Haben die USA 1945 zwei Atombomben auf Japan abgeworfen, weil sie den Zweiten Weltkrieg möglichst schnell beenden und so viele Menschenleben wie möglich retten wollten? „So habe ich es in der Schule gelernt“, sagt Dirk Pohlmann zu Beginn seines Vortrages in Hannover-Langenhagen. Auch in der Wikipedia finden sich diese US-Rechtfertigungen bis heute. „Doch diese Begründungen sind falsch“, betont Pohlmann. Er bezeichnet sie sogar als „Mythos“.
Der Journalist, der zahlreiche TV-Dokumentationen für ARD, ZDF und Arte drehte, hat eine andere Erklärung für die Atombombenabwürfe, die auf deutlich weniger Humanität und mehr machtstrategischen Zynismus bei den damaligen US-Verantwortlichen schließen lassen. „Die Bomben wurden nicht aus militärischen Gründen abgeworfen, sondern zu Testzwecken.“
Augenzeuge apokalyptischer Bilder
Der 59-Jährige hat sich lange mit den Atombombenabwürfen beschäftigt. Das liegt auch daran, dass er als Student in Mainz das Glück hatte, mit Helmut Erlinghagen einen der wenigen europäischen Zeugen und Überlebenden von Hiroshima kennenzulernen (1). Erlinghagen wurde von seinen Eltern in den 1930er Jahren als Jesuitenschüler nach Japan geschickt und befand sich am 6. August 1945 in einem Kloster in Hiroshima, erzählt Pohlmann. In den 1970er Jahren kehrte Erlinghagen nach Deutschland zurück und lehrte Philosophie in Mainz.
Pohlmann interviewte seinen Professor mehrmals zu dem Thema und freundete sich mit ihm an. „Es war unglaublich, was Erlinghagen beschrieb“, erinnert sich der Journalist. Opfern konnte man die Haut wie einen Handschuh abziehen, wenn man ihnen die Hand gab, hatte Erlinghagen berichtet. Frauen, die von der Explosion erblindet waren, zogen klagend in einer Reihe Hand auf Schulter durch die Trümmer. Kinder irrten durch die Ruinenlandschaft auf der Suche nach ihren Eltern.
Das Kloster am Stadtrand war als eines der wenigen massiv gebauten Gebäude stehengeblieben. Die meisten Häuser Hiroshimas waren hingegen in leichter Holzbauweise konstruiert und wurden beim Bombenabwurf komplett zerstört. Viele Überlebende kamen ins Kloster und hofften auf Hilfe. Doch mehr als Beistand konnten die Jesuiten nicht leisten.
40.000 Menschen nahe dem Detonationszentrum waren sofort gestorben, die meisten von ihnen verdampften in der ungeheuren Hitze der atomaren Explosion. 80.000 weitere Menschen starben in der Folgezeit an den Strahlenwirkungen. Auch Helmut Erlinghagen hatte mit den Folgen zu kämpfen: Er entwickelte eine Immunschwäche und starb 1994.
Fast alle Opfer waren Frauen und Kinder
90 Prozent der Todesopfer in Hiroshima waren Frauen und Kinder, sagte Pohlmann. Dies allein spricht schon dagegen, dass hier ein militärisches Ziel angegriffen wurde. Hiroshima und Nagasaki seien wichtige Truppen- und Rüstungsstandorte gewesen, ist in der Wikipedia zu lesen. Wären es wichtige militärische Ziele gewesen, wären sie schon vorher angegriffen worden, sagte der Publizist. Im Gegenteil: Hiroshima wurde gezielt verschont, um die Auswirkungen der Atombombe später umso besser nachvollziehen zu können (2). Nagasaki drei Tage später war nur Ausweichziel, weil die Stadt Kokura unter dichten Wolken lag.
Vier Wochen später sei eine Einheit US-amerikanischer Kameraleute nach Hiroshima und Nagasaki geschickt worden, um die Zerstörungen und die Opfer zu filmen. Hier sollten die Auswirkungen der Bombe dokumentiert werden. Pohlmann führte später ein Interview mit Daniel McGovern, einem der Kameramänner. Dieser war ein harter Hund, erzählte Pohlmann. Doch bei der Erinnerung an die vielen schwerverletzten Kinder in Hiroshima und Nagasaki habe der Kriegsveteran geweint und gesagt: „Das darf nie wieder passieren.“
Aber nicht nur Kameraleute sondern auch Mediziner wurden von der US-Armee in die zerstörten Städte geschickt. Die Atomic Bomb Casualty Commission untersuchte die langfristige Erkrankung der japanischen Opfer infolge der Verstrahlung. Die US-Mediziner behandelten die Opfer nicht, sondern dokumentierten lediglich. Nach dem Experiment der Atombombenabwürfe war dies das nächste riesige Feldexperiment, sagte Pohlmann.
Wer nun fragt, warum die Atombombe überhaupt zweimal getestet werden musste, der sollte sich über den zynischen Pragmatismus der Erklärung auch nicht mehr wundern. Es handelte sich um unterschiedlich konstruierte Bomben: „Little Boy“ in Hiroshima war eine eher primitive Uranbombe, während beim Modell „Fat Man“ in Nagasaki Plutonium und das kompliziertere Implosionsprinzip genutzt wurde.
Dankbare Argumentation für Japan
Doch was hat es nun mit dem Grund der japanischen Kapitulation auf sich? Immerhin berief sich der japanische Kaiser Hirohito bei seiner Kapitulationsrede am 15. August 1945 selbst auf die „neue und grausamste Bombe“ des Feindes, „deren Zerstörungskraft unberechenbar ist“.
Tatsächlich habe die Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis die japanische Staatsführung gar nicht weiter interessiert, da die Städte keine militärische Bedeutung hatten, sagte Pohlmann. So gut wie alle Großstädte Japans lagen in Schutt und Asche. Beispielsweise hatte ein US-Bombardement am 9. und 10. März in Tokio mehr als 100.000 Todesopfer gefordert. „Die Angriffe waren Kriegsalltag. Zumal man auch gar nicht wusste, was da explodiert war.“
Entscheidend für die bedingungslose japanische Kapitulation sei viel mehr der Kriegseintritt der Sowjetunion am 8. August gewesen. Dies habe den Japanern die Aussichtslosigkeit des weiteren Kampfes vor Augen geführt. US-Präsident Harry Truman hat das in seinem Tagebuch auch genauso geschrieben, sagte Pohlmann. Der japanische Kaiser habe aber die Argumentation von der zerstörerischen Atombombe dankbar übernommen, weil er Japan so als Opfer darstellen konnte.
Japan wollte schon vorher kapitulieren
Tatsächlich hatte Japan seine Kapitulation bereits zuvor angeboten. Allerdings mit der Bedingung, dass das Amt des Kaisers, des Tenno, beibehalten werde. Doch die USA lehnten ab, denn sie hätten eine bedingungslose Kapitulation gewollt und für den Test der Atombomben brauchte man noch einen Feind. Dwight D. Eisenhower, früherer General und US-Präsident sagte 1963: „Die Japaner waren bereit zu kapitulieren und es war nicht nötig, diese furchtbaren Dinger auf sie abzuwerfen.“ Weitere Zitate hochrangiger US-Militärs, die diesen Befund stützen, hatte Pohlmann bereits in einem Artikel beim Rubikon geliefert.
Auch forderten manche Verantwortliche, die Bombe über dünn besiedeltem Gebiet abzuwerfen, etwa einem Wald, was ebenso einer Machtdemonstration gleichgekommen wäre, die Zahl der Todesopfer aber minimiert hätte. In Frage wären sicher auch rein militärische Ziele gekommen. Doch es sollte eine Stadt sein – ein Ort voller Zivilisten.
Hier deutet sich ein weiterer Zweck dieser Bombenabwürfe an: eine Warnung an die Sowjetunion, die bereits damals vom Westen als Feind der Zukunft auserkoren worden war. So erwähnte Pohlmann in seinem Vortrag auch die US-Planungen im folgenden Kalten Krieg, die die Pulverisierung sowjetischer Großstädte mit dutzenden Atom- oder Wasserstoffbomben vorsahen.
Stolz statt Aufarbeitung
Und wie stehen die USA zu ihrer Verantwortung? Zwar sammelten Historiker auch einige selbstkritische Aussagen hochrangiger Militärs und Politiker der damaligen Zeit. Doch in der Öffentlichkeit werden die Atombombenangriffe bis heute gerechtfertigt.
Eine Reihe von Militärs vertrat damals nämlich auch die Auffassung, dass es so etwas wie „unschuldige Opfer“ in einem Feindesland nicht gebe, erklärte Pohlmann. Dieser Logik zufolge unterstützten auch die Zivilisten ihre Staatsführung und seien somit tötungswürdige Feinde.
Der Pilot Paul Tibbets, der die Bombe über Hiroshima abwarf, war Zeit seines Lebens begeistert von seiner Tat. Er hatte sogar das Flugzeug nach seiner Mutter „Enola Gay“ benannt. „Niemand von der Crew ist wegen des Atombombenabwurfs wahnsinnig geworden, wie manchmal behauptet wird“, unterstrich Pohlmann.
Dieses Menschheitsverbrechen ist in den USA ein ähnlich „pikantes Thema“ wie die Sklaverei und die Ermordung der ursprünglichen Bewohner Nordamerikas, sagte der Journalist. „Die Amerikaner haben eine ganz eigene Art mit ihren Kriegsverbrechen umzugehen.“ Hätte hingegen die Sowjetunion diese ersten Atombomben eingesetzt, bekämen wir dies von westlicher Politik und Medien bis heute als Beweis für die „Ruchlosigkeit der Russen“ immer wieder erzählt, vermutete Pohlmann.
Eine Entschuldigung von US-Seite für das Verbrechen gibt es bis heute nicht. Erst 2010 nahm erstmals ein US-Offizieller an der Trauerfeier in Hiroshima teil. Barack Obama besuchte die Stadt als erster US-Präsident im Jahr 2016. Doch auch der Friedensnobelpreisträger lehnte es offen ab, sich im Namen der USA für die damaligen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu entschuldigen.
Bewegung gegen Atomwaffen muss von unten kommen
Atomwaffen haben einen sehr viel zerstörerischen Charakter als biologische oder chemische Waffen. Letztere werden in der modernen Medienwelt jedoch deutlich häufiger thematisiert, betonte Dirk Pohlmann in seinem Vortrag, zu dem ihn der Verein für gesellschaftliche Bildung und Gesundheitsförderung eingeladen hatte. Atomwaffen erzeugen nicht nur viel höhere Opferzahlen, sie schädigen auch Mensch und Umwelt in langfristiger Weise, so dass selbst jetzt ungeborene Generationen in Zukunft noch unter den Folgen zu leiden haben. Zudem unterstrich er, dass heutige Atombomben im Vergleich zu damaligen Atomwaffen eine zigfach größere Sprengkraft haben.
Pohlmanns Lehrer Helmut Erlinghagen engagierte sich Zeit seines Lebens gegen Atomwaffen. Für ihn seien dies auch gar keine eigentlichen Waffen sondern „Massenvernichtungsmittel“ gewesen. Erlinghagen bezeichnete den Holocaust und die Atombombenabwürfe als die beiden Hauptverbrechen des Zweiten Weltkriegs.
Mindestens drei Mal stand die Welt seit Hiroshima und Nagasaki vor dem atomaren Untergang. Pohlmann erinnerte an die Kuba-Krise 1962, an das groß angelegte Manöver Able Archer 1983 und an einen Vorfall ebenfalls im Jahr 1983, als der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow bei einem Fehlalarm die Nerven behielt. Wahrscheinlich habe es noch weitere solcher Vorfälle gegeben, vermutete Pohlmann.
Doch die Regierungen heutiger Atomwaffenstaaten werden diese Massenvernichtungsmittel trotzdem nicht abschaffen, ist sich der Journalist sicher. Hierzu bedarf es einer großen Bewegung aus der Bevölkerung heraus. „Von unseren Regierungen werden wir kein Lob dafür bekommen.“
Deutsch-israelische Nuklearkooperation
In der anschließenden Diskussion ging es auch um das Verhältnis Deutschlands zu Atomwaffen. So betreibt die Bundesrepublik vor allem eine nukleare Kooperation mit Israel, „die wohl viel enger ist, als wir uns das vorstellen“, glaubt Pohlmann. Aus den Akten des Eichmann-Prozesses ging hervor, dass die Bundesregierung zwei Milliarden Mark für eine nukleare „Entsalzungsanlage“ in der Wüste Negev bezahlt hat. Deutschland liefert auch atomwaffenfähige U-Boote an Israel. „Das sind Milliardengeschenke.“ Der Publizist vertrat zudem die These, dass Deutschland große Mengen Uran, Yellow Cake, an Israel geliefert hat
In vielen Fragen und Antworten der Diskussionsrunde ging es um Geopolitik und verdeckte Operationen. Pohlmann, der sich in seinen Fernsehdokumentationen besonders mit Geheimdienstaktionen auseinandersetzt, gab dabei auch Einblicke in seine Kämpfe mit Redakteuren der öffentlich-rechtlichen Sender. „Je mehr ich mich auf Geheimdienste spezialisierte und je mehr ich herausfand, desto mehr Probleme bekam ich.“ Mittlerweile sei man dort überhaupt nicht mehr begeistert über Pohlmanns Themenvorschläge.
Probleme mit dem ZDF
Schwierigkeiten habe er unter anderem mit dem Film über das geheime israelische Nuklearprogramm „Israel und die Bombe“ und mit seinem Werk „Täuschung – die Methode Reagan“ bekommen. Aussagen von Michail Gorbatschow in letzterem Film, dass der Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme 1986 nicht das Werk eines Einzeltäters, sondern eine Tat mit politischem Hintergrund war, wollte eine Redakteurin so nicht im Film belassen. Das Zitat müsse „eingeordnet“ werden.
Das ZDF schnitt diesen Film sogar ohne Pohlmanns Wissen um. Begründung: Der Film sei handwerklich nicht gut genug. Dabei war das Werk bei einem Filmfestival gerade als bester ausländischer Film ausgezeichnet worden.
Pohlmanns Filme sind thematisch brisant und geopolitisch höchst lehrreich. Von dieser Art aufklärerischem und politisch relevantem Fernsehen gibt es bei ARD und ZDF kaum noch etwas. Mit Pohlmanns Auftritt in Hannover wurde deutlich, dass hier ein belesener, gut informierter Dokumentarfilmautor steht, der auch thematisch heiße Eisen anpackt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sollte ihn besser nicht vergraulen, wenn es den eigenen Bildungsauftrag ernstnimmt. Wie wäre es denn mit einer TV-Doku über die Gründe für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Im Interview mit Ken Jebsen erzählt Dirk Pohlmann ebenfalls von dieser Gegebenheit.
(2) Hideto Sotobayashi , der als Schüler den Atombombenabwurf in Hiroshima überlebte, sagte in einem Vortrag „Wir haben uns immer gewundert, warum Hiroshima nicht angegriffen wurde.“
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