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Die Putin-Hasser

Die Putin-Hasser

Deutsche Journalisten spitzen ihre Russland- und WM-Artikel hetzerisch zu.

Zur Fußball-WM haben russlandkritische Artikel mal wieder Konjunktur in den etablierten deutschen Medien (1). Besonders auffällig ist dabei, dass die Beiträge permanent auf Wladimir Putin als Person zuspitzen, auch wenn es in den Artikeln gar nicht unbedingt um ihn geht. Auffällig ist auch, dass Putin oft völlig anlasslos attackiert wird, also selbst dann, wenn er gerade gar nichts oder zumindest nichts Besonderes getan hat.

Klar, ein kritischer Kommentar zu Putin ist schnell und billig dahingeschrieben, sein eingängiger kurzer Name eignet sich gut für Überschriften (hieße er Kudrjawzew oder Schtscherbakow sähe das schon anders aus) und dass die mehrheitlich transatlantisch ausgerichteten Alpha-Journalisten und medialen Meinungsführer den russischen Präsidenten nicht mögen, ist schon seit Jahren klar. Doch deutsche und auch viele andere westliche Leitmedien betreiben ihre ultrakritische Putinfixierung derart penetrant, ja geradezu bis zum Exzess, dass eindimensionale Antworten als Erklärung dafür nicht genügen. Darum hat der Rubikon Fachleute verschiedener Forschungsdisziplinen zu den Gründen der Putinfixierung befragt. Hier die Antworten:

Michael Meyen (Medienforscher, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Buchautor von „Breaking News“)

Frage: Wie lässt sich die mediale Putinfixierung aus Ihrer Sicht in erster Linie erklären?

„Die Fixierung auf Elitepersonen gehört zu der Logik, nach der kommerziell ausgerichtete Mediensysteme Realität konstruieren. Dass Putin dort im Moment als Synonym für Russland steht, muss also zunächst gar nichts mit einer speziellen politischen Ausrichtung zu tun haben. Wo Medien Ihre Reichweite maximieren müssen, wird vereinfacht, übertrieben, zugespitzt. Motto: Jede noch so komplexe Situation lässt sich so erzählen, dass möglichst viele Leser, Hörer, Zuschauer dran bleiben.

Menschen interessieren sich am meisten für andere Menschen. Menschen nutzen Prominente als Folie, vor der sie ihre eigenen Normen, Werte und Handlungen legitimieren und manchmal auch anpassen. Und Menschen können das am besten beurteilen, was sie selbst schon erlebt haben. Streit zwischen Spitzenpersonal zum Beispiel. So wird Weltpolitik in der Medienrealität zur Knetmasse in der Hand von Präsidenten, Kanzlerinnen und Innenministern.

Dass solche Konstruktionen nicht das leisten, was wir brauchen, um uns eine Meinung zu bilden und „gute“ Bürgerinnen und Bürger sein zu können, liegt auf der Hand. Das alles ruft geradezu nach einer Medienreform. In Kurzform: Alternativen zu kommerziellen Anbietern stärken, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus der (de facto) Konkurrenzsituation mit den Privaten befreien und ihn denen überlassen, denen er gehört: Uns.“

Klaus-Jürgen Bruder (Psychologe und Psychoanalytiker, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie, Rubikon-Beirat)

Frage: Welche psychologischen Mechanismen sehen Sie in den personifizierten Dauerattacken deutscher Mainstreamjournalisten gegen Wladimir Putin?

„Hinter der permanenten Fixierung auf Wladimir Putin stecken nicht psychologische Mechanismen im engeren Sinne, sondern es geht um Prinzipien des medialen Diskurses: nämlich um die Personalisierung politischer, gesellschaftlicher oder auch ökonomischer Zusammenhänge und Prozesse. In zweiter Linie sind bei dem Prinzip der Personalisierung allerdings psychologische Mechanismen insoweit im Spiel, als auf die „Psychologie“ der Leser, Hörer, Zuschauer abgezielt wird. Es geht also um Psychologie der Rezipienten, nicht der Produzenten der Nachrichten. Ziel der Meinungsmache ist die Russophobie bei den Rezipienten.

Bei den verantwortlichen Journalisten würde ich weder von Russophobie noch von „persönlichem Hass auf Putin“ ausgehen. Zumindest ist dies nicht notwendig dafür. Die Medienleute betreiben ihr Geschäft der Meinungsmache „professionell“, das heißt die persönlichen Interessen sind auf ganz anderer Ebene zu suche: einen Job zu machen, der Geld bringt, im Kreis der Kollegen anerkannt zu sein, der Aufstieg in der Hierarchie – also Motive wie in anderen Berufen auch. So viel zur individuellen Motivation. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es so:

Die Medien haben sich die Aufgabe gestellt, den Diskurs der Macht – Albrecht Müller würde sagen „Meinungsmache“ – unter die Bevölkerung zu bringen, und zwar in unterschiedlichen Sprechweisen, je nach Publikum, das sie bedienen.

Der Diskurs der Macht ist kein psychologisches Konzept, sondern das, was der Psychologie vorausgesetzt ist, worauf das Denken und Handeln der Subjekte antwortet. Der Diskurs der Macht ist Medium nicht nur zwischen den vergesellschafteten Individuen, sondern zwischen den 99 Prozent der Bevölkerung und dem herrschenden Rest.

Derrida (1993) charakterisiert diesen Diskurs als einen „herrschsüchtigen“: Er „organisiert und beherrscht überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum“. „Dank der Vermittlung der Medien“ werden die unterschiedlichen Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur und der akademischen Kultur miteinander verschmolzen“. „Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern“.

Die Behauptungen, Bewertungen, Ratschläge, Parolen dieses Diskurses (der Macht) entfalten ihre normative Wirkung, indem das Individuum sie übernimmt, sie weiterträgt in den Alltag seines Lebensraumes. Sie diffundieren in die Kommunikation der vergesellschafteten Individuen: In allen unseren Gesprächen mit den unterschiedlichen Gesprächs-Partnern geht es um die Vergewisserung der eigenen Position im Diskurs der Macht, unserer „korrekten“ Haltung zu den Parolen des Diskurses der Macht: „Putin – Erdogan – Trump“ beschwört der liturgische Wechselgesang, das Echo auf Assad muss „Fassbomben und Giftgas“ lauten.

Indem wir auf diese Weise in den Chor des ceterum censeo eingestimmt haben, tragen wir wiederum bei zu seiner Aufrechterhaltung indem wir uns an diesem Diskurs beteiligen, in ihn eintreten. Der Diskurs der Macht ist die, eine der wichtigsten Bedingungen für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der psychologischen Mechanismen der Herrschaftsstabilisierung von Seiten der Beherrschten. Der invisible immaterielle Link zwischen dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und den vergesellschafteten Individuen.“

Ulrich Teusch (Hörfunkjournalist, Buchautor „Lückenpresse“, Professor für Politikwissenschaft)

Frage: Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass die meinungsführenden Journalisten so putinfixiert sind?

„Über diese Frage denke ich schon lange nach. Eine eindeutige Antwort habe ich nicht. Ich versuche mir gerade vorzustellen, was Putin tun müsste beziehungsweise hätte tun müssen, um vom Westen sympathisch gefunden zu werden: Die NATO-Osterweiterung ohne Murren akzeptieren, die Ukraine aufgeben, die unipolare Welt à la USA anerkennen, sich aus Regionalkonflikten (Syrien) heraushalten und so weiter. Ich denke, dann hätte man in den etablierten westlichen Medien kein großes Problem mit ihm und würde auch über den „Mangel an Demokratie“, über „Korruption“ und „Menschenrechtsverletzungen“ großzügig hinwegsehen. Stattdessen setzt Putin außenpolitische Duftmarken, beharrt auf nationaler Souveränität, schützt die russische Ökonomie vor Ausverkauf, strebt eine multipolare internationale Ordnung an et cetera. Ich denke, dass das die entscheidenden Punkte sind.

Inzwischen hat die Russland- und Putin-Phobie natürlich eine Eigendynamik gewonnen, ist zur Obsession geworden. Man kann ein Gruppendenken beobachten, aus dem kaum einer noch auszuscheren wagt. Dass man den Konflikt mit Russland personalisiert, ist naheliegend, weil es die Dinge vereinfacht. Aber man muss doch erstaunt feststellen, dass zu Sowjetzeiten keiner der „Kreml-Herren“ derart dämonisiert wurde, wie es jetzt mit Putin geschieht. Da steckt natürlich auch jede Menge „Russophobie“ dahinter, die ja im Westen eine gewisse Tradition hat.

Aber es hat, glaube ich, auch damit zu tun, dass der Westen nur noch scheinbar aus einer Position der Stärke heraus handelt. Im Westen weiß man oder spürt, dass die Welt sich verändert und man auf dem absteigenden Ast sitzt. Das erklärt vielleicht auch die Gereiztheit. Und diese Gereiztheit wird umso größer, je gelassener und souveräner die andere Seite, also Russland, reagiert. Zudem gibt es jede Menge innerer Krisen im Westen, von denen man auch mit Russophobie ablenken kann – „Russiagate“ in den USA wäre da das Beispiel. Das ist fast spiegelbildlich zu Sowjetzeiten, wo immer behauptet wurde, etwa wenn ein Dissident aufgemuckt hat oder sonst was Unangenehmes passiert ist, dass der Klassenfeind beziehungsweise die CIA die Fäden ziehe.

Kurzum: Das Ganze hat irrationale Züge, es ist fast wie eine Psychose. Der US-Politologe Michael Brenner bringt das sehr schön auf den Punkt:

„...the phantasmagoric Putin is but the projection of our own existential dread. The spectral persona who haunts our minds, “Putin” has no objective existence. “Putin” is the creation of our troubled national psyche. We have transposed onto him the whole maelstrom of turbid emotions we had imparted to Osama bin-Laden, and then the Islamic State.“

(„…der gespenstische Putin ist nur die Projektion unserer existentiellen Angst. Die spektrale Person, die unseren Geist verfolgt, ,Putin‘ hat keine objektive Existenz. , Putin‘ ist die Schöpfung unserer gestörten nationalen Psyche. Wir haben den ganzen Strudel trüber Emotionen, die wir Osama bin-Laden und dann dem Islamischen Staat vermittelt hatten, auf Putin übertragen.“)

Hannes Hofbauer (Historiker, Buchautor „Feindbild Russland“, Rubikon-Beirat)

Fragen: Lässt sich die Putinfixierung aus Ihrer Sicht auch bis zu einem gewissen Grad historisch erklären? Setzen Journalisten Putin gar mit Russland gleich? Und personalisierten und fokussierten (west-)deutsche Medien früher auch so sehr auf das russische/sowjetische Staatsoberhaupt?

„Wenn im größten Land der Welt die politische Führung seit dem 1. Januar 2000 von einem Mann – Wladimir Putin – gestellt wird, ist eine Personalisierung nicht nur nicht verwunderlich, sondern direkt geboten. Das betrifft nicht nur die Außenwahrnehmung, sondern auch jene im Inneren. Die Gleichsetzung von Russland und Putin durch Medien und Politik wirft allerdings die Frage der Legitimität von Putins Führerschaft auf. Diese scheint mir im Land selbst, in Russland, unumstritten. Zwar war das Medwedew'sche Interregnum als russischer Präsident (2008 bis 2012) verfassungsrechtlich unsauber, aber die breite Zustimmung zu Putins Politik ist messbar und echt.

Daran kann auch die von westlichen Medien immer wieder als Kritik ins Treffen geführte „autokratische Struktur“ des Landes nichts ändern. Russland funktioniert eben politisch anders als die hiesigen Zwei-Parteien-Gesellschaften mit ihren politischen Juniorpartnern.

Die ständigen Delegitimierungsversuche von außen haben wenig mit den vorgegebenen Kritikpunkten eines sogenannten Demokratiedefizits zu tun, sondern entspringen ökonomischen und geopolitischen Interessen. Mit anderen Worten: Seit dem Ende des für Russland verlorenen Jahrzehnts unter Boris Jelzin sind US-Amerika und EU-Europa mit den unter Putin erfolgten inneren Konsolidierungen und seiner äußeren Stärke unzufrieden. Den schwachen Jelzin feierte die westliche Journaille als Demokraten, der starke Putin wird dämonisiert.

Dazu kommt ein von EU und USA losgetretener Wirtschaftskrieg, der im April 2014 mit westlichen Sanktionen gegen Russland begann. Die Einverleibung der Krim ins russländische Staatsgebiet war nur der Vorwand, seiner Völkerrechtswidrigkeit folgten an anderen Stellen keine ähnlichen aggressiven Reaktionen (zum Beispiel beim Heraussprengen des Kosovo aus Rest-Jugoslawien/Serbien per NATO-Intervention). Tatsächlich arbeiten russophobe Kreise dies- und jenseits des Atlantiks an einem Regimewechsel im Kreml, um dereinst wieder – wie in den 1990er Jahren – einen willigen „Demokraten“ zu installieren. Im Großteil der Ukraine ist dies ja – zumindest vorläufig – gelungen.

Noch ein Gedanke zur Gleichsetzung von Putin und Russland. Solche Gleichsetzungen von Führern und Volk gab und gibt es in vielerlei Versionen. Eine historische fällt mir dazu ein, nämlich die antirussische Haltung der deutschen Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Im September 1907 stellte sich der Ko-Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, am großen Parteitag in Essen hinter eine russlandfeindliche Rede seines Parteifreundes Gustav Noske und meinte:

„Vor etwa sieben Jahren führte ich aus, daß wenn es zu einem Kriege mit Rußland käme, das ich als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten nicht nur im eigenen Lande, sondern auch als den allergefährlichsten Feind von Europa und speziell für uns Deutsche ansehe, (…) dann sei ich alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Rußland zu ziehen. Man mag darüber lachen, aber mir war es mit dem Wort bitter ernst“ (3).

Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die Sozialdemokratie den Zarismus traditionell (und verständlicherweise) als einen Feind betrachtet hat. Dass ihre Führung dagegen gerne in einen Krieg gegen Russland ziehen will, war ihr offensichtlich schon 1907 klar, nicht erst bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914.“

Sabine Schiffer (Medienpädagogin, Professorin an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Frankfurt, Gründerin des Instituts für Medienverantwortung)

Frage: Wie lässt sich die Putinfixierung der Medien aus Ihrer Sicht in erster Linie erklären?

„Tatsächlich gilt Personalisierung von komplexen Zusammenhängen als Teil der PR-Strategien zur Feindbildkonstruktion und Kriegspropaganda. Ich gehöre zwar nicht zu denen, die uns kurz vor dem Dritten Weltkrieg sehen, aber der Boden wäre bereitet – zumal viele Journalisten ihre Frames und Rolle als eigentliche Vierte Gewalt nicht reflektieren. Hier wird reflexartig nachgeplappert, was auch bestimmte politische Kreise forcieren wollen. Das Ausschalten rationaler Analysefähigkeiten (hier im internationalen Kontext mit seinem Machtgefälle!) kennen wir aus anderen Themenfeldern, die emotional so verankert sind, dass vermeintliche Argumente wie ein Bug in der Computersoftware automatisch abgespult werden.“

Hans-Heinrich Nolte (Historiker, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover)

Fragen: Lässt sich die Putinfixierung bis zu einem gewissen Grad auch historisch erklären? Setzen Journalisten Putin gar mit Russland gleich? Und personalisierten und fokussierten (west-)deutsche Medien früher auch so sehr auf das russische/sowjetische Staatsoberhaupt?

„Für die Geschichtsschreibung kann ich sagen, dass für Russland das Interpretationsmodell „Großer Mann“ (GM) regelmäßiger herangezogen wird als für west- und mitteleuropäische Geschichte. Ich sehe eine Reihe von Gründen:

  1. Vereinfachung schwieriger Zusammenhänge: Die Vereinfachung geht desto weiter, je weiter die betroffenen Länder von uns entfernt sind und je weniger wir darüber wissen.
  2. Das allgemeine Selbstbild Europas und das dazu korrespondierende Fremdbild des „Ostens“: Nach dem Selbstbild sind wir demokratisch und der Osten ist dementsprechend despotisch. Das Selbstbild entsteht, indem autokratische Regimes (Französisches Empire, Preußen, Spanien der Inquisition et cetera) und Diktaturen (Faschismus, Kommunismus) im westeuropäischen Gedächtnis eliminiert oder doch kleingeschrieben werden, im Fremdbild von Osteuropa jedoch betont und herausgestellt werden.
  3. Unreflektierte Interpretation des (vorhandenen) West-Ost-Gefälles als „unterentwickelt“ oder als Nationalcharakter: Wenn dann doch etwas geleistet wird im Osten, dann können das ja nur ganz wenige Leute sein, wahrscheinlich eben ein einzelner. „Peter der Große“ …(Stalin) „hat Russland modernisiert.“
  4. Das GM-Modell erlaubt auch, die Russen (oder Polen und andere) allgemein als freundlich, aber träge, barbarisch oder sogar dumm anzusehen, da Leistungen einer Person zugeschrieben werden können, was zugleich die Tyrannei des/der GM legitimiert.
  5. Da ein beträchtlicher Teil der russischen Intelligenz das eigene Land und seine Geschichte nach ebendiesem GM-Modell interpretiert, kann man dafür leicht russische Zeugen anführen.
  6. Putin bietet sich durch seinen machomäßigen Habitus und sein Gehabe für das GM-Bild an, er will so wirken – natürlich nur, soweit es positiv besetzt ist. Dazu gehört seine KGB-Geschichte, siehe Punkt 9.
  7. Russland benutzt unter den Sorten der Macht jene, die ihm zur Verfügung steht, also die militärische, und als diplomatischen Ansatzpunkt eine Irredenta-Politik, von der Transnistrischen Republik bis Süd-Ossetien. Da Deutschland über erstere nicht verfügen und zweitere unserer Geschichte wegen nicht nutzen kann, ist ihm diese Politikform nicht zugänglich und es delegitimiert sie entsprechend. Das ist global gesehen zwar richtig! Die Notwendigkeit zur Zivilisierung der Konflikte ist sogar dringend. Aber Deutschland müsste ja, wenn es glaubhaft eine Tendenz zu globaler Zivilisierung unterstützen will, mindestens auch die USA kritisieren. Nur ist Deutschland Teil des Spiels und muss auf seine Bundesgenossen Rücksicht nehmen, auch wenn diese ihre militärische Macht einsetzen, und sich beteiligen, wenn das Bündnis das fordert (AWACS in Jordanien). Deutschland folgt also einerseits der menschenrechtlichen Legitimierung von Interventionen und kritisiert andererseits Interventionen, wenn sie von Russland ausgehen. Das ist in sich widersprüchlich oder eben sehr von der eigenen Interpretation der Verhältnisse (zum Beispiel in Syrien) beziehungsweise der eigenen Befolgung der UN-Satzung abhängig und die einfachste „Lösung“ ist Kritik an dem GM, mit dem Deutschland nicht verbündet ist.
  8. „Irredenta“-Politik hat Deutschland mit der Einigung Deutschlands und auf der Ebene der EU in den 1980er und 1990er Jahren erfolgreich durchgesetzt oder doch maßgeblich unterstützt, mit der ihm zur Verfügung stehenden Sorte von Macht, der Ökonomie. Mein Votum war schon 1994, dass es wichtig wäre, eine Grenze der Expansion von EU und NATO nach Osten zu setzen, dafür konnte man zwischen Fundamentalkritikern auf der einen und Fundamentaleuropäern auf der anderen Seite aber auch damals keine große Unterstützung finden.
  9. Unsere nationalistischen Nachbarn im Osten der EU, an erster Stelle in diesem Kontext Polen, fördern das Bild Russlands als das Fremde, Despotische, um sich abzusetzen und zugleich Kosten für ihre Rüstung gegen dies Fremde auf die NATO zu übertragen. Für Balten und Polen ist dies Russlandbild aber mit realer Unterwerfung, Fremdbestimmung und persönlichen Opfern verbunden. Zum Beispiel wurden im März 1949 42.133 Personen, also zwei Prozent der Bevölkerung, aus Lettland in den GULaG verschleppt. Für Balten und Polen ist der KGB nicht historischer Bericht, sondern Erfahrung zweier Generationen. Und Putin bestreitet seine berufliche Herkunft aus dem KGB und die Kontinuität KGB/FSB ja nicht.
  10. Was will der Hegemon, wohin steuern die USA? Das ist zurzeit schlecht einzuschätzen und erzeugt Unsicherheit, gegen die man ein gutes Feindbild auch brauchen kann.“

Uwe Krüger (Medienwissenschaftler Uni Leipzig, Buchautor „Mainstream“, Journalist)

Frage: Welche Funktion hat die permanente Fokussierung journalistischer Beiträge auf Wladimir Putin?

„Die Zuspitzung auf die Person Putin hat meines Erachtens eine politisch-ideologische und eine ökonomische Funktion. Seit dem Wiedererstarken Russlands in der Nach-Jelzin-Ära sind Erzählmuster aus dem Kalten Krieg auferstanden: Wir im Westen werden bedroht durch Russland, und russische Sicherheits- oder Wirtschaftsinteressen sind illegitim. Dieses Erzählmuster wird unterstützt durch eine Dämonisierung der Person des Präsidenten. Die Zuspitzung auf Putin hat aber auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun und mit der Gier nach Quoten, Klicks und Kohle. Personalisierung und Prominenz sind ‚Nachrichtenfaktoren‘, die einer Geschichte mehr ‚Nachrichtenwert‘ verleihen und mehr Aufmerksamkeit generieren – denn nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch.“

Mark Galliker (Psychotherapeut, emeritierter Professor für Psychologie der Universität Bern)

Frage: Wie lässt sich die Putinfixierung aus Ihrer Sicht in erster Linie erklären? Welche Rollen spielen persönlicher Hass und Russophobie?

„Im Zusammenhang mit der Fragestellung fällt mir vor allem der klassisch psychoanalytische Begriff der Projektion ein. Natürlich kann man die aktuelle mediale Vorgehensweise nicht einfach psychologisieren. Dahinter stecken zu handfeste Interessen, die selbst vor einem weiteren wirtschaftlichen Expansionsversuch gegen Osten nicht zurückschrecken. Indessen dürfen diese materiellen Interessen den Konsumenten der Mainstream-Medien nicht bewusst werden.

Deshalb werden sie ideell verbrämt und mit der Hochhaltung schöner Worte beziehungsweise Werte versehen. Der politische Gegner wird personalisiert und der Projektion preisgegeben: Dasjenige, was den Bürgern und Bürgerinnen des eigenen Landes nicht nahegelegt werden darf und möglicherweise sich selbst nicht zugestanden wird, erscheint andernorts. Das eigene Böse, das dem Gegner unterstellt wird, kann dort bequem bekämpft werden. So wird der eigene Seelenhaushalt in Ordnung gehalten und zugleich die ökonomische Ausdehnung und Aggression ideologisch legitimiert. Indem dem Gegner die Verantwortung zugeschoben wird, wird der eigenen Verantwortungslosigkeit Tür und Tor geöffnet.

Heute wird wieder alles Verwerfliche Russland untergeschoben. Unter anderem werden völkerrechtswidrige Aktionen nur „beim Russen“ wahrgenommen und nicht bei der BRD, der EU und der NATO, was der Rechtslage wohl eher entsprechen würde, wenn man sämtliche völkerrechtswidrigen Vorgehensweisen der letzten Jahre berücksichtigen würde. Die westlichen Regierungen und die mit ihnen korrespondierenden Mainstream-Medien pflegen ein schwarz-weiß gemaltes Outgroup-Ingroup-Bild: Der Kreml und insbesondere Putin ist mächtig, undemokratisch und autokratisch, die Bundesregierung ist demokratisch, moralisch vorbildlich und dafür geschätzt in aller Welt! Welch verhängnisvolle Konsequenzen diese verantwortungslosen Zuschreibungen haben können, sollte eigentlich längst zum Alltagswissen gehören. Mit der Projektion wird Hass gegenüber einem vermeintlichen Gegner konstituiert, was als Kriegsvorbereitung interpretierbar ist und letztlich nur der Waffenindustrie dient. Jeder Historiker kann erkennen, dass vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg medial ganz ähnlich vorgegangen wurde wie heute.“


Quellen und Anmerkungen:

(1) Hier nur einige wenige Beispiele dafür zur Fußball-WM: Beispiel A Golineh Atai (ARD) sowie der Hinweis auf eine lesenswerte Kritk dazu. Beispiel B Richard Herzinger (Die Welt) sowie der Hinweis auf eine lesenswerte Kritik von Ulrich Teusch. Beispiel C Boris Reitschuster in den Tageszeitungen der Madsack-Mediengruppe – bereits ausführlich kritisiert im Rubikon.
(2) entfallen
(3) zitiert in: Hannes Hofbauer, Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Wien 2016, Seite 37


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