Manchen Menschen wird allein die Angst vor SARS-CoV-2 zum Verhängnis. Schon im Mai 2020 sagte der Charité-Rechtsmediziner Michael Tsokos in einem Interview, „dass einiges anders läuft als vor der Pandemie-Situation. Wir haben eine Art von Suizid-Motiv vor uns, das ich vorher noch nicht kannte. Nämlich, dass Menschen aus Angst vor dem Tod den Tod als Ausweg wählen“. Tsokos kennt bisher „weder von HIV noch von Krebs- oder Influenzaerkrankungen, dass Menschen, die gar nicht an einer Erkrankung leiden, sich aus purer Angst davor suizidieren.
Das Tragische ist, dass diese Menschen, die wir untersucht haben, ja auch gar nicht an COVID-19 erkrankt waren“. Denn: „Normalerweise wählen Menschen den Tod aus Angst vor dem Leben beziehungsweise Weiterleben“, wenn sie schwer erkranken, persönliche Krisen oder Trennungen durchmachen oder den Arbeitsplatz verloren haben. Selbstverständlich kenne man nicht in allen Fällen das Motiv, aber anhand einer kleinen Stichprobe von acht Fällen in wenigen Wochen in Berlin konnte man „die Corona-Pandemie als auslösend oder zumindest mitauslösend für“ den Selbstmord feststellen. Das gelänge durch die psychologische Autopsie, also was man von Angehörigen, aus Ermittlungsakten und Abschiedsbriefen erfährt. „Ich bin mir sicher, wir werden auf eine infektiologische Pandemie eine psychosoziale Pandemie sehen“, so Tsokos.
Mit seiner Prognose bezieht er sich auf die Weltwirtschaftskrise oder die letzte Finanzkrise. Der Rechtsmediziner nennt das Beispiel eines 53-Jährigen, der seit Jahren extrem zurückgezogen lebte und sich erhängte. Bei dem Mann habe eine „‚Lebensangst‘ — wohl am ehesten im Sinne einer Depression — bestanden, die durch die Corona-Pandemie“ deutlich verstärkt wurde. In einem handschriftlichen Abschiedsbrief nahm der Mann Bezug auf die Auswirkungen der Corona-Politik: „Mir reicht‘s — Corona-Staat ohne mich.“
Bei dem Toten fanden die Mediziner weder Vorerkrankungen noch eine SARS-CoV-2-Infektion. Aber man müsse sehr genau hinschauen, wenn bis Ende des Jahres eine Übersterblichkeit vorliegen sollte: „Ist sie ausgelöst durch Coronatote, was ich aktuell für sehr fraglich halte, oder sind es vermehrte Suizid- und Alkohol-Tote?“ Deshalb müssten die Maßnahmen auch so weit wie möglich gelockert und die Kommunikation „moderat geführt werden. (...) Wir dürfen keine Panik machen, sondern wir müssen die Leute beruhigen“, statt in Talkshows immer wieder Horror-Szenarien zu entwerfen.
Auch in anderen Ländern nahmen sich infolge des Lockdowns viele Menschen das Leben. So berichteten Ärzte und Krankenschwestern des John Muir Medical Center in Kalifornien von zahlreichen Suizidversuchen in relativ kurzer Zeit.
Die Krankenhäuser hätten sich zwar auf einen Ansturm von COVID-Patienten eingerichtet, doch dann erlebten die Mitarbeiter eine ganz andere Welle: „Ich meine, wir haben in den letzten vier Wochen Suizidversuche in einem Umfang wie sonst in einem ganzen Jahr erlebt“, zitiert der Stern Mike de Boisblanc, den Leiter der Notaufnahme des Krankenhauses von Walnut Creek in der Nähe von San Francisco. Mehrere Mediziner in den USA schalteten sich in der Corona-Krise in die Diskussion über die Ausgangssperren ein, weil sie die Welle der Selbsttötungen nicht weiter ignorieren konnten oder wollten.
Rätselhaft fand der Stern im Sommer 2020 die Tatsache, dass Thailand mit seinen rund 70 Millionen Einwohnern trotz enger Gassen, wuseliger Restaurants und gut besuchter Food-Hallen nach Zählweise der Johns-Hopkins-University „gerade einmal 3.239 Infektionen“ und bisher so „wenige Tote“ verzeichnet — nach offiziellen Statistiken hatten 58 Menschen eine Infektion mit dem Virus bis dahin nicht überlebt. Lag das womöglich an guter „Hygiene in Kombination mit kulturellen Gepflogenheiten“? Oder weil dort weniger getestet wird? Lag es vielleicht am Immunsystem, obwohl in Teilen des Landes Denguefieber besonders schwer verläuft?
Als er einen Corona-Ausbruch in der Stadt Pattani in Südthailand untersuchte, stellte Wiput Phoolcharoen, ein Experte für öffentliche Gesundheit an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok, fest, dass 90 Prozent der dort positiv Getesteten keine Symptome zeigten. Dagegen stieg in den ersten sechs Monaten der Corona-Pandemie die Zahl der Selbstmorde auch in Thailand deutlich: um über 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Oder anders gesagt: Es wurden 2.551 Selbstmorde und damit 459 Fälle mehr als zur gleichen Zeit im Vorjahr gemeldet.
Die Daten nach dem ersten Lockdown weisen also darauf hin, dass die Lockdown-Politik mehr Menschen tötet als Corona. Weltweit hätten Regierungen auch keine wissenschaftliche Abwägung gemacht, was Lockdowns überhaupt an Menschenleben kosten könnten, so der schwedische Arzt und Publizist Sebastian Rushworth.
Und Michael Esfeld, Philosophieprofessor an der Universität von Lausanne und Mitglied der Leopoldina, wandte sich in einem Protestschreiben vom 8. Dezember 2020 an die Leopoldina, da diese erneut einen (harten) Lockdown forderte, um die Anzahl der Neuinfektionen „schnell und drastisch zu verringern“. Die Forderung nach einem Lockdown verletze aber „die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit, auf denen eine Akademie wie die Leopoldina basiert. Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen“.
Im engeren Kreis der Experten von Virologie und Epidemiologie sei „die Strategie zum Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus umstritten. (...) Im weiteren Kreis der Wissenschaftler ist höchst umstritten, ob der Nutzen scharfer politischer Maßnahmen wie ein Lockdown die dadurch verursachten Schäden aufwiegt“ — und zwar Schäden an zukünftigen Lebensjahren in entwickelten Ländern oder an Todesfällen durch einen (erneuten) Anstieg der Armut in Entwicklungsländern. Und „ethisch gibt es insbesondere in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Tradition Gründe, grundlegende Freiheitsrechte und die Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten. Zur Würde des Menschen gehört dabei insbesondere die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, was die jeweilige Person als ein für sie würdiges Leben erachtet und welche Risiken sie für diesen Lebensinhalt einzugehen bereit ist in der Gestaltung ihrer sozialen Kontakte“.
Die Leopoldina solle ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen. Es gebe keine stichhaltige wissenschaftliche Begründung für den Versuch, die Ausbreitung des Coronavirus durch zentrale staatliche Planung mit einem massiven Eingriff in die Grundrechte zu unterbinden.
Elsfeld: Es gibt „keine Berechtigung dafür, in der vorliegenden, akuten Situation der Ausbreitung des Coronavirus Grundrechte auszusetzen und sich durch technokratische Planung des gesellschaftlichen bis hin zum familiären Leben über die Würde der betroffenen Menschen hinwegzusetzen“. Und da noch kaum einer weiß, was (selbstständiges) Denken ist, sei „Aufklärung geboten im Sinne eines Ausgangs aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, in die unsere Gesellschaft durch eine unheilige Allianz aus angeblichen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Zwangsmaßnahmen hineinzulaufen droht“.
Zwar wolle die Öffentlichkeit nichts von den vielen Kollateralschäden wissen, weil die Medien auch nichts dazu sagen, aus urplötzlicher Panik vor dem Tod würde man Nicht-Maskenträger am liebsten an die nächste Wand stellen und erschießen, wie der Publizist Clemens Heni schreibt.
Doch ist Unmündigkeit, so Kant, „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung“.
Quellen und Anmerkungen:
Die Fußnoten zu diesem Buchauszug können in „Das Corona-Dossier“ eingesehen werden.
Rezension zum Buch
Interview mit Autor Flo Osrainik
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