von John J. Mearsheimer
Ich werde heute zwei Hauptargumente darlegen.
- Die Vereinigten Staaten sind in erster Linie für die Verursachung der Ukrainekrise verantwortlich. Damit soll nicht bestritten werden, dass Wladimir Putin den Krieg begonnen hat und dass er für die russische Kriegsführung verantwortlich ist. Es soll auch nicht geleugnet werden, dass Amerikas Verbündete eine gewisse Verantwortung tragen, aber sie folgen in Bezug auf die Ukraine weitgehend der Führung Washingtons. Meine zentrale These ist, dass die Vereinigten Staaten gegenüber der Ukraine eine Politik vorangetrieben haben, die von Putin und anderen russischen Führern als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wird — ein Punkt, den sie seit vielen Jahren wiederholt vorbringen. Konkret spreche ich von Amerikas Besessenheit, die Ukraine in die NATO aufzunehmen und sie zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen. Die Regierung Biden war nicht gewillt, diese Bedrohung durch Diplomatie zu beseitigen, und so verpflichteten sich die Vereinigten Staaten im Jahr 2021 erneut, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Putin reagierte darauf mit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres.
- Die Regierung Biden hat auf den Ausbruch des Krieges mit einer Verschärfung der Maßnahmen gegen Russland reagiert. Washington und seine westlichen Verbündeten sind entschlossen, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen und umfassende Sanktionen zu verhängen, um die russische Macht erheblich zu schwächen. Die Vereinigten Staaten sind nicht ernsthaft an einer diplomatischen Lösung des Krieges interessiert, was bedeutet, dass sich der Krieg wahrscheinlich über Monate, wenn nicht Jahre hinziehen wird. Dabei dürfte der Ukraine, die bereits schwer gelitten hat, noch größerer Schaden zugefügt werden. Im Grunde genommen führen die Vereinigten Staaten die Ukraine auf den Primelpfad. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass der Krieg eskaliert, da die NATO in die Kämpfe hineingezogen wird und Atomwaffen eingesetzt werden könnten. Wir leben in gefährlichen Zeiten.
Lassen Sie mich nun meine Argumente ausführlicher darlegen, beginnend mit einer Beschreibung der konventionellen Weisheit über die Ursachen des Ukrainekonflikts.
Die konventionelle Weisheit
Im Westen herrscht die weitverbreitete Meinung vor, dass Putin allein für die Ukrainekrise und vor allem für den anhaltenden Krieg verantwortlich ist. Ihm werden imperiale Ambitionen nachgesagt, was bedeutet, dass er die Ukraine und auch andere Länder erobern will — mit dem Ziel, ein Großrussland zu schaffen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der ehemaligen Sowjetunion aufweist. Mit anderen Worten: Die Ukraine ist Putins erstes Ziel, aber nicht sein letztes. Wie ein Experte es ausdrückte, verfolgt er „ein finsteres, lang gehegtes Ziel: die Ukraine von der Weltkarte zu tilgen“. Angesichts der angeblichen Ziele Putins macht es durchaus Sinn, dass Finnland und Schweden der NATO beitreten und das Bündnis seine Streitkräfte in Osteuropa aufstockt. Schließlich muss das imperiale Russland in Schach gehalten werden.
Obgleich dieses Narrativ in den Mainstream-Medien und von praktisch allen westlichen Staats- und Regierungschefs immer wieder geäußert wird, gibt es keine Belege, die es stützen. Die Argumentation der Verfechter der konventionellen Weisheit hat, wenn überhaupt, wenig oder gar keinen Bezug zu Putins Motiven für den Einmarsch in die Ukraine. Einige betonen zum Beispiel, dass er gesagt habe, die Ukraine sei ein „künstlicher Staat“ oder kein „echter Staat“. Solche undurchsichtigen Äußerungen sagen jedoch nichts über die Gründe für seinen Kriegseintritt aus. Gleiches gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als „ein Volk“ mit einer gemeinsamen Geschichte. Andere weisen darauf hin, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete. Natürlich sagte Putin auch: „Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.“
Andere wiederum verweisen auf eine Rede, in der er erklärte: „Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen oder, um genauer zu sein, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland.“ Doch in derselben Rede sagte er auch mit Bezug auf die heutige Unabhängigkeit der Ukraine: „Natürlich können wir die Ereignisse der Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich eingestehen.“
Um zu argumentieren, dass Putin die gesamte Ukraine erobern und Russland einverleiben wollte, muss nachgewiesen werden, dass er dies erstens für ein wünschenswertes Ziel hielt, dass er es zweitens für ein realisierbares Ziel hielt und dass er drittens die Absicht hatte, dieses Ziel zu verfolgen.
In den öffentlich zugänglichen Unterlagen gibt es keine Belege, dass Putin erwog, geschweige denn beabsichtigte, die Ukraine als unabhängigen Staat abzuschaffen und sie zu einem Teil Russlands zu machen, als er am 24. Februar seine Truppen in die Ukraine schickte.
Tatsächlich gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Putin die Ukraine als unabhängiges Land anerkannt hat. In seinem Artikel vom 12. Juli 2021 über die russisch-ukrainischen Beziehungen, der von Verfechtern der konventionellen Weisheit oft als Beweis für seine imperialen Ambitionen angeführt wird, sagt er dem ukrainischen Volk:
„Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: Ihr seid willkommen!“
Zur Frage, wie Russland die Ukraine behandeln sollte, schreibt er: „Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.“ Seinen langen Artikel schließt er mit den folgenden Worten ab: „Was die Ukraine sein wird — das müssen ihre Bürger entscheiden.“ Diese Aussagen sind nur schwer mit der Behauptung in Einklang zu bringen, er wolle die Ukraine in ein größeres Russland eingliedern.
In dem genannten Artikel vom 12. Juli 2021 und erneut in einer wichtigen Rede am 21. Februar dieses Jahres betonte Putin, dass Russland „die neue geopolitische Realität, die nach der Auflösung der UdSSR Gestalt angenommen hat“, akzeptiere. Denselben Punkt wiederholte er am 24. Februar 2022 ein drittes Mal, als er ankündigte, Russland werde in die Ukraine einmarschieren. Insbesondere erklärte er:
„Wir haben nicht vor, ukrainisches Territorium zu besetzen“, und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. „Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es einer ständigen Bedrohung vom Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt ist.“
Im Grunde genommen war Putin nicht daran interessiert, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen; er wollte sicherstellen, dass sie nicht zu einem „Sprungbrett“ für eine westliche Aggression gegen Russland wurde, ein Thema, auf das ich gleich näher eingehen werde.
Nun könnte man argumentieren, dass Putin über seine Motive gelogen hat, dass er versucht hat, seine imperialen Ambitionen zu verschleiern. Da ich ein Buch über Lügen in der internationalen Politik — Why Leaders Lie: The Truth about Lying in International Politics — geschrieben habe, ist für mich klar, dass Putin nicht gelogen hat. Eine meiner wichtigsten Erkenntnis ist, dass Staatsoberhäupter sich nicht oft gegenseitig anlügen, sondern eher ihre eigene Öffentlichkeit belügen. Was Putin anbelangt, so hat er, was auch immer man von ihm halten mag, nicht die Angewohnheit, andere Führer zu belügen.
Obwohl einige behaupten, dass er häufig lügt und ihm nicht zu trauen ist, gibt es kaum Anhaltspunkte dafür, dass er das Ausland belügt. Zudem hat er in den vergangenen zwei Jahren bei zahlreichen Gelegenheiten öffentlich dargelegt, wie er über die Ukraine denkt, und er hat immer wieder betont, dass seine Hauptsorge den Beziehungen der Ukraine zum Westen, insbesondere zur NATO, gilt. Nicht ein einziges Mal hat er angedeutet, dass er die Ukraine zu einem Teil Russlands machen will. Sollte dieses Verhalten Teil einer gigantischen Täuschungskampagne sein, so wäre dies ohne Beispiel in der Geschichte.
Der vielleicht beste Indikator dafür, dass Putin nicht darauf aus ist, die Ukraine zu erobern und zu absorbieren, ist die Militärstrategie, die Moskau von Beginn des Feldzugs an verfolgt. Das russische Militär versuchte nicht, die gesamte Ukraine zu erobern. Das hätte einer klassischen Blitzkriegstrategie bedurft, die darauf abzielt, die gesamte Ukraine mit gepanzerten Streitkräften, unterstützt durch taktische Luftstreitkräfte, schnell zu überrennen.
Eine solche Strategie war allerdings nicht durchführbar, schließlich umfasste die russische Invasionsarmee nur 190.000 Soldaten, eine viel zu kleine Streitmacht, um die Ukraine zu erobern und zu besetzen, die nicht nur das größte Land zwischen dem Atlantischen Ozean und Russland ist, sondern auch eine Bevölkerung von mehr als 40 Millionen Menschen hat. Daher überraschte nicht, dass die Russen eine Strategie der begrenzten Ziele verfolgten, die sich darauf konzentrierte, Kiew entweder einzunehmen oder zu bedrohen und einen großen Teil des Gebiets in der Ost- und Südukraine zu erobern. Kurz gesagt, Russland war überhaupt nicht in der Lage, die gesamte Ukraine zu unterwerfen, geschweige denn andere Länder in Osteuropa zu erobern.
Ein weiterer aufschlussreicher Indikator für Putins begrenzte Ziele ist, wie Ramzy Mardini anmerkte, dass Fehlen von Belegen dafür, dass Russland eine Marionettenregierung für die Ukraine vorbereitete, prorussische Führer in Kiew kultivierte oder politische Maßnahmen ergriff, die es ermöglichen würden, das gesamte Land zu besetzen und schließlich in Russland zu integrieren.
Um dieses Argument noch einen Schritt weiter zu führen: Putin und andere russische Politiker wissen sicherlich aus dem Kalten Krieg, dass die Besetzung von Ländern im Zeitalter des Nationalismus immer ein Rezept für endlose Schwierigkeiten ist. Die sowjetischen Erfahrungen in Afghanistan sind ein eklatantes Beispiel für dieses Phänomen, aber noch wichtiger für die vorliegende Frage sind die Beziehungen Moskaus zu seinen Verbündeten in Osteuropa. Die Sowjetunion unterhielt in dieser Region eine enorme militärische Präsenz und war in die Politik fast aller dortigen Länder involviert. Diese Verbündeten waren Moskau jedoch häufig ein Dorn im Auge.
Die Sowjetunion schlug 1953 einen großen Aufstand in Ostdeutschland nieder und marschierte dann 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei ein, um diese Länder unter Kontrolle zu halten. In Polen kam es 1956, 1970 und erneut 1980/1981 zu schweren Unruhen. Obwohl die polnischen Behörden mit diesen Ereignissen fertig wurden, dienten sie als Mahnung, dass ein Eingreifen notwendig sein könnte. Albanien, Rumänien und Jugoslawien bereiteten Moskau regelmäßig Schwierigkeiten, aber die sowjetische Führung neigte dazu, ihr Fehlverhalten zu tolerieren, da sie aufgrund ihrer Lage weniger wichtig für die Abschreckung der NATO waren.
Was ist mit der heutigen Ukraine? Aus Putins Aufsatz vom 12. Juli 2021 geht eindeutig hervor, dass er zu diesem Zeitpunkt wusste, wie stark der ukrainische Nationalismus ist und wie sehr der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg im Donbass die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine vergiftet hat. Er wusste sicherlich, dass Russlands Invasionstruppen von den Ukrainern nicht mit offenen Armen empfangen werden würden und dass es für Russland eine Herkulesaufgabe wäre, die Ukraine zu unterwerfen, wenn es über die notwendigen Kräfte zur Eroberung des gesamten Landes verfügen würde, was nicht der Fall war.
Schließlich sei darauf hingewiesen, dass kaum jemand das Argument vorbrachte, dass Putin seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 bis zum Ausbruch der Ukrainekrise am 22. Februar 2014 imperiale Ambitionen hatte. Tatsächlich war der russische Staatschef ein geladener Gast auf dem NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest, auf dem das Bündnis ankündigte, dass die Ukraine und Georgien schließlich Mitglieder werden würden. Putins Widerstand gegen diese Ankündigung hatte kaum Auswirkungen auf Washington, da Russland als zu schwach eingeschätzt wurde, um eine weitere NATO-Erweiterung zu verhindern, so wie es auch zu schwach gewesen war, die Erweiterungswellen von 1999 und 2004 zu stoppen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die NATO-Erweiterung vor Februar 2014 nicht darauf abzielte, Russland einzudämmen. Angesichts des traurigen Zustands der russischen Streitkräfte war Moskau nicht in der Lage, eine revanchistische Politik in Osteuropa zu verfolgen. Bezeichnenderweise stellte der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, fest, dass Putins Inbesitznahme der Krim vor dem Ausbruch der Krise im Jahr 2014 nicht geplant war. Es handelte sich um einen impulsiven Schritt als Reaktion auf den Putsch, durch den der prorussische Führer der Ukraine gestürzt wurde. Kurzum, die NATO-Erweiterung war nicht dazu gedacht, eine russische Bedrohung einzudämmen, sondern war Teil einer umfassenderen Politik, die darauf abzielte, die liberale internationale Ordnung in Osteuropa zu implementieren und den gesamten Kontinent wie Westeuropa aussehen zu lassen.
Erst mit dem Ausbruch Ukrainekrise im Februar 2014 begannen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten plötzlich, Putin als gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als ernsthafte militärische Bedrohung zu bezeichnen, die es einzudämmen gelte. Warum dieser Wandel? Diese neue Rhetorik sollte vor allem einem Zweck dienen: den Westen in die Lage zu versetzen, Putin für den Ausbruch der Unruhen in der Ukraine verantwortlich zu machen.
Und jetzt, da sich die Krise zu einem ausgewachsenen Krieg ausgeweitet hat, muss unbedingt sichergestellt werden, dass er allein für diese katastrophale Wendung der Ereignisse verantwortlich zu machen ist. Dieses Spiel mit den Schuldzuweisungen erklärt, warum Putin hier im Westen inzwischen weithin als Imperialist dargestellt wird, obwohl es kaum Belege gibt, die diese Sichtweise stützen.
Lassen Sie mich nun auf die eigentliche Ursache der Ukrainekrise eingehen.
Die wahre Ursache des Konflikts
Die Wurzel der Krise ist das von den USA geführte Bestreben, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen Russlands zu machen. Diese Strategie hat drei Säulen: die Integration der Ukraine in die Europäische Union (EU), die Umwandlung der Ukraine in eine prowestliche liberale Demokratie und vor allem die Aufnahme der Ukraine in die NATO.
Die Strategie wurde auf dem NATO-Jahresgipfel in Bukarest im April 2008 in die Wege geleitet, als das Bündnis ankündigte, dass die Ukraine und Georgien „Mitglieder werden“. Die russische Führung reagierte sofort mit Empörung und machte deutlich, dass sie diese Entscheidung als existenzielle Bedrohung ansah und nicht die Absicht hatte, eines der beiden Länder der NATO beitreten zu lassen. Einem angesehenen russischen Journalisten zufolge wurde Putin „zornig“ und warnte:
„Wenn die Ukraine der NATO beitritt, wird sie dies ohne die Krim und die östlichen Regionen tun. Sie wird einfach auseinanderfallen.“
Der derzeitige Chef der CIA William Burns, zum Zeitpunkt des Bukarester Gipfels US-Botschafter in Moskau, verfasste ein Memo an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice, das die russische Denkweise in dieser Angelegenheit kurz und bündig beschreibt:
„Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist für die russische Elite — nicht nur für Putin — die markanteste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunklen Winkeln des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen betrachtet.“
Die NATO, so sagte er, „sähe so aus, als ob sie den strategischen Fehdehandschuh hinwirft. Das Russland von heute wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden eingefroren (...) Das wird fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.“
Burns war natürlich nicht der einzige politische Entscheidungsträger, der erkannte, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO mit Gefahren verbunden ist. Auf dem Bukarester Gipfel sprachen sich sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, weil sie wussten, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde. Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung: „Ich war mir sehr sicher, (...) dass Putin das nicht einfach so geschehen lassen wird. Aus seiner Sicht wäre das eine Kriegserklärung.“
Die Bush-Regierung kümmerte sich jedoch wenig um Moskaus „knallrote Linie“ und drängte die französische und die deutsche Führung, einer öffentlichen Erklärung zuzustimmen, in der es hieß, dass die Ukraine und Georgien schließlich dem Bündnis beitreten würden.
Es überrascht nicht, dass die unter amerikanischer Führung unternommenen Anstrengungen zur Integration Georgiens in die NATO im August 2008 — vier Monate nach dem Bukarester Gipfel — zu einem Krieg zwischen Georgien und Russland führten. Dennoch setzten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihre Pläne fort, die Ukraine zu einer westlichen Bastion an den Grenzen Russlands zu machen.
Diese Bemühungen lösten schließlich im Februar 2014 eine schwere Krise aus, nachdem ein von den USA unterstützter Aufstand den prorussischen Präsidenten der Ukraine Viktor Janukowitsch zur Flucht zwang. Er wurde durch den proamerikanischen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk ersetzt. Als Reaktion darauf nahm Russland die Krim von der Ukraine in Besitz und förderte einen Bürgerkrieg zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Regierung in der ostukrainischen Region Donbass.
Oft ist das Argument zu hören, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hätten in den acht Jahren zwischen dem Ausbruch der Krise im Februar 2014 und dem Beginn des Krieges im Februar 2022 der Aufnahme der Ukraine in die NATO kaum Beachtung geschenkt. Das Thema sei praktisch vom Tisch, und daher könne die NATO-Erweiterung auch kein wichtiger Grund für die Eskalation der Krise im Jahr 2021 und den anschließenden Ausbruch des Krieges Anfang dieses Jahres gewesen sein.
Diese Argumentation ist falsch. Die westliche Reaktion auf die Ereignisse von 2014 bestand vielmehr darin, die bestehende Strategie zu verdoppeln und die Ukraine noch enger an die NATO zu binden. Die Allianz begann 2014 mit der Ausbildung des ukrainischen Militärs und schulte in den folgenden acht Jahren durchschnittlich 10.000 ausgebildete Soldaten pro Jahr. Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Administration, Kiew mit „Verteidigungswaffen“ auszustatten. Bald beteiligten sich andere NATO-Länder und lieferten noch mehr Waffen an die Ukraine.
Das ukrainische Militär nahm auch an gemeinsamen Manövern der NATO-Kräften teil. Im Juli 2021 organisierten Kiew und Washington gemeinsam die Operation Sea Breeze, eine Marineübung im Schwarzen Meer, an der Seestreitkräfte aus 31 Ländern teilnahmen und die direkt gegen Russland gerichtet war. Zwei Monate später, im September 2021, führte die ukrainische Armee die Übung Rapid Trident 21 durch, die die US-Armee beschreibt als „jährliche Übung zur Verbesserung der Interoperabilität zwischen verbündeten Staaten und Partnernationen, um zu demonstrieren, dass die Einheiten in der Lage und bereit sind, auf jede Krise zu reagieren“.
Die Anstrengungen der NATO, das ukrainische Militär zu bewaffnen und auszubilden, erklären zu einem großen Teil, warum es sich im laufenden Krieg so gut gegen die russischen Streitkräfte behaupten konnte. Eine Schlagzeile des Wall Street Journal lautete: „Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahrelange NATO-Ausbildung.“
Zusätzlich zu den laufenden Bemühungen der NATO, das ukrainische Militär zu einer schlagkräftigeren Streitmacht aufzubauen, änderte sich im Jahr 2021 auch die Politik im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und ihrer Integration in den Westen.
Sowohl in Kiew als auch in Washington herrschte neuer Enthusiasmus für die Verfolgung dieser Ziele. Präsident Wolodymyr Selenskyj, der nie viel Enthusiasmus für einen NATO-Beitritt der Ukraine gezeigt hatte und im März 2019 mit einem Programm gewählt wurde, das einer Zusammenarbeit mit Russland zur Beilegung der anhaltenden Krise forderte, änderte Anfang 2021 seinen Kurs und begrüßte nicht nur die NATO-Erweiterung, sondern verfolgte auch eine harte Politik gegenüber Moskau. Er unternahm eine Reihe von Schritten — darunter die Schließung prorussischer Fernsehsender und die Anklage eines engen Freundes Putins wegen Hochverrats —, die Moskau mit Sicherheit verärgerten.
Präsident Joe Biden, der im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, hatte sich seit langem dafür eingesetzt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und war auch gegenüber Russland ein Superfalke. Es überrascht nicht, dass die NATO am 14. Juni 2021 auf ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel folgendes Kommuniqué veröffentlichte:
„Wir bekräftigen die auf dem Bukarester Gipfel 2008 getroffene Entscheidung, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird, wobei der Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP) integraler Bestandteil des Prozesses ist; wir bekräftigen alle Elemente dieser Entscheidung sowie nachfolgende Entscheidungen, einschließlich der Tatsache, dass jeder Partner nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt wird. Wir stehen fest in unserer Unterstützung für das Recht der Ukraine, ihre Zukunft und ihren außenpolitischen Kurs frei von Einmischung von außen selbst zu bestimmen.“
Am 1. September 2021 besuchte Selenskyj das Weiße Haus, wo Biden klarstellte, dass die Vereinigten Staaten „fest entschlossen“ seien, „die euroatlantischen Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen“. Am 10. November 2021 unterzeichneten Außenminister Antony Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument, die „Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine“. Das Ziel beider Parteien, so heißt es in dem Dokument, ist es, „zu unterstreichen ... das Bekenntnis zur Umsetzung tiefgreifender und umfassender Reformen in der Ukraine, die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind.“
Dieses Dokument stützt sich nicht nur auf die von den Präsidenten Selenskyj und Biden gemachten Zusagen zur Stärkung der strategischen Partnerschaft zwischen der Ukraine und den USA, sondern bekräftigt auch das Bekenntnis der USA zur Bukarester Gipfelerklärung von 2008.
Kurz gesagt, es besteht kaum ein Zweifel daran, dass sich die Ukraine ab Anfang 2021 rasch in Richtung NATO-Beitritt bewegte. Dennoch argumentieren einige Befürworter dieser Politik, dass Moskau nicht besorgt sein sollte, da die NATO ein Verteidigungsbündnis sei und keinerlei Bedrohung für Russland darstelle.
Aber das ist nicht die Sichtweise Putins und anderer russischer Politiker auf die NATO, und es kommt darauf an, was sie denken. Es steht außer Frage, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO für Moskau die „markanteste aller roten Linien“ darstellt.
Um dieser wachsenden Bedrohung zu begegnen, stationierte Putin zwischen Februar 2021 und Februar 2022 immer mehr russische Truppen an der Grenze zur Ukraine. Sein Ziel war es, Biden und Selenskyj zu einem Kurswechsel zu zwingen und ihre Bemühungen um eine Integration der Ukraine in den Westen zu stoppen.
Am 17. Dezember 2021 richtete Moskau getrennte Schreiben an die Regierung Biden und die NATO, in denen es eine schriftliche Garantie forderte, dass:
- die Ukraine nicht der NATO beitritt,
- keine Offensivwaffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert und
- die seit 1997 nach Osteuropa verlegten NATO-Truppen und -Ausrüstungen wieder nach Westeuropa verlegt werden.
Putin gab in dieser Zeit zahlreiche öffentliche Erklärungen ab, die keinen Zweifel daran ließen, dass er die NATO-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung ansah. In einer Rede vor dem Vorstand des Verteidigungsministeriums am 21. Dezember 2021 erklärte er:
„Was sie in der Ukraine tun oder zu tun versuchen oder planen, geschieht nicht Tausende von Kilometern entfernt von unserer Landesgrenze. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin zurückziehen können. Glauben sie wirklich, dass wir diese Bedrohungen nicht wahrnehmen? Oder glauben sie, dass wir tatenlos zusehen werden, wie Bedrohungen für Russland entstehen?“
Zwei Monate später, auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022, nur wenige Tage vor Kriegsbeginn, sagte Putin:
„Wir sind kategorisch gegen den Beitritt der Ukraine zur NATO, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt, und wir haben Argumente, die dafür sprechen. Ich habe in diesem Saal wiederholt darüber gesprochen.“
Dann machte er deutlich, dass er zur Kenntnis nehme, dass die Ukraine de facto Mitglied der NATO werde. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, sagte er, „pumpen die derzeitigen Kiewer Behörden weiterhin mit modernen Waffen voll“. Er fuhr fort, dass Moskau, wenn dies nicht gestoppt werde, „mit einem bis an die Zähne bewaffneten ‚Anti-Russland' konfrontiert würde. Das ist völlig inakzeptabel.“
Putins Logik dürfte vollkommen einleuchtend für die Amerikaner sein, die seit langem der Monroe-Doktrin verpflichtet sind, die besagt, dass keine entfernte Großmacht ihre militärischen Streitkräfte in der westlichen Hemisphäre stationieren darf.
Ich möchte anmerken, dass es in allen öffentlichen Äußerungen Putins in den Monaten vor dem Krieg nicht den geringsten Hinweis darauf gibt, dass er die Eroberung der Ukraine und ihre Eingliederung in Russland in Erwägung zog, geschweige denn weitere Länder in Osteuropa angreifen wollte.
Andere führende russische Politiker — darunter der Verteidigungsminister, der Außenminister, der stellvertretende Außenminister und der russische Botschafter in Washington — betonten ebenfalls die zentrale Bedeutung der NATO-Erweiterung als Ursache der Ukrainekrise.
Außenminister Sergej Lawrow brachte es auf einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 auf den Punkt, als er sagte:
„Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass die NATO nicht nach Osten expandiert.“
Dennoch scheiterten die Bemühungen Lawrows und Putins, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten dazu zu bringen, ihre Bestrebungen aufzugeben, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze Russlands zu machen, völlig.
Außenminister Blinken reagierte auf die Forderungen Russlands Mitte Dezember mit den Worten:
„Es gibt keine Veränderung. Es wird keine Änderung geben.“
Daraufhin startete Putin eine Invasion in der Ukraine, um die Bedrohung zu beseitigen, die er in der NATO sah.
Wo stehen wir jetzt und wo gehen wir hin?
Der Krieg in der Ukraine tobt nun seit fast vier Monaten. Im Folgenden möchte ich nun einige Überlegungen zu den bisherigen Ereignissen anstellen und aufzeigen, wohin sich der Krieg entwickeln könnte. Im Einzelnen werde ich drei Themen ansprechen:
- die Folgen des Krieges für die Ukraine,
- die Aussichten auf eine Eskalation — einschließlich einer nuklearen Eskalation — und
- die Aussichten auf eine Beendigung des Krieges in absehbarer Zeit.
Dieser Krieg ist für die Ukraine eine Katastrophe ohnegleichen. Wie ich bereits erwähnte, machte Putin 2008 deutlich, dass Russland die Ukraine zerstören würde, um sie am Beitritt zur NATO zu hindern. Dieses Versprechen löst er jetzt ein.
Die russischen Streitkräfte haben 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und viele ukrainische Städte und Ortschaften zerstört oder schwer beschädigt. Mehr als 6,5 Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, und mehr als 8 Millionen wurden zu Binnenvertriebenen. Viele Tausende Ukrainer — darunter auch unschuldige Zivilisten — sind tot oder schwer verwundet, und die ukrainische Wirtschaft liegt in Trümmern.
Die Weltbank schätzt, dass die ukrainische Wirtschaft im Laufe des Jahres 2022 um fast 50 Prozent schrumpfen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass der Ukraine Schäden in Höhe von rund 100 Milliarden Dollar zugefügt wurden, und der Wiederaufbau des Landes wird fast eine Billion US-Dollar erfordern. In der Zwischenzeit benötigt Kiew jeden Monat etwa 5 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern, nur um die Regierung am Laufen zu halten.
Darüber hinaus besteht wenig Hoffnung, dass die Ukraine in absehbarer Zeit ihre Häfen am Asowschen und Schwarzen Meer wieder nutzen kann. Vor dem Krieg wurden rund 70 Prozent aller ukrainischen Exporte und Importe — und 98 Prozent der Getreideexporte — über diese Häfen abgewickelt. Dies ist die Grundsituation nach weniger als vier Monaten Kampfhandlungen. Es ist geradezu beängstigend, sich vorzustellen, wie die Ukraine aussehen wird, wenn sich dieser Krieg noch ein paar Jahre hinzieht.
Wie stehen also die Aussichten für die Aushandlung eines Friedensabkommens und die Beendigung des Krieges in den nächsten Monaten? Leider muss ich sagen, dass ich keine Möglichkeit sehe, diesen Krieg in absehbarer Zeit zu beenden, eine Ansicht, die von prominenten politischen Entscheidungsträgern wie General Mark Milley, dem Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten (JCS), und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg geteilt wird.
Der Hauptgrund für meinen Pessimismus ist, dass sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten fest entschlossen sind, den Krieg zu gewinnen, und es unmöglich ist, eine Vereinbarung zu treffen, bei der beide Seiten gewinnen.
Genauer gesagt ist der Schlüssel zu einer Einigung aus russischer Sicht der, die Ukraine zu einem neutralen Staat zu machen und damit die Perspektive auf eine Eingliederung Kiews in den Westen zu beenden. Dieses Ergebnis ist jedoch für die Regierung Biden und einen großen Teil des amerikanischen außenpolitischen Establishments inakzeptabel, da es einen Sieg für Russland bedeuten würde.
Die ukrainische Führung hat natürlich Entscheidungsfreiheit, und es wäre hoffen, dass sie auf eine Neutralisierung drängt, um ihrem Land weiteren Schaden zu ersparen. Tatsächlich erwähnte Selenskyj diese Möglichkeit in den ersten Tagen des Krieges kurz, aber er verfolgte sie nie ernsthaft.
Die Chancen, dass Kiew auf eine Neutralisierung drängt, sind jedoch gering, da die Ultranationalisten in der Ukraine, die über erhebliche politische Macht verfügen, keinerlei Interesse daran haben, den Forderungen Russlands nachzugeben, insbesondere nicht denen, die die politische Ausrichtung der Ukraine gegenüber der Außenwelt vorschreiben. Die Regierung Biden und die Länder an der Ostflanke der NATO — wie Polen und die baltischen Staaten — werden die Ultranationalisten der Ukraine in dieser Frage wahrscheinlich unterstützen.
Noch komplizierter wird die Sache, wenn es um die großen Teile des ukrainischen Territoriums geht, die Russland seit Kriegsbeginn erobert hat, und um das Schicksal der Krim. Es ist schwer vorstellbar, dass Moskau das ukrainische Territorium, das es jetzt besetzt hält, freiwillig aufgibt, geschweige denn vollständig, da Putins territoriale Ziele heute wahrscheinlich nicht die gleichen sind wie vor dem Krieg. Gleichzeitig ist es ebenso schwer vorstellbar, dass ein ukrainischer Staatschef einem Abkommen zustimmt, das Russland erlaubt, ukrainisches Territorium zu behalten, außer vielleicht die Krim. Ich hoffe, dass ich falschliege, aber deshalb ist für mich kein Ende dieses ruinösen Krieges in Sicht.
Lassen Sie mich nun auf die Frage der Eskalation eingehen. Unter Wissenschaftlern im Bereich der internationalen Beziehungen ist weithin anerkannt, dass langwierige Kriege eine starke Tendenz zur Eskalation haben. Mit der Zeit können andere Länder in den Kampf hineingezogen werden, und das Ausmaß der Gewalt wird wahrscheinlich zunehmen. Das Potenzial dafür im Ukrainekrieg ist real. Es besteht die Gefahr, dass die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten in die Kämpfe hineingezogen werden, was sie bis jetzt vermeiden konnten, obwohl sie bereits einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen.
Zudem besteht die Möglichkeit, dass in der Ukraine Atomwaffen eingesetzt werden, was sogar zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten führen könnte. Der Grund dafür, dass es zu diesen Szenarien kommen könnte, liegt darin, dass für beide Seiten so viel auf dem Spiel steht, dass sich keine Seite eine Niederlage leisten kann.
Wie ich bereits betont habe, sind Putin und seine Stellvertreter der Ansicht, dass der Beitritt der Ukraine zum Westen eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellt, die beseitigt werden muss. In der Praxis bedeutet das, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine gewinnen muss. Eine Niederlage ist inakzeptabel.
Die Regierung Biden hingegen hat betont, dass ihr Ziel nicht nur darin besteht, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen, sondern auch, der russischen Wirtschaft mit Sanktionen massiven Schaden zuzufügen. Verteidigungsminister Lloyd Austin hat betont, dass das Ziel des Westens darin bestehe, Russland so weit zu schwächen, dass es nicht mehr in die Ukraine einmarschieren kann.
Die Biden-Administration hat es sich zum Ziel gesetzt, Russland aus dem Kreis der Großmächte zu verdrängen. Zugleich hat Präsident Biden selbst Russlands Krieg in der Ukraine als „Völkermord“ bezeichnet und Putin beschuldigt, ein „Kriegsverbrecher“ zu sein, dem nach dem Krieg ein „Kriegsverbrecherprozess“ gemacht werden sollte. Eine solche Rhetorik eignet sich kaum, um über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Denn wie soll mit einem Staat verhandelt werden, der Völkermord begeht?
Das Vorgehen der amerikanischen Politik beinhaltet zwei wichtige Konsequenzen. Zunächst einmal verstärkt sie die existenzielle Bedrohung, der Moskau in diesem Krieg ausgesetzt ist, und macht es wichtiger denn je, dass es sich in der Ukraine durchsetzt. Gleichzeitig bedeutet dies, dass die Vereinigten Staaten fest entschlossen sind, dafür zu sorgen, dass Russland den Krieg verliert. Die Regierung Biden hat inzwischen so viel in den Ukrainekrieg investiert — sowohl materiell als auch rhetorisch —, dass ein russischer Sieg eine verheerende Niederlage für Washington bedeuten würde.
Offensichtlich können aber nicht beide Seiten gewinnen. Außerdem besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass eine Seite massiv zu verlieren beginnt. Wenn die amerikanische Politik Erfolg hat und die Russen auf dem Schlachtfeld gegen die Ukrainer verlieren, könnte Putin zu Atomwaffen greifen, um die Situation zu retten.
Die Direktorin des US-Geheimdienstes Avril Haines sagte im Mai vor dem Senatsausschuss für Streitkräfte, dass dies eine der beiden Situationen sei, die Putin zum Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine veranlassen könnte. Diejenigen unter Ihnen, die dies für unwahrscheinlich halten, sollten sich daran erinnern, dass die NATO während des Kalten Krieges unter ähnlichen Umständen den Einsatz von Atomwaffen plante.
Sollte Russland in der Ukraine Atomwaffen einsetzen, lässt sich unmöglich sagen, wie die Regierung Biden reagieren würde, aber sie stünde sicherlich unter großem Druck, Vergeltung zu üben, was die Möglichkeit eines Atomkriegs zwischen den Großmächten erhöhen würde. Das Paradoxon daran: Je erfolgreicher die USA und ihre Verbündeten bei der Durchsetzung ihrer Ziele sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu einem Atomkrieg kommt.
Drehen wir den Spieß um und fragen uns, was passiert, wenn die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten auf eine Niederlage zusteuern, was effektiv bedeutet, dass die Russen das ukrainische Militär in die Schranken weisen und die Regierung in Kiew versucht, ein Friedensabkommen auszuhandeln, um so viel wie möglich vom Land zu retten. In diesem Fall wäre der Druck auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten groß, sich noch stärker in die Kämpfe einzumischen. Es ist nicht wahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass amerikanische oder vielleicht polnische Truppen in die Kämpfe hineingezogen werden, was bedeuten würde, dass sich die NATO buchstäblich im Krieg mit Russland befindet. Laut Haines ist dies das andere Szenario, bei dem die Russen zu Atomwaffen greifen könnten.
Es ist schwierig, genau zu sagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden, wenn dieses Szenario eintritt, aber es steht außer Frage, dass es ein ernsthaftes Potenzial für eine Eskalation, einschließlich einer nuklearen Eskalation, geben wird. Die bloße Möglichkeit eines solchen Ergebnisses sollte uns einen Schauer über den Rücken jagen.
Dieser Krieg bringt wahrscheinlich noch andere katastrophale Folgen mit sich, auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann. Beispielsweise gibt es Grund zur Annahme, dass der Krieg zu einer Welternährungskrise führen wird, in der viele Millionen Menschen sterben. Der Präsident der Weltbank, David Malpass, argumentiert, dass wir bei einer Fortsetzung des Krieges in der Ukraine mit einer globalen Nahrungsmittelkrise konfrontiert sein werden, die eine „menschliche Katastrophe“ darstellt.
Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen so stark vergiftet, dass es viele Jahre dauern wird, sie zu reparieren. In der Zwischenzeit wird diese tiefgreifende Feindseligkeit die Instabilität auf der ganzen Welt, insbesondere aber in Europa anheizen.
Einige werden sagen, dass es einen Silberstreif am Horizont gibt: Die Beziehungen zwischen den westlichen Ländern haben sich durch den Ukrainekrieg deutlich verbessert. Das stimmt zwar im Moment, aber unter der Oberfläche gibt es tiefe Risse, die mit der Zeit zwangsläufig wieder hervorkommen. So werden sich die Beziehungen zwischen den Ländern Ost- und Westeuropas mit zunehmender Dauer des Krieges wahrscheinlich verschlechtern, da ihre Interessen und Perspektiven in Bezug auf den Konflikt nicht übereinstimmen.
Schließlich schadet der Konflikt der Weltwirtschaft schon jetzt in erheblichem Maße, und diese Situation wird sich mit der Zeit wahrscheinlich noch verschärfen. Jamie Diamond, der CEO von JPMorgan Chase, sagt, dass wir uns auf einen wirtschaftlichen „Hurrikan“ einstellen sollten.
Wenn er recht hat, werden sich diese wirtschaftlichen Erschütterungen auf die Politik aller westlichen Länder auswirken, die liberale Demokratie untergraben und ihre Gegner auf der linken und rechten Seite stärken. Die wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekrieges werden nicht nur den Westen, sondern Länder auf der ganzen Welt betreffen.
Die UNO stellt dies in einem erst vorige Woche veröffentlichten Bericht fest:
„Die Welleneffekte des Konflikts dehnen das menschliche Leid weit über seine Grenzen hinaus. Der Krieg in all seinen Dimensionen hat eine globale Krise der Lebenshaltungskosten verschärft, wie sie seit mindestens einer Generation nicht mehr zu beobachten war, und gefährdet Leben, Lebensgrundlagen und unser Streben nach einer besseren Welt bis 2030.“
Schlussfolgerung
Kurz gesagt, der anhaltende Konflikt in der Ukraine ist eine kolossale Katastrophe, die, wie ich zu Beginn meines Vortrags feststellte, Menschen auf der ganzen Welt dazu bringen wird, nach den Ursachen zu fragen.
Diejenigen, die an Fakten und Logik glauben, werden schnell feststellen, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die Hauptverantwortung für dieses Unglück tragen.
Die Entscheidung vom April 2008, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, musste zu einem Konflikt mit Russland führen. Die Bush-Regierung war der Hauptarchitekt für diese verhängnisvolle Entscheidung, aber die Regierungen Obama, Trump und Biden haben diese Politik auf Schritt und Tritt gefördert, und Amerikas Verbündete sind dem Beispiel Washingtons pflichtbewusst gefolgt.
Obwohl die russische Führung unmissverständlich klarstellte, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO eine Überschreitung der „klarsten aller roten Linien“ bedeuten würde, weigerten sich die Vereinigten Staaten, den grundlegenden Sicherheitsbedenken Russlands Rechnung zu tragen, und setzten sich stattdessen unerbittlich dafür ein, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen.
Die tragische Wahrheit ist, dass es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine gäbe und die Krim immer noch Teil der Ukraine wäre, wenn der Westen nicht die NATO-Erweiterung in der Ukraine vorangetrieben hätte.
Im Grunde genommen hat Washington die zentrale Rolle dabei gespielt, die Ukraine auf den Weg der Zerstörung zu führen. Die Geschichte wird die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für ihre bemerkenswert törichte Politik gegenüber der Ukraine hart bestrafen. Ich danke Ihnen.
John J. Mearsheimer ist der R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Chicago. Zu seinen zahlreichen Büchern gehören The Great Delusion: Liberale Träume und internationale Realitäten und Die Tragödie der Großmachtpolitik.
Redaktionelle Anmerkung: Diese Rede wurde am Donnerstag, den 16. Juni 2022, am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz gehalten und der Text am 23. Juni 2022 unter dem Titel „The Causes and Consequences of the Ukraine Crisis bei The National Interest veröffentlicht. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektorat lektoriert.
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