Dieses Buch sollte ursprünglich „Die Medien-Matrix“ heißen. Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke war schnell einverstanden, als wir im Oktober 2020 am Rheinufer in Mainz über das Projekt gesprochen haben. Chomsky heiratet Foucault heiratet Bourdieu: Es schien, als wollte er das am liebsten gleich selbst schreiben. Ich bin beschwingt durch den Regen in eine Kneipe am Markt marschiert und habe den Anruf überhört.
Auf der Mailbox sagte Wernicke: Wir machen das, aber unter einem anderen Titel. Die Propaganda-Matrix. Sonst fällt das hinter die Debatte zurück und funktioniert nicht als Buch. Ich habe mich noch ein bisschen gewehrt, via SMS. Der Akku war fast leer. Lass uns die Propaganda doch in den Untertitel packen oder so. Nicht ganz so offensichtlich. Das Ergebnis der Diskussion steht auf dem Cover.
Der Begriff Propaganda ist in der Matrix des Westens systematisch verdreht worden. Propaganda: Das ist das, was die anderen machen. Nazis und Kommunisten vorzugsweise, aber auch alle sonstigen Gegner und Feinde. Das Kopfkino hat die Bilder schnell parat. Männer mit wilden Bärten, die in Videos mit Mord und Totschlag drohen und manchmal gleich noch zeigen, was genau sie damit meinen. Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast. Wollt ihr den totalen Krieg?
Propaganda: Das ist der Anfang vom Ende. Das ist Lüge plus Emotion. Das ist Komplexitätsreduktion plus Wiederholung.
Die immer gleiche Botschaft so oft und so laut, bis auch der Letzte Hurra schreit und dabei ignoriert, verdrängt, vergisst, dass dieser Ruf das Leben kosten kann. Wenn heute über solche Bilder gesprochen wird, dann geht es oft gar nicht mehr um den Inhalt, sondern eher um die Technik. Ist dieses Video echt? Wie hat der Goebbels das bloß geschafft? Und es geht um die Wirkung. Wobei: Dass Propaganda wirkt, muss man eigentlich gar nicht diskutieren. Der allgemeine Sprachgebrauch setzt das voraus (1).
Zusammen mit meiner Kollegin Anke Fiedler habe ich deshalb vor einigen Jahren versucht, Medienlenkung in der DDR als politische PR zu verstehen. Wir dachten: Weg mit Lenins Presseformel. Wer in den Schubladen kollektiver Propagandist, kollektiver Agitator und kollektiver Organisator denkt, der sieht nicht mehr, dass die herrschende Partei permanent mit dem Westfernsehen zu kämpfen hatte und ihre Öffentlichkeitsarbeit sowohl an die Zielgruppen anpassen musste — Jugend, Christen, Funktionäre — als auch an die Tagespolitik.
Wenn Erich Honecker Österreich besuchen wollte, die Bundesrepublik oder sogar die USA, wurde der Holzhammer weggelegt, wenigstens für eine gewisse Zeit. Günter Böhme, der ab 1967 für das Neue Deutschland in Bonn war und dann nach dem Abschluss des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik in der Berliner Redaktion die Abteilung Außenpolitik leitete, hat uns berichtet, wie die SED ihre Presse als „Hilfsmittel“ für diplomatische Ziele nutzte:
„Das war kurios, vor allem in der Anerkennungsphase. Wer die DDR anerkannte, sollte absolut positiv dargestellt werden. Selbst die finstersten Länder. Sie lachen, aber selbst die Redakteure haben gesagt: Solchen Scheiß soll ich schreiben?“ (2).
Ich erzähle diese Geschichte, um meine Reaktion auf den Vorschlag von Jens Wernicke zu erklären. Der Propaganda-Begriff, darauf haben Anke Fiedler und ich uns damals schnell geeinigt, ist erstens nur schwer von Public Relations, Werbung oder Bildung abzugrenzen und zweitens so negativ besetzt, dass er das Ergebnis vor die Analyse setzt. Einseitig, nicht legitim und offenbar selbst dann effektiv, wenn man einräumt, dass sich die Menschen aus der Öffentlichkeit zurückziehen können und allen Nachrichten aus dem Mund der Partei misstrauen (3).
Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeziński zum Beispiel, zwei Harvard-Forscher, die die US-Politik prägten — der eine im heißen und der andere im kalten Krieg —, waren sich Mitte der 1950er-Jahre auch ohne jeden empirischen Beweis sicher, dass der Dauerbeschuss mit Parolen so oder so zu einer Hirnwäsche führt und bestimmte Stereotypen, Images und Werte in das Denken einsickern lässt (4). Vielleicht wird mein Unbehagen noch verständlicher, wenn man weiß, dass ich in der DDR Journalist werden wollte (5). Durch die Totalitarismus-Brille auf mein früheres Selbst zu schauen, wäre mir wie ein später Verrat vorgekommen. Inzwischen weiß ich, dass ich selbst Opfer einer Hirnwäsche geworden bin.
Die akademische Disziplin, die ich heute an der Universität vertrete, hat vergessen, dass sie als Propagandaforschung geboren wurde, und sich lauter unscheinbare Mäntelchen umgehängt. Publizistik. Kommunikationswissenschaft. Journalistik. Medienforschung.
Dabei machen wir nichts anderes als unsere Vorfahren, die im Auftrag von Regierung, Militär und Geheimdiensten in den USA herausfinden sollten und wollten, wie man in die Köpfe der Menschen kommt. Psychologische Kriegsführung.
Der Leipziger Carl Friedrich, der in den USA erst zum Europa- und dann zum Totalitarismusexperten wurde, war dabei. Staat und milliardenschwere industrienahe Stiftungen — Rockefeller, Ford — haben ab 1939 Hunderte Sozialwissenschaftler bezahlt, um auch den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen (6).
Ein Ergebnis: Man sprach fortan von Kommunikation und nicht mehr von Propaganda. Das änderte zwar nicht das, wonach man suchte, erlaubte aber, die eigenen „guten“ Absichten von den „schlechten“ der Deutschen und später der Sowjets abzugrenzen. Es gibt in meiner Disziplin einen kanonischen Aufsatz, geschrieben 1948 von Paul Lazarsfeld und Robert Merton, zwei Galionsfiguren der empirischen Sozialforschung (7). Google Scholar weist für diesen Text im Januar 2021 knapp 2.000 Zitationen aus.
Zum Vergleich: Meine erfolgreichsten Beiträge liegen hier im unteren dreistelligen Bereich. Lazarsfeld und Merton geht das Wort Propaganda kurz nach dem Kriegsende leicht über die Lippen. 35-mal auf gut zwanzig Seiten. Sie sprechen über Nachrichtenmedien und kapitalistische Hegemonie sowie über den Link zwischen organisierter Wirtschaft und Massenmedien.
Propaganda, da lassen die beiden Klassiker keinen Zweifel, hält das System zusammen. Eine neue Form der Kontrolle, die auch in liberalen Demokratien verhindert, dass gesellschaftliche Strukturen öffentlich hinterfragt werden — vor allem Eigentumsstrukturen. Obwohl der Aufsatz in vielen Lehrbüchern steht und lange Stoff für Einführungsvorlesungen war, ist dieser Teil des Textes aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Mehr noch:
Dass der Journalismus hier und heute irgendetwas mit der Propaganda von gestern zu tun haben könnte, wird rundweg abgestritten (8).
Pressestimmen zum Buch:
„Ist zu den Themen Medien und Medienkritik bereits alles Wichtige gesagt? Michael Meyen belehrt uns auf fulminante Weise eines Besseren. Der Autor führt in die verzweigte Debatte ein, verdichtet sie, spitzt sie zu und treibt sie voran, entwickelt Perspektiven — stilistisch brillant, mitreißend, erhellend. Medienkritische Aufklärung als Lesegenuss!“
Ulrich Teusch, Mitherausgeber Multipolar-Magazin
„Michael Meyens Buch ist trotz des knalligen Titels vor allem eines: solide Wissenschaft. Der Autor verbindet dabei zwei Qualitäten, die im akademischen Feld Seltenheitswert haben: Er schreibt prägnant, ohne Umschweife und vermeidet zugleich jede Selbstgerechtigkeit. Dieser Stil ist auch den politischen Debatten zu wünschen, die dieses Buch mit seinen brisanten, brandaktuellen Überlegungen hoffentlich anstößt.“
Paul Schreyer, Bestsellerautor
„Wer wie Goethes ‚Faust‘ wissen will, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, der muss Michael Meyens brillante Darstellung lesen, die tiefe Einblicke in die gegenwärtige Medien-Matrix liefert. Mit erzählerischer Leichtigkeit und analytischer Schärfe werden die Erkenntnisse von intellektuellen Größen wie Hannah Ahrendt, Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Michel Foucault, Walter Lippmann oder Niklas Luhmann für die Beobachtung von Beobachtung fruchtbar gemacht. Sichtbar werden die ‚blinden Flecken‘, aber auch die neuen Chancen von demokratischer Beteiligung und selbstbestimmter Erkenntnis.“
Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler
„Michael Meyen geht es um mehr als um Verständnis für sein Fach. Er bietet seine Expertise, klärt auf, macht verstehbar und veranschaulicht Mechanismen mit nichts weniger als der Freiheit im Blick. Ein Weißbuch für einen besseren Journalismus, wenn nicht für eine Revolution der Medien!“
Martin Sinzinger, Naturfotograf
„Michael Meyen, einer der wenigen Experten im deutschsprachigen Raum, der das Mediensystem des Ostens und Westens kennt, schreibt über die Propaganda-Matrix des 21. Jahrhunderts und die Geiselnahme ganzer Gesellschaften in ihrem totalitären Sog. Es geht um die Medienmaschine, die von Konzerninteressen finanziert und von Politikern legitimiert wird. Meyen verurteilt die Rolle der Leitmedien als Komplizen der Kriegsakteure. Der Journalismus ist tot! Es lebe der Journalismus der sich der Propaganda-Matrix widersetzt! Was hierbei aus den letzten Jahren der DDR zu lernen ist, wird in diesem Buch ebenfalls offen gelegt.“
Yana Milev, Soziologin
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Klaus Arnold, Propaganda als ideologische Kommunikation. In: Publizistik, 48. Jahrgang (2003), Seiten 63—82
(2) Michael Meyen, Anke Fiedler, Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR, Panama Verlag, Berlin 2011, Seite 121
(3) Vergleiche Anke Fiedler, Michael Meyen (Herausgeber), Fiktionen für das Volk: DDR-Zeitungen als PR-Instrument, LIT, Münster 2011, Seiten 17 f.
(4) Vergleiche Carl J. Friedrich, Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Harvard University Press, Cambridge, MA 1956
(5) Vergleiche Michael Meyen, Das Erbe sind wir. Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte, Herbert von Halem, Köln 2020
(6) Vergleiche Christopher Simpson, Science of Coercion: Communication Research & Psychological Warfare, 1945—1960, Open Road, New York 1994; Jeff Pooley, Another Plea for the University Tradition: The Institutional Roots of Intellectual Compromise. In: International Journal of Communication, 5. Jahrgang (2011), Seiten 1442—1457
(7) Paul F. Lazarsfeld, Robert K. Merton, Mass Communication, Popular Taste and Organized Social Action. In: Lyman Bryson (Herausgeber), The Communication of Ideas, Harper, New York 1948, Seiten 95—118
(8) Vergleiche Florian Zollmann, Bringing Propaganda Back into News Media Studies. In: Critical Sociology, 45. Jahrgang (2019), Seiten 329—345
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