Glücklicherweise haben sich die Partei- und Fraktionsvorsitzenden im Herbst 2018 zusammengerauft und sich darauf verständigt, eine solidarische und sachliche Debatte zu strittigen Aspekten der Migration zu organisieren. Zu diesem Zweck lud Sevim Dagdelen, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im deutschen Bundestag, zu einer Fachtagung zum Thema „Fluchtursachen — Migration — Integration“ ein, die auch am 17. Februar in den Räumen der Rosa Luxemburg Stiftung stattfand. Zu dieser Tagung waren eine Reihe von MigrationsforscherInnen und ExpertInnen eingeladen. Auch ich gehörte zu diesem Kreis. Leider komme ich im Nachgang zu dieser Tagung nicht umhin, meine hier gewonnenen Eindrücke niederzuschreiben.
Für mich hat sich meine Beteiligung ganz sicher gelohnt, weil ich sonst nie aus erster Hand erfahren hätte, wie die ProtagonistInnen von „Offenen Grenzen“ in der Linkspartei ihre Position begründen und wie sie mit den Kontrahentenpositionen umgehen. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, will ich hier zuallererst meine grundsätzliche Haltung zu besonders sensiblen Punkten der Kontroverse in beiden Standpunkten deutlich machen:
- Politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge haben in Deutschland Anspruch auf Asyl und sämtliche darauf beruhenden Rechte.
- MigrantInnen, die ihrer angestammten Heimat wegen Not und Armut den Rücken kehren und deutsches Territorium erreichen, sollten grundsätzlich in Deutschland bleiben dürfen. Eine Rückführung darf stattfinden, wenn vorab sichergestellt ist, dass die Betroffenen in ihren jeweiligen Heimatländern Beschäftigungsmöglichkeiten finden. Dies kann beispielsweise dadurch erfolgen, dass die Bundesregierung sinnvolle und sich tragende Projekte in den jeweiligen Ländern finanziert.
Dass diese Fachtagung zu dem höchst kontroversen Thema innerhalb der Linkspartei nicht im Konsens stattfinden würde, war zu erwarten, die Kontroverse war sogar ausdrücklich intendiert und durch die Auswahl der ExpertInnen im Grunde auch vorprogrammiert. Doch ließen wirklich sachliche Diskussionen zu wünschen übrig. Über weite Strecken fehlte es an analytischem Tiefgang und der Bereitschaft, sich aufeinander zu beziehen. Insgesamt fiel die Debatte hinter das Positionspapier des Parteivorstandes und der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei zum Thema „Flucht und Migration“ vom 30.11.2018 zurück.
Nutznießer der internationalen Migration
Die politökonomische Analyse der seit vier Dekaden im neoliberalen Kapitalismus gezielt geschaffenen, und durch einen starken Lohnniedrigsektor, durch Dumpinglöhne und Leiharbeit in den meisten Sektoren gekennzeichneten prekären Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland und in der EU wurde von den VertreterInnen für „Offene Grenzen“ genauso ignoriert wie die Tatsache, dass Flucht und Migration aus dem globalen Süden durch die kapitalistischen Staaten des globalen Nordens zur Konkurrenzverschärfung, Lohnsenkung und Spaltung der Lohn- und Gehaltsabhängigen in beiden Teilen der Welt erfolgreich instrumentalisiert wurde und auch heute noch instrumentalisiert wird.
Das Argument, dass ein Überangebot an Arbeitskräften auf den Arbeitsmärkten schon immer die Ursache für die Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft, d. h. des Lohns ist (im Grunde das Einmaleins der politischen Ökonomie), fand bei den VertreterInnen für „Offene Grenzen“ keinerlei Beachtung. Es ging sogar so weit, die Neoliberalismus- und Kapitalismuskritik als „vertrackt“, „verkürzt“ und eigentlich auch überflüssig abzutun.
Zu allem Überfluss wurde die These der Instrumentalisierung der Migration demagogisch verdreht. Beispielsweise wurde unterstellt, die Kritiker der neoliberalen Migrationsstrategie würden die MigrantInnen als Bündnispartner des Neoliberalismus abstempeln. Es wurde sogar versucht, die Kritik der Migrationsfunktion als Kritik an den MigrantInnen selbst und damit als rassistisch zu diskreditieren.
Besonders überraschend war für mich, aus berufenem Munde der Parteioberen zu hören, dass man die Konkurrenzverschärfung auf den Arbeitsmärkten ja durch Regeln eindämmen könne — als hätten wir nicht zur Genüge schon erleben müssen, dass deutsche Gewerkschaften unter den gegenwärtigen Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit über zehn Jahre brauchten, um den lumpigen Mindestlohn von acht Euro pro Stunde durchzusetzen. Die theoretische Möglichkeit, die Konkurrenz unter den Beschäftigten eindämmen zu können — im Wissen darüber, dass man von dieser Möglichkeit angesichts der Übermacht der Unternehmer und der totalen Defensive der Gewerkschaften niemals Gebrauch machen kann — ist ein untaugliches Argument, mit dem man sehenden Auges die offensichtliche Konkurrenzverschärfung durch Arbeitsmigration hinzunehmen bereit ist.
Ich war schockiert, als mir ein gestandener Marxist aus der Linkspartei für meinen Mut gedankt hat, die Forcierung der globalen Arbeitsmigration als eine neoliberale Strategie identifiziert zu haben. Mut für Kapitalismuskritik in der Tagung der Linkspartei? Da musste ich — trotz der gewissen Ironie, die hinter diesem Dank steckte — erst einmal schlucken.
Ich konnte mich über weite Strecken nicht des Eindrucks erwehren, dass viele der VertreterInnen für „Offene Grenzen“ sich gänzlich außerhalb der gesellschaftlichen Realität — und in totaler Unkenntnis der EU — im wahrsten Sinne des Wortes in Wolkenkukucksheim bewegen, und nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich die EU inzwischen zu einer Gemeinschaft für die Vorherrschaft der reichen Staaten und Eliten entwickelt hat. Es ist doch kaum zu übersehen, dass in dieser EU zum Beispiel Deutschland und Holland dank Dumpinglöhnen seit Jahren zu Hause einen Handelsüberschuss produzieren und damit Südeuropa in Verschuldung und Finanzkrisen treiben. Auch wird geflissentlich ignoriert, dass die reichen EU-Staaten mit ihrer Politik des Exports ihrer Überschüsse dazu beitragen, dass in Südeuropa unweigerlich Millionen Menschen arbeitslos werden, und dass sich dann die Qualifiziertesten unter ihnen auf den Weg nach Deutschland und in die anderen reichen EU-Staaten machen.
Die soziale Schieflage in der EU entstand nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis einer gezielten, rücksichtslosen Politik der neoliberalen EU-Eliten, die den Kreislauf von Exportüberschüssen und Arbeitslosigkeit in Südeuropa — und im Gegenzug den Import von Arbeitskräften aus den südlichen Ländern — als eine kostengünstige Grundlage für die unbegrenzte Vermögenskonzentration in der Hand einer kleinen Minderheit von EU-Reichen installiert haben.
Die Eckpunkte dieses Systems wurden bekanntlich in nahezu allen EU-Verträgen für alle Ewigkeit festgeschrieben. So findet man auch im Vertrag von Maastricht, im Lissabonner Vertrag, im EU-Stabilitätspakt und teilweise auch in den nationalen Verfassungen unsichtbare Mechanismen, wie beispielsweise die Schuldenbremse, mit denen die Einbahnstraße der Austeritätspolitik und des Sozialabbaus für die EU-Staaten zu einer alternativlosen Pflicht gemacht wurde. Auf derselben Linie liegt auch der Versuch der neoliberalen EU-Eliten, das ursprünglich sehr positive Prinzip der Freizügigkeit in der EU zu einem wirksamen Hebel des internen EU-Wirtschaftskreislaufs von Exportüberschüssen im Austausch mit Arbeitsmigration umzufunktionieren.
So gesehen entpuppt sich das humanitär begründete Eintreten für „Offene Grenzen“ als eine höchst willkommene Legitimierung für die Fortsetzung und Vertiefung dieses Kreislaufs der neoliberalen Ungleichheitsproduktion in der EU. Man ignoriert dabei, um einige Beispiele zu nennen, die Tatsache, dass die Massenmigration von polnischen Ärzten nach Großbritannien zur Entstehung eines britischen Lohnniedrigsektors im Gesundheitssektor geführt hat. Ebenso wird übersehen, dass der Pflegeskandal in Deutschland unter anderem dadurch entstand, dass die Bundesregierung Jahrzehnte auf den Import billiger Pflegekräfte aus Polen, Rumänien und den asiatischen Staaten gesetzt und zugleich darauf verzichtet hat, in diesem Sektor in die Ausbildung von Fachkräften zu investieren. Die dramatisch niedrigen Löhne im Pflegebereich als Folge des Imports von billigen Fachkräften sind das Ergebnis dieser Politik und gleichzeitig auch der Grund dafür, warum kaum einheimische Fachkräfte bereit sind, sich für einen harten und verantwortungsvollen Job mit Hungerlöhnen abspeisen zu lassen.
Der Neoliberalismus ist im Kern eine Strategie zur Konzentration des Reichtums einer kleinen Elite in den einzelnen Staaten und im Weltmaßstab (2). Diese Strategie beruht im Wesentlichen auf simplen Umverteilungsmechanismen zu Lasten der Schwächeren. Dazu gehört eindeutig: Löhne senken, Sozialabbau vorantreiben, Investitionen in Infrastruktur und Menschen reduzieren, Steuern für die Reichen auf ein Minimum senken und Kosten auf schwächere soziale Gruppen und Staaten externalisieren. Die Arbeitsmigration aus den armen in die reichen Staaten ist einer der Hebel dieser neoliberalen Strategie, bei der sich interne EU-Migranten zu einem erheblichen Teil nicht aus freien Stücken, sondern aus purer Not für das Verlassen ihrer Herkunftsländer entscheiden.
Bei den Gegnern der „Offenen Grenzen“ geht es vor allem darum, gerade einer quasi erzwungenen Migration und damit der gelenkten Strategie der Neoliberalen Einhalt zu gebieten. Wer dies nicht begreift und da nicht gegensteuert, ja diese Entwicklung unter dem Mantel der internationalen Solidarität sogar noch unterstützt, der macht sich de facto zum willfährigen Handlanger der reichen Eliten.
Die linke Antwort auf die Arbeitsmigration aus Süd- und Osteuropa in die reichen Staaten der EU kann wohl nicht sein, diese Art von Migration zu verteidigen. Die linke Antwort auf diese Strategie der neoliberalen Ungleichheits- und Armutsproduktion in der gesamten EU ist vielmehr der konsequente Kampf für den Aufbau des sozialen Europas. Denn nur so kann der oben beschriebene Teufelskreis der Ungleichheitsproduktion in der EU durchkreuzt werden.
Die Tatsache, dass gerade sämtliche neoliberalen Kräfte in der EU seit Jahrzehnten systematisch und mit allen Mitteln den Ausbau der EU zu einer Sozialunion verhindert haben, müsste eigentlich den Befürwortern der Arbeitsmigration die Augen öffnen. Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist ein EU-Recht, klar. Aber ohne Ausgleichsmechanismen zur Förderung der nationalen Ökonomien der armen EU-Staaten wird im Grunde diese zivilisatorische Errungenschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Die neoliberale Umfunktionierung der Freizügigkeit ist offensichtlich ein genauso wichtiger Grund für den Erfolg der rechtspopulistischen Brexit-Anhänger in Großbritannien, wie aber auch für den Zulauf zu den nationalistisch-populistischen Strömungen und Parteien in den reichen EU-Staaten.
Tabuisierung der Fluchtursachen
Die vehemente Weigerung der Befürworter von „Offenen Grenzen“ bei der Tagung der Linkspartei — um zum Ausgang dieser Schrift zurückzukommen –, die neoliberalen Fallen der Freizügigkeit in der EU und bei der globalen Migration zur Kenntnis zu nehmen, war offenbar nicht genug. Sowohl bei den Impulsreferaten wie aus dem Publikum wurde in der Tagung auch der Versuch unternommen, die Beschäftigung mit den und die Bekämpfung der Fluchtursachen zur Eindämmung der globalen Migration zu tabuisieren.
Man scheute dabei sogar nicht davor zurück, sich jedes offensichtlich auch noch so falschen Arguments zu bedienen, um eine Beschäftigung mit den Strategien der Fluchtursachenbekämpfung als linke Antwort auf die neoliberale Forcierung der internationalen Migration als überflüssig und schädlich zu brandmarken. Eine Expertin malte bei der Tagung in ihrem Impulsreferat die Tatsache der verfehlten Entwicklungspolitik der Bundesregierung in Afrika an die Wand, um zu schlussfolgern, wie unsinnig es wäre, sich überhaupt auf das Terrain der Ursachenbekämpfung zu begeben.
Ein anderer Experte entgegnete dem Argument, die Wohlstandssteigerung in armen Staaten könnte dem Zwang zur Migration den Wind aus den Segeln nehmen, mit dem Gegenargument, dass eine Wohlstandssteigerung sogar der Grund für eine zunehmende Migration sein könnte, weil die Menschen durch höhere Einkommen erst recht beginnen würden, sich auf den Weg in andere Länder zu begeben. Hier wurde offensichtlich unbemerkt Tourismus schlicht mit Migration verwechselt.
Richtig ist in der Tat, dass heute Reiseunternehmen mit Touristen, die scharenweise zum Beispiel aus Südkorea in die EU-Staaten reisen, sich eine goldene Nase verdienen. Südkorea hat es in der Tat geschafft, durch Importzölle auf westliche Waren und durch gezieltes Werben um ausländische Investitionen, vor allem aus Japan und den USA, zu einem Industrieland aufzusteigen.
Durch das erfolgreiche südkoreanische Industrialisierungsmodell sind SüdkoreanerInnen, die noch vor 40 Jahren — mangels Zukunftsperspektiven im eigenen Land — nach Europa gingen, um als Billigkräfte fern von ihren Familien in europäischen Krankenhäusern zu malochen, heute glücklicherweise nicht mehr dem Zwang ausgesetzt, zu emigrieren. Dafür spielen gegenwärtig philippinische MigrantInnen die Rolle der Billigarbeitskräfte in Europa und in den arabischen Golfstaaten, wo sie unter schrecklichen sozialen Bedingungen ihre Arbeitskraft verdingen und bereit sind, die alltägliche Unterdrückung, die Ausgrenzung und die Trennung von ihren Familien auf sich zu nehmen. Sie tun dies, weil ihr Land daran gehindert wurde, den südkoreanischen Weg einer eigenständigen Industrialisierung zu gehen — weil Ländern wie den Philippinen, Bangladesh oder Indien in der neuen, neoliberal gelenkten, internationalen Arbeitsteilung die Rolle von Billiglohnländern zugewiesen wurde, die vor allem hohe Profite für westliche Handelskonzerne garantieren sollen.
Es ist doch kein Zufall, dass das Gros der ArbeitsmigrantInnen heute nicht aus China — Hongkong eingeschlossen –, Singapur, Malaysia, Südkorea oder aus den Staaten kommen, die durch konsequente Industrialisierung in den letzten Jahrzehnten hunderte Millionen Menschen aus der Armutsspirale befreit haben. Nein, aus diesen Staaten kommen heute statt armer ArbeitsmigrantInnen hauptsächlich kaufkräftige Touristen.
Diese Staaten konnten schon in den 1960er und 1970er Jahren, also vor dem globalen Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus, eine starke Nationalökonomie aufbauen. Sie konnten verhindern, dass sie den Zwängen der sogenannten „Strukturanpassungspolitik“ des IWFs — und damit der neuen, neoliberal gelenkten internationalen Arbeitsteilung — als Lieferanten von billigen Rohstoffen und als Statthalter billiger Arbeitskräfte ausgesetzt werden. Dagegen hat es beispielsweise Indien — und in noch dramatischerer Weise auch Pakistan — im Unterschied zu China nicht geschafft, rechtzeitig eine flächendeckende Industrialisierung und Armutsbekämpfung durchzusetzen. Diese Staaten mussten sich stattdessen der neoliberalen Arbeitsteilung unterordnen. So stellen Indien und auch Pakistan heute den allergrößten Anteil von ArbeitsmigrantInnen nach Großbritannien, nach Kanada und in die USA, deren Gesundheits- und IT-Sektoren ohne indisch-pakistanisches Fachpersonal zusammenbrechen würde.
Die linke Antwort auf die neoliberal forcierte Arbeitsmigration aus dem globalen Süden, und die entsprechenden juristischen Regularien — wie der UN-Immigrationspakt und das deutsche Fachkräfte-Einwanderungsgesetz –, kann doch nicht darin bestehen, diese allesamt unkritisch zu übernehmen. Und sie kann auch erst recht nicht darin bestehen, sie mit humanitären Werten zu rechtfertigen. Mit dieser Strategie sind die neoliberalen Eliten des globalen Nordens seit Jahrzehnten dabei, den globalen Süden als Lieferanten billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte für den reichen Norden in alle Ewigkeit zu verdammen. Deshalb müssten die Linken vielmehr eine solche Strategie mit aller Kraft bekämpfen, und stattdessen die zivilgesellschaftlichen Kräfte des globalen Südens in direkter und solidarischer Kooperation vor Ort unterstützen, die sich für einen eigenen Weg der Industrialisierung und Wohlstandssteigerung einsetzen.
Solche und andere Überlegungen stehen für die VertreterInnen der „Offenen Grenzen“ ganz und gar nicht auf dem Bildschirm. Im Gegenteil werden solche Überlegungen als nationalistisch, migrantenfeindlich, inhuman und unsolidarisch diffamiert. Selten zuvor habe ich, wie bei der migrationspolitischen Tagung der Linkspartei, erlebt, wie man linke humanitäre Ideale so offenkundig missbraucht, um sich selbst vermeintlich auf die richtige humanitäre Seite der Geschichte zu hieven.
Insgesamt war ich bei dieser Tagung vom Gefühl ergriffen, hier geht es gar nicht wirklich um die MigrantInnen, um ihr Schicksal, um ihren Schutz und ihr Glück. Auch wenn es schmerzt das zu sagen, ich wurde und werde das Gefühl nicht los, vielen der Befürworter der „Offenen Grenzen“, die ich bei der besagten Tagung erlebte, ging es offenbar um das eigene Wohlgefühl und das „wie-kriege-ich-ohne-die-polnischen-Saisonarbeiter-den-Spargel-auf-meinen-Teller“-Gefühl.
Billiger ist das Wohlgefühl nicht zu haben. Die frenetischen Beifallsbekundungen für jeden Beitrag, der irgendwie mit zusammenhanglosen, gar demagogisch gestrickten Argumenten den „Offenen Grenzen“ das Wort redete, sprachen Bände. Und überhaupt war eine Art von Migrantophilie im Tagungsraum Münzenberger Saal der Rosa Luxemburg-Stiftung am Sonntag, dem 17. Februar, mit Händen zu greifen. Die Neigung, alle analytisch stringenten Sachverhalte über Ursachen und Folgen der Migration als vertrackte Neoliberalismuskritik zu diskreditieren, offenbarte eine Art von ideologischer Blindheit, in der man keinerlei Risse gegen das eigene Wohlfühlgefühl zulassen wollte.
Handlungsstrategien zur Migration und zur Bekämpfung von Fluchtursachen
Die kritische Reflexion der Migrationsfrage in ihren vielfältigen Dimensionen und die Analyse der Ursachen von Flucht und Migration ermöglicht, eine Reihe von Projekten und Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung zu skizzieren, die die Linken meines Erachtens nach verfolgen müssten (3):
1.) Alle politischen Strömungen innerhalb der Linken in Deutschland/EU müssten ihren Streit „Offene Grenzen versus Abschottung“ beenden und die linke Migrationspolitik auf der Basis von moralisch einwandfreien Kriterien definieren. Nur so lässt sich auch erfolgreich verhindern, dass die neoliberalen Eliten, die liberal humanistisch-internationalistischen Positionen einerseits, und die sozial egalitaristischen Tendenzen innerhalb der Linken andererseits, gegeneinander ausspielen. Es ist dem Wirtschaftsliberalismus in den 1980er Jahren unter dem Vorwand von mehr Freiheit und Liberalität gelungen, die radikale Marktfreiheit ideologisch durchzusetzen. Nun gilt es zu verhindern, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft durch gezielte Arbeitsmigration fortgesetzt und verschärft wird. Fachkräftemangel ist die Folge der eigenen Politik der sinkenden Löhne und Vernachlässigung von Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften. Daher muss dieses Problem durch Ausbildung und höhere Löhne in den eigenen Ländern gelöst werden. Migration zur Beseitigung des Fachkräftemangels dient lediglich der Profitsteigerung der Unternehmer, spaltet aber die Gesellschaften der Herkunfts- wie der Zielländer gleichermaßen.
2.) Die Linken in Deutschland und der EU müssten gegen Aufrüstung, Rüstungsexporte und Kriege im globalen Süden entschlossen und radikal aufstehen. Über die gegenwärtig laufenden Aktionen in diesem Jahr muss es möglich gemacht werden, dass die Friedensbewegung, zusammen mit der linken Sammlungsbewegung Aufstehen und der Initiative #Unteilbar für 2019 viele dezentrale Aktionen organisiert.
3.) Zur Bekämpfung ökonomischer Fluchtursachen müssten sich die Linken mit aller Kraft für einen Politikwechsel ihrer Länder und der EU gegenüber dem globalen Süden einsetzen. Dazu gehört die Forderung nach Abbau sämtlicher Agrar- und sonstiger Subventionen, die den EU-Landwirtschaften auf den Märkten des globalen Südens, insbesondere auf den afrikanischen Märkten, künstlich Wettbewerbsvorteile verschaffen. Dazu gehört auch der Abbau sämtlicher Zölle gegen Exporte aus dem Süden.
Zu einem Politikwechsel gehört auch die Aufhebung sämtlicher Freihandelsverträge der EU mit den afrikanischen Staaten, zum Beispiel im Rahmen von sogenannten Partnerschaftsabkommen, die die EU mit 30 Staaten aus Afrika und der Karibik geschlossen hat. Ein Freihandel bringt allen Beteiligten nur dann Vorteile, wenn er zwischen Staaten mit annähernd gleicher Produktivität stattfindet. Afrikanische Länder verfügen jedoch nahezu in kaum einem Sektor über hinreichend ökonomische, technische und kulturelle Potentiale, um im Freihandel flächendeckend bestehen und Vorteile erzielen zu können.
Vielmehr führt der Freihandel mit Afrika und dem globalen Süden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Ruin der afrikanischen Bauern und zum Ende der inländischen Konsumgüterproduktion. Und in der Konsequenz zu steigender Massenarbeitslosigkeit, zu sinkender Kaufkraft schließlich auch zu verstärkten Fluchtbewegungen. Denkbar wäre hier allerdings, dass gerade Afrika bei fortschreitender Digitalisierung im Dienstleistungsbereich (wie zum Beispiel Indien das schon praktiziert) rasch wettbewerbsfähige Potentiale mobilisieren kann. Grundsätzlich müssten Regierungen der Länder des Südens ihre Märkte — anstelle von Freihandel — protektionistisch schützen, und gleichzeitig ausländischen Investoren ausreichende Anreize zu Investitionen in produktive Bereiche anbieten. Das chinesische Industrialisierungsmodell bietet dazu ein nachahmenswertes Muster. Denn die Kombination von beiden Strategien ermöglicht zwei sich ergänzende Entwicklungsprozesse: Der Protektionismus schützt die eigenen nationalen Agrar- und Konsumgütermärkte vor einem schleichenden Untergang und erhöht die inländische Binnenkaufkraft. Und Auslandsinvestitionen, vor allem in Konsumgütersektoren, erhöhen den internen Wettbewerb, substituieren Importe, schaffen neue Arbeitsplätze und können, wie in Südkorea, in Malaysia, in der Türkei, und nicht zuletzt in China selbst, die Grundlagen für eine sich selbst tragende Industrialisierung hervorbringen.
4.) Solidarität der Linken mit verarmten Menschen im globalen Süden bedeutet auch eine intensive Kooperation mit Gewerkschaften, Bauernverbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Ländern des Südens, um gemeinsam Konzepte für die Verbesserung des Lebensstandards der dortigen Bevölkerungen zu entwickeln. Hierzu gehören beispielsweise auch gemeinsam mit den Zivilgesellschaften dieser Länder entwickelte Programme zur Mobilisierung freiwilliger Tätigkeiten deutscher und europäischer Fachkräfte in Afrika.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine inhaltliche Ergänzung meines Artikels „Das Dilemma der Linken. Nur eine ethische Migrationspolitik kann Nationalismus zurückdrängen“, veröffentlicht in Rubikon am 13. Dezember 2018.
(2) Ausführlicher dazu siehe Mohssen Massarrat, 2017: Braucht die Welt den Finanzsektor? Postkapitalistische Perspektiven, Hamburg.
(3) Dazu bietet sich an, jene bereits im oben erwähnten Beitrag „Das Dilemma der Linken“ formulierten Vorschläge vollständigkeitshalber auch hier zu wiederholen.
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