Am 25. November 2018 hatte die russische Küstenwache drei Schiffe der ukrainischen Marine aufgebracht und hält sie nun in einen Hafen auf der Krim fest. Es gab verletzte ukrainische Marinesoldaten, und die festgenommenen ukrainischen Schiffsbesatzungen sollen in Russland wegen der Verletzung der russischen Grenze vor Gericht kommen.
Schon am Tag nach dem 25. November wurde Russland nicht nur von der ukrainischen Regierung, sondern auch von den Regierungen verschiedener EU-Staaten, von der EU, von der NATO und von der US-Regierung auf die Anklagebank gesetzt. Sie werfen Russland rechtswidrige Gewaltakte und Pläne für eine Machtausdehnung innerhalb der Ukraine vor. Gedroht wird mit erneuten Sanktionen und Boykottmassnahmen. Die ukrainische Regierung forderte erneut militärischen Beistand der NATO und speziell Deutschlands.
Dass die russische Darstellung richtig sein könnte, wonach die ukrainischen Schiffe die russische Grenze in provokativer Absicht verletzt haben und nicht bereit waren, russisches Hoheitsgebiet zu verlassen, erwägt man gar nicht erst.
Als Historiker habe ich gelernt, dass es nicht möglich ist, Ereignisse schon einen Tag später beurteilen zu können. Erst nach gründlicher Prüfung und Sichtung vieler Quellen kristallisiert sich so etwas wie Wissen über das wirkliche Geschehen heraus.
Diese Vorsicht und Sorgfalt gibt es im Umgang des Westens mit Russland schon lange nicht mehr. Sie würde auch nicht ins Konzept passen; denn es geht nicht um Wahrheitsfindung, sondern das politische Ziel war und bleibt die Schwächung Russlands – hierzu sind viele Mittel willkommen.
Wenig glaubwürdig
Dass die deutsche und die französische Regierung wie auch die EU, der Nato-Generalsekretär, der US-Außenminister, die US-UNO-Botschafterin und viele weitere westliche Politiker und Medien Russland nach den Ereignissen an der Meerenge von Kertsch auf die Anklagebank setzen wollen und der ukrainischen Regierung ihre Unterstützung zugesagt haben, ist insofern nicht erstaunlich – sondern nur ein weiterer Mosaikstein in der nun schon Jahre währenden Kampagne gegen Russland. Und leider muss man hinzufügen: Die vorgetragene „Angst“ vor einer Zuspitzung des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine und der Ruf nach „Deeskalation“ sind nicht glaubwürdig. Sonst würde man anders an die Sache herangehen und die russischen Darstellungen der Vorgänge zumindest ernst nehmen und mit einbeziehen.
Wer leitet die Ukraine an?
Der Abgeordnete der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag Alexander Neu sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 26. November 2018: „Die Souveränität der Ukraine entspricht etwa der Souveränität eines dreijährigen Kindes, in Abhängigkeit von seiner Mama. Glauben Sie mir das. Die Ukraine selber hat nicht viel zu sagen.“ Auf diese Aussage reagierte der deutsche Rundfunkjournalist zwar ausgesprochen allergisch, doch sie bietet eine Gelegenheit, umfassender nachzudenken. Sollten die Aktionen der ukrainischen Schiffe in der Meerenge von Kertsch tatsächlich eine gezielte Provokation gewesen sein, wie es die russische Seite behauptet, dann stellt sich auch die Frage: Wer hat außerhalb der Ukraine ein Interesse an einer solchen Provokation mit all den möglichen Folgen?
So sprach der deutsche Regierungssprecher
Wie «neutral» die Position der deutschen Regierung im aktuellen Geschehen ist, zeigte die Stellungnahme des Regierungssprechers Stefan Seibert am Morgen des 26. November in der Regierungspressekonferenz. Seibert verneinte die russischen Rechte auf der Krim, sprach erneut von der «völkerrechtswidrigen Annexion der Krim» und davon, dass die deutsche Regierung auch den Bau der Brücke zum russischen Festland für völkerrechtswidrig hält, um so zu schließen: „Aus der Sicht der Bundesregierung stellen sich gravierende Fragen vor allem im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt durch russische Kräfte, für die auf der Basis der uns bislang bekannt gewordenen Fakten keine Rechtfertigung ersichtlich ist.“ Damit wischte er die russische Argumentation en passant vom Tisch.
Die Stellung der Krim
Apropos „völkerrechtswidrige Annexion“: Auch durch die permanente Wiederholung dieser Behauptung wird sie nicht richtiger. Ein endgültiges völkerrechtliches Urteil über den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Jahr 2014 liegt bislang nicht vor. Staats- und Völkerrechtler beurteilen die Rechtsfrage unterschiedlich. Man muss aber auch daran erinnern, dass eine überwältigende Mehrheit der Krim-Bewohner im März 2014 – knapp einen Monat nach dem verfassungswidrigen Putsch in Kiew, der sich auch gegen die Russland zuneigenden Bevölkerungsteile in der Ukraine richtete – in einer geheimen Volksabstimmung für einen Beitritt der Krim zur Russischen Föderation gestimmt hat. Bei einer Wahlbeteiligung von rund 83 Prozent sprachen sich fast 97 Prozent der Abstimmenden für diesen Beitritt aus, das Parlament der Krim hat diesen Antrag dann auch gestellt, und die zuständigen russischen Staatsorgane haben dem entsprochen.
Die deutsche Politik und das Völkerrecht
Bedenkt man zudem den Umgang der deutschen Politik der vergangenen 20 Jahre mit dem Völkerrecht, dann liegt der Verdacht nahe, dass die Rede von der „völkerrechtswidrigen Annexion“ nicht dem Wunsch nach Rechtlichkeit, sondern politischen Interessen geschuldet ist.
Mich beschäftigt oft, warum nur wenige Deutsche aktiv eine ehrliche Aufarbeitung der deutsch-russischen Geschichte der vergangenen 27 Jahre fordern und sich nur wenige Deutsche aktiv für bessere deutsch-russische Beziehungen einsetzen. Möglichkeiten gibt es viele. Angefangen beim Gespräch und beim öffentlichen Wort bis hin zu konkreten Schritten der Verständigung, zum Beispiel im Rahmen von deutsch-russischen Städtepartnerschaften.
Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass die Kampagne gegen Russland auch in Deutschland nicht beendet ist. Im Gegenteil, mal leiser, mal lauter wird Gift gestreut. Es alleine Russland zu überlassen, auf die ständigen Provokationen ruhig und besonnen zu reagieren, ist zu wenig.
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Außerdem scheibt er für die Schweizer Wochenzeitung „Zeit-Fragen".
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