und west-östliche Missverständnisse.

Mein Vater hat in seiner Autobiografie durchaus einen Weg zur Völkerverständigung aufgezeigt: „Gerade Russen lieben Musik und sind sehr empfänglich dafür. Sie können dabei vergessen, dass wir Deutschen einmal ihre Feinde waren. Ich kann Vertretern dieses Volkes heute völlig unbefangen begegnen. (…) Wenn man den politischen Zwang beiseitelässt, so unterscheiden sich die Eigenschaften des russischen Menschen kaum von denen anderswo auf der Welt.“

Der Feind — das ist immer derjenige, den zu verstehen uns bisher nicht gelungen ist. Vielleicht auch, weil wir blind dafür sind, wie ähnlich er uns im Grunde ist. Weigern wir uns, Feinde zu sein!


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