„Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen!“
Honoré de Balzac
Der Rabbi Joshua, den sie auch den Nazarener nannten, hatte die Händler und Geschäftsleute aus dem Tempel von Jerusalem vertrieben, und musste diese radikale Kapitalismuskritik am Kreuz bezahlen, nachdem er den Tempelberg mit seinen Anhängern ein halbes Jahr besetzt hielt. Ernesto „Che“ Guevara sagte knappe zweitausend Jahre später im bolivianischen Regenwald: „Besser im Stehen zu sterben, als auf Knien zu leben!“ (Más vale morir de pie que vivir de rodillas.)
Heute wird Europa von einer menschenverachtenden Ideologie beherrscht, wie sie schon von dem linksliberalen Reichstagsabgeordneten Heinz Potthoff im Jahr 1911 postuliert worden war:
„Man wird niemals zu einer richtigen Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik kommen, wenn man es nicht lernt, auch das Menschenleben mit dem Auge des rechnenden Kaufmanns zu betrachten und sich zu fragen: Was kostet der einzelne Mensch der Gesellschaft? Was bringt er ein?“
Die Rede ist vom sogenannten neoklassischen Wirtschaftsliberalismus, auch als Neoliberalismus bezeichnet. Diese eigentlich zutiefst faschistoide Rechenkunst am lebenden Menschen wurde spätestens durch das neoliberale EU-Projekt ab 1993 zur diabolischen Meisterschaft getrieben und gilt nunmehr als das Fundament einer Politik, die weder christlich noch demokratisch genannt werden kann.
Unter dem Diktat dieser diabolischen Rechenkunst wurde dem Sozialstaat der Kampf angesagt. Das Europa der Aufklärung und der humanistischen Bildung, all unsere verlustreich erkämpften sozialen Errungenschaften sollen dem Diktat der wirtschaftsliberalen Ideologen weichen. „Alternativlos“ und „marktkonform“ heißt die neue Formel autoritärer Herrschaft. Die Konzerne und ihre liberalen Ideologen werden ihr Werk erst dann vollendet haben, wenn sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa komplett umgewandelt und ins 19. Jahrhundert zurückentwickelt haben werden. Zurück in das Zeitalter des klassischen Wirtschaftsliberalismus und des Manchester-Kapitalismus, als Arbeiterfamilien noch weitgehend rechtlos waren und im Elend leben mußten. Das verstehe ich durchaus nicht als satirische Übertreibung – ich meine es verdammt ernst!
Der „Nachtwächterstaat“ des 19. Jahrhunderts soll heute nur noch verfeinert werden durch die psychologischen Methoden der subtilen Massenmanipulation und einen durchorganisierten Überwachungsstaat, der alle Register zieht.
Nur so kann der „einzelne Mensch“ in der Gesellschaft überwacht und bewertet werden, denn man rechnet früher oder später auch mit Widerstand der sozial gedemütigten Menschen. Derzeit ist die Werbebranche der erfolgreichste Erzieher des Menschengeschlechts.
Dabei konnte niemand ahnen, dass die obsolete Ideologie des klassischen Wirtschaftsliberalismus, welche die Weltwirtschaftskrise von 1929 ausgelöst hatte, eines Tages wieder zum Leben erweckt werden würde, indem sie im 21. Jahrhundert eine grausige Wiederauferstehung erlebte. Weil sich die europäischen Wirtschaftseliten im globalen Wirtschaftskrieg („Freihandel“) befinden, führen sie zugleich einen sozialen Krieg gegen ihre eigene Bevölkerung. Während in Europa der aggressive Abbau der Sozialsysteme und der Arbeitnehmerrechte mit jeder neuen Regierung fortschreitet, wird eine umfassende Umwandlung der Gesellschaft vorangetrieben. Mehrere Generationen haben seither an den Universitäten und Hochschulen – egal welches Fach sie studieren oder welche Ausbildung sie erhalten – immer nur angewandten Neoliberalismus zu hören bekommen. Man kann es aber nur immer wieder sagen: Trotz ihrer „wirtschaftsweisen“ Attitüde und dem „Erinnerungpreis an Alfred Nobel“, gestiftet von der Schwedischen Reichsbank, können die neoliberalen Postulate keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit erheben.
Die Menschenopfer des Kapitalismus
Schon die „Religionsgründer“ der wirtschaftsliberalen Ideologie wie Friedrich von Hayek oder Pseudo-Nobelpreisträger Milton Friedman von der einflußreichen Mont Pèlerin-Gesellschaft haben darauf verzichtet, ihre Postulate wissenschaftlich und empirisch zu begründen. Auf der Basis der Evolutionstheorie des britschen Naturforschers Charles Darwin unterstellten die liberalen Ideologen dem Menschen jedoch, sich in einem immerwährenden Kampf ums Überleben zu befinden, und sie erklärten denselben zum unausweichlichen Naturgesetz. In dieser Form des „Sozialdarwinismus“ herrscht Krieg zwischen den Menschen, und nur die Stärksten setzen sich durch.
In diesen Existenzkampf ungleicher Marktteilnehmer („freier Wettbewerb“) soll der Staat nur ja nicht eingreifen und jede Art von Sozialpolitik tunlichst vermeiden. Die moderne Sozialdemokratie nannte Friedrich von Hayek eine drückende „Knechtschaft“, den Liberalismus jedoch die Befreiung von dieser entwürdigenden Bürde freier Unternehmer und Menschenausbeuter. David Friedman, der hoffnungsvolle Sprößling aus der Schule von Chicago, erklärte sogar unumwunden:
„Alles was Regierungen tun, kann man in zwei Kategorien einordnen: in Aufgaben, die man ihnen schon heute wegnehmen kann, und Aufgaben, von denen wir hoffen, sie ihnen morgen schon wegnehmen zu können.“
Das ist antidemokratischer Wirtschaftsanarchismus! Es zählt nur der Profit.
Mit seinem naturgeschichtlichen Freibeutertum à la Francis Drake, und dem liberalen „Struggle for Life“ (Wettbewerb um Ressourcen) scheint Darwins „Entstehung der Arten“ ein ausgesprochen britisches Buch zu sein, sowie eine ideologische Grundlage für das British Empire. Der Kampf um das Leben zur Erhaltung der Art wird bei Darwin nirgendwo bewiesen, sondern nur stillschweigend vorausgesetzt. Von einem Naturgesetz kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein.
Denn Charles Darwin und sein „Struggle for Life“ sind längst widerlegt, seit man in der Natur auch symbiotische Lebensformen und in Gesellschaften lebende Arten nachweisen konnte. Darwin hatte sich mit seinem Schmöker selbst zum Affen gemacht.
Und was den Sozialdarwinismus angeht, so wurde kürzlich der archäologische Nachweis erbracht, dass offenbar sogar bei den Neandertalern ein fürsorgliches Sozialleben und effektive Krankenpflege weit verbreitet gewesen waren. Der Mensch scheint von Natur ein soziales Wesen zu sein und kein sozialdarwinistischer Einzelkämpfer.
Doch wie befreiten sich die Wirtschaftsliberalen von ihrer sozialen Verantwortung? Schon Milton Friedman predigte das antichristliche Evangelium der Liberalen, indem er sagte:
„Es gibt wenig Entwicklungstendenzen, die so gründlich das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung durch Unternehmer, als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften soviel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften.“
Demnach zählen die Menschenopfer des Kapitalismus, die jährlich 10 Millionen Hungertoten gar nichts. Um einen einzigen riesigen Moloch durchzufüttern werden Menschen und Natur unbarmherzig ausgebeutet. Man lebt gut davon, die gesamten Lebensgrundlagen dieses Planeten zu vernichten. Die zwecklose Anhäufung von Vermögen um jeden Preis wird zum Selbstzweck des Kapitalismus. Da versteht man, warum eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher in den Himmel.
Es stellt sich ernsthaft die Frage, ob der Wirtschaftsliberalismus nicht eine kollektive Geisteskrankheit sei.
Auf dem Höhepunkt seiner Machtentwicklung endet der Liberalismus beim gesellschaftlichen Absolutismus, indem er seine kruden Werte und menschenverachtenden Theorien als absolut und naturgegeben voraussetzt, und jede Kritik daran unterbindet.
„Noch keine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte hat sich derart unverfroren als Absolutes gesetzt. Das totale Marktsystem färbt seine eigene Geschichte aber nicht bloß schön, sondern löscht sie sogar großenteils aus. (...) Beschwört der konservative Geist die Geschichte, um sie im Namen der Autorität zu verfälschen, so verscherbelt der wirtschaftsliberale Geist die Geschichte wie Unterhosen, Kampfbomber, Fertigsuppen und andere Marktgegenstände, in die sich die erfahrbare Welt unterschiedslos verwandelt. (...) Somit entfällt jede kritische Reflexion über das historische Gewordensein ,dessen, was ist‘. Es ,ist‘ einfach und damit Schluß“
(Robert Kurz; Schwarzbuch Kapitalismus (1)). Was aber könnte man der Wucht einer solch zerstörerischen Ideologie entgegensetzen? Wie Einhalt gebieten dem demokratiefeindlichen Vernichtungswerk einer wirtschaftsliberalen Weltordnung?
Der materialistische Holzweg der Linken
Die letzten in freier Wildbahn überlebenden Linksparteien scheitern zumeist an der Aufgabe, dem kapitalistischen Goliath einen ebenso listigen David gegenüberzustellen. Deren dialektischer Materialismus bleibt der Materie verhaftet und entbehrt einer spirituellen Transzendenz. In seinem Beitrag „Die andere Revolution. Warum der Papst mutiger als die meisten ,Linken‘ ist“ (2) kritisierte Roland Rottenfußer die Linksparteien und trat gleichzeitig für eine spirituelle Erneuerung der Gesellschaft ein: „Linke wie Neoliberale glauben, dass sich das Wohl und Wehe einer Gesellschaft einzig in der ökonomischen Sphäre entscheidet.“ Diese Kritik ist wohl begründet. Schon Lenins „Staatssozialismus“ hatte anstandslos die kapitalistische Produktionsweise übernommen. Henry Ford durfte in der Sowjetunion sogar einige Fabriken nach seiner Methode der rationalisierten Arbeit einrichten. Den Kapitalismus selbst haben die Linken bis heute niemals in Frage gestellt, sie wollen den Kapitalismus bloß verstaatlichen, aber nicht überwinden. So bleibt der Mensch am Kreuz der leblosen Materie und der „abstrakten Arbeit“ festgenagelt.
Der Humanist und Physiker Albert Einstein erkannte bereits diesen Fehler: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Bezeichnenderweise bezog sich dieser bekannte Ausspruch auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 – ausgelöst durch den Krisen-Kapitalismus der Neoliberalen. Dies ist auch der grundsätzliche Irrtum der Linken. Man kann mit Geisteskranken nicht diskutieren – deren Logik wird immer recht behalten.
Die Sozialdoktrin der Katholischen Kirche
Was nun Papst Franziskus betrifft, so versetzte dieser dem Kapitalismus mit seinem Apostolischen Rundschreiben »Evangelii Gaudium« eine volle Breitseite. Respekt! Nur möchte ich hierzu einen Vorbehalt einräumen. Ich persönlich respektiere den Papst in erster Linie als Staatsoberhaupt des Vatikans (mit UN-Beobachterstatus), weniger als religiöses Oberhaupt. Eine strikte Trennung von Staat und Religion halte ich für eine Demokratie genauso wichtig wie die Gewaltenteilung, denn wie man es auch dreht und wendet:
Allen Religionen wohnt doch ein fauler Kern inne. Religion ist Privatsache und Spiritualität keine Massenware. Vor allem, weil jeder Mensch seine Spiritualität letztlich auf seinem eigenen Weg, durch einen individuellen Zugang finden muss.
Ich persönlich habe meine Spiritualität zum Beispiel in der Kunst gefunden. Ich handle nach den Grundsätzen der Ethik aufgrund der Einsicht, dass es keine individuelle Freiheit ohne soziale Verantwortung geben kann, und nicht, weil ich mir eine metaphysische Belohnung erhoffe. Den Menschen zuliebe – und weniger aus Liebe zu Gott. Was nach dem Tod kommt, wird man schon sehen. Das eilt nicht.
In Südamerika haben sich zahlreiche katholische Priester und Würdenträger durch ihren mutigen Widerstand gegen faschistische Regime, oftmals an der Seite der Linken, hervorgetan. Viele haben dabei ihr Leben aufs Spiel gesetzt, wie der Erzbischof Óscar Romero in den Elendsvierteln von San Salvador. Romero wurde im März 1980 von Scharfschützen des Militäregimes getötet. Romero ist nur eines von unzähligen Beispielen sogenannter Befreiungstheologen. Das liegt meiner Meinung nach aber weniger an der katholischen Kirche, als an Lateinamerika selbst. Das Solidaritätsgefühl der Menschen in südamerikanischen Ländern scheint weltweit einzigartig ausgeprägt.
Die Revolution auf Kuba (1953) wurde offen von der Katholischen Kirche unterstützt, zu der Fidel Castro ein so inniges Verhältnis pflegte, dass man sich schon fragte, ob der Revolutionsführer nicht heimlich beichten ginge. Von Ökologie und Umweltschutz wurde Castro hingegen schon früh von dem chilenischen Dichter Nicanor Parra überzeugt, während im Vatikan erst Papst Franziskus im Jahr 2015 die allererste Umweltenzyklika der Kirchengeschichte veröffentlichte.
Letztlich konnten sich die Befreiungstheologen (von denen manche „Schlimmeres“ als Karl Marx gelesen hatten) auf die Sozialdoktrin der Katholischen Kirche berufen, die sonst in den tiefsten Kellern des geheimen Vatikan-Archivs dahindämmerte. Der polnische Papst Johannes Paul II. hatte als Kalter Krieger seinerzeit die Befreiungstheologie aus der Kirche verdrängt, weil er mit sicherem anti-sowjetischen Instinkt marxistische Strömungen dahinter witterte. Als ab 1980 die Solidarność-Gewerkschaft in Polen den Sowjets Widerstand leistete, unterstützte sie Johannes Paul II. mit dem Geld der italienischen Mafia. Karol Józef Wojtyła war als Papst so etwas wie ein Joseph McCarthy der Kirchengeschichte, und wurde dennoch von Papst Franziskus heiliggesprochen. Daneben soll der Vatikan ein „Offshoreparadies für dunkle Finanzgeschäfte“ sein, wie man so hört, mit großen Beteiligungen an Konzernen, von denen manche dem Vatikan vollständig gehören. Und wer ist für die organisierte Geldwäsche der Vatikanbank verantwortlich? Doch nicht der Heilige Geist?!
Der Heilige Stuhl ist manchem Papst schon unbequem geworden. Trotzdem scheint sich Papst Franziskus der Sozialdoktrin wieder zu erbarmen, und alle Achtung: Der apostolische Löwe hat gut gebrüllt! Dass die Vatikanbank unter Papst Franziskus jetzt ausschließlich unter der Kontrolle von drei katholischen Geistlichen steht, mag ein Fehler sein oder auch nicht. Und nur die Bilderberger können wissen, was zum Beispiel Herr Blankfein von Goldman Sachs – der bekanntlich auch der Meinung ist, das „Werk Gottes“ zu „verrichten“, über seinen Konkurrenten in Rom denkt.
Vor allem sollte man den Fehler vermeiden, die Weltreligionen insgesamt als vermeintliche Demokratiebewegungen misszuverstehen. Die dunkle Seite der Katholischen Kirche offenbart sich etwa in Gestalten wie Jacqueline Van Rysselberghe, Vorsitzende der chilenischen Rechtspartei UDI und bekennende Christin nach Anleitung der einflussreichen Klerikalfaschisten von Opus Dei, die von sich behauptete: „Der Elektroschock ist wie ich, er hat eine schlechte Presse, ist aber effektiv“. Diese Partei fühlt sich noch heute dem Ex-Diktator Augusto Pinochet verpflichtet.
Mit einem Wort: Die Katholische Kirche scheint mir ein unsicherer Kantonist zu sein. Das Jesus-Bild der Friedensbewegung von 1968 kommt mir viel sympathischer entgegen. Doch die damalige Vermischung des Christentums mit den „linken“ Idealen des New-Age beweisen wiederum nur eines: nämlich wie sehr die Linke eine Form von spiritueller Transzendenz benötigte. Aus diesem Mangel heraus griffen die 1968er-Linken schon rein instinktiv zu Esoterik und Christentum.
Der Humanismus als Lebensform
Auf die Frage nach einem spirituellen Widerstand in Europa gegen das neoliberale EU-Projekt möchte ich dazu anregen, auf den Humanismus zurückzugreifen, und den Menschen wieder in den Mittelpunkt unseres Denkens zu stellen, als Gegenmodell einer spirituellen Wiedergeburt, um den geschichtslosen und entstellenden Narrativen liberaler Ideologen zu begegnen. Dazu gehört die Einführung eines humanistischen Schulfachs Ethik in den Schulen. Ebenso die Rückkehr zur humanistischen Bildung, die heute weitgehend aus dem Schulbetrieb verdrängt wurde. Diese soll jungen Menschen vor allem zu ihrer eigenen Persönlichkeit verhelfen und zum selbstständigen Denken erziehen, anstatt sie zu Erfüllungsgehilfen des Kapitalismus heranzubilden.
Der Humanismus ist als Geistesströmung viel älter als die Katholische Kirche, wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin in einem seiner Vorträge ausführte:
„Eine weit verbreitete Legende, die auch bei wohlmeinenden und aufgeklärten Kirchenleuten immer wieder weitererzählt wird, lautet, ohne Christentum keine europäische Aufklärung; (...) Problem, es ist belegbar falsch. Natürlich falsch. Wer spricht denn in unserem Kulturkreis zum ersten Mal von der Dignitas hominis? (Würde des Menschen, unabhängig von Ethnien, Herkünften, Geschlecht, Gemeinschaften irgendwelcher Art). Das ist die römische Stoa. Mit Verlaub, die römische Stoa ist 150 bis 180 Jahre älter als das Christentum. (...) Und wer da sagt, die Menschenrechte sind eine Erfindung des Westens und der europäischen Aufklärung gewesen, dem muß ich auch widersprechen. Die ,General Declaration of Human Rights‘ ist von den südamerikanischen Staaten ein halbes Jahr vor dem 18. Dezember 1948 vorformuliert worden, gegen den Widerstand von Großbritannien und dem Pentagon“ (3).
Indien kritisierte an der Menschenrechtserklärung, dass die Würde des Menschen im Sinne des Buddhismus auf alle Lebewesen (dignity of all beings) ausgedehnt werden müsse. Hätte man diese Einsicht der indischen Diplomaten beherzigt, so wäre heute der Tierschutz viel besser aufgestellt.
Die Frage nach der Würde des Menschen geht auf den griechischen Humanismus um 300 vor Christus zurück, genauer auf den Philosophen Zenon von Kition, der seine Schüler in einer Säulenhalle auf dem Marktplatz von Athen lehrte, und zum Begründer der griechischen Stoa wurde. Hier wurde von den Stoikern zum ersten Mal die Gleichheit aller Menschen gelehrt, unabhängig von Hautfarbe oder Religion, Geschlecht oder sonstiger Zugehörigkeit.
Die beiden Weltkriege drehten sich in Wahrheit um die „soziale Frage“ in Europa und waren aus dem Krisenkapitalismus der Klassischen Wirtschaftsliberalen heraus entstanden.
Nach dieser humanitären „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ konnte Jean-Paul Sartre, der Hauptvertreter des französischen Existenzialismus, an keinen Gott mehr glauben. Dafür stand Sartre bei Arbeiterstreiks der 1970er Jahre immer an vorderster Front, wie in den Fabriken von Peugeot und Renault, und wurde durch sein entschlossenes Engagement zu einer Galionsfigur der Linken. Überall wo Sartre auftrat, demonstrierten Zehntausende Menschen für Frieden und gegen Rassismus. Zugleich stellte Sartre klar, dass die individuelle Freiheit nicht ohne soziale Verantwortung denkbar sei:
„Und wenn wir sagen, daß der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, daß der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern daß er verantwortlich ist für alle Menschen“ (4).
Diese Verantwortung erstreckt sich auch auf die Erhaltung der Natur als menschliche Lebensgrundlage. Gerade dies wollen liberale Ideologen nicht anerkennen.
Die Frage nach der Würde des Menschen muß auch heute wieder gestellt werden, wenn unsere Demokratien standhalten sollen den Demütigungen der wirtschaftsliberalen Politik und dem Krisen-Kapitalismus. Ein spirituelles Gegenmodell halten wir längst in den Händen. Stellen wir dem neoliberalen EU-Projekt ein anderes, ein humanistisches Europa entgegen. Europa hat eine große Geschichte, aber es ist nicht die, die uns erzählt wird. Es ist die Geschichte des humanistischen Menschen, der sich in Kunstwerken und im Geistesleben Europas verewigte. Wir können tausende Jahre Kulturgeschichte nicht einfach abstreifen, nur weil eine Sekte obskurer Sozialdarwinisten alle unsere sozialen Errungenschaften dem Moloch des Kapitalismus zu opfern gedenkt. Es gilt hier, die Geschichtslosigkeit zu zerbechen, die Heldengeschichte der Humanität wieder freizulegen.
Die Erfinder der Ein-Euro-Jobs haben die Würde des Menschen angetastet, im Widerspruch zu den Menschenrechten. Eine solche Bezahlung kann doch nur symbolisch gemeint sein, um nicht gleich Frondienste einzufordern. So beginnt die schleichende Entrechtung der Menschenwürde.
Der Humanismus sollte wieder eine starke Bewegung werden. Nur Wissen ist Macht! Wir brauchen wieder junge Menschen, die sich als Teil dieser Geschichte fühlen, die bereit sind, selbstständig zu denken, ethisch zu handeln, und sich selbst und ihr Leben wie ein Kunstwerk zu formen. Nur wenn sich Menschen als lebendige Teile eines demokratischen Staatswesens fühlen, und auch Anlaß dazu haben, können unsere Demokratien von dem wirtschaftsliberalen Regime befreit werden. Die soziale Frage wird in einem kapitalistischen Europa immer wiederauferstehen, aber erst wenn die Humanität den Sieg davonträgt, hätte unsere Kultur einen wirklichen Fortschritt errungen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Robert Kurz; Schwarzbuch Kapitalismus, Verlag Eichborn, 2000
(2) https://www.rubikon.news/artikel/die-andere-revolution
(3) Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung: https://youtu.be/w2WU75E0mZg
(4) Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie Rowohlt Verlag, 1993
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