Herr Balodis, wie erklären Sie sich, dass die Rente für die „große“ Politik selbst im Wahlkampf so gut wie keine Rolle spielte?
Das liegt unter anderem an der Politik, die die jeweiligen Parteien in den vergangenen 20 Jahren betrieben haben. Union und FDP fühlen sich so eindeutig der Arbeitgeberseite und der Finanzwirtschaft verpflichtet, dass eine Umkehr in der Rentenpolitik praktisch ausscheidet. SPD und Grüne sehen sich noch immer außerstande, sich klar von den desaströsen Riester-Reformen, die sie selbst zu verantworten haben, zu distanzieren. All diese Parteien fürchten, mit einer Rentendebatte nicht wirklich punkten zu können. Allein DIE LINKE positioniert sich deutlich für bessere Renten.
In Ihrem Buch kritisieren Sie: Altersarmut ist kein Schicksal, sondern politisch gemacht und bewusst in Kauf genommen. Spätestens seit der Riester-Reform 2001 hat die damalige rot-grüne Regierung das Wachstum der Renten ganz bewusst vom Wachstum der Löhne abgekoppelt. Die Renten steigen seitdem langfristig ein Drittel langsamer als die Löhne. Private Vorsorge soll das ausgleichen. Warum geht dieses Konzept nicht auf?
Weil zu den beschriebenen abgedämpften Rentenanpassungen noch Verschlechterungen im Rentenrecht kommen, die die Renten von Neurentnern noch stärker drücken. Die private Vorsorge kann das bei weitem nicht ausgleichen: Sie ist sehr kostenbelastet und das drückt natürlich sehr die Rendite. Dazu kommt die Niedrigzinspolitik und der fatale Konstruktionsfehler, dass viele Formen der privaten Vorsorge die gesetzliche Rente schädigen: Ich baue eine zweite und dritte Säule der Alterssicherung auf und schädige damit die erste Säule. Das ist vollkommen absurd.
Sie bezeichnen die gesetzliche Rentenversicherung mit ihrem Umlagesystem als Erfolgsmodell, weshalb?
Das Umlageverfahren ist stabil, unglaublich flexibel und unabhängig von der Verzinsung am Kapitalmarkt. Beispielsweise hat die Nullzinspolitik auf die gesetzliche Rente praktisch keinen Einfluss. Wie anpassungsfähig und leistungsfähig das Umlagesystem ist, hat die deutsche Einheit bewiesen: Ohne langen Vorlauf und ohne dass zuvor Geld angelegt werden musste, konnten Millionen Rentner in Ostdeutschland integriert und mit deutlich verbesserten Renten ausgestattet werden. Eine sensationelle Erfolgsgeschichte.
Politik und sogenannte „Experten“ mit Verbindungen zur Versicherungswirtschaft haben es geschafft, innerhalb weniger Jahre das funktionierende Modell der gesetzlichen Rentenversicherung zu diskreditieren und zu schwächen. Untragbare „Rentnerberge“ und unzumutbar hohe Sozialabgaben für die Arbeitgeber waren in aller Munde. Konzertierte Propaganda?
Zumindest eine stark interessengeleitete Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Das ging aber nicht von heute auf morgen. Die Meinungsmache fing bereits in den frühen 1980er Jahren an, wurde schließlich im Rahmen der allgemeinen Privatisierungswelle gegen Ende der 1990er Jahre zum Mainstream und ermöglichte schließlich die Riester-Reformen. Es wird erneut viele Jahre dauern, das falsche Bild in den Köpfen wieder zu korrigieren.
Die Mär von der Demographie als rentenverschlingendem Monster konnte ja nur verfangen, weil man den Zugewinn an Produktivität unterschlagen hat – wie viel Absicht steckte dahinter?
Sehr viel, weil die Panikmache sonst ja nicht funktionieren würde. Die demografischen Prozesse sind schon viele Jahrzehnte wirksam. Wären sie der entscheidende Faktor, wäre die Rentenkasse schon lange pleite. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die gesetzliche Rente funktioniert prächtig, sie wird nur politisch klein gehalten.
Etikettenschwindel spielt ja eine große Rolle bei dem Rentenbetrug: „Rentenreformen“, „Betriebsrente“ oder auch „Betriebsrentenstärkungsgesetz“ klingen erst mal gut. Hat dabei bei näherem Hinsehen immer der abhängig Beschäftigte das Nachsehen?
Aus der früheren Betriebsrente soll damit beispielsweise eine Leistung werden, die der Arbeitnehmer fast alleine finanzieren soll und bei der keineswegs sicher ist, dass am Ende so viel rauskommt, wie zuvor eingezahlt wurde. Und im Alter zahlt der Rentner in der Kranken- und Pflegeversicherung auch noch den Arbeitgeberbeitrag mit, falls er gesetzlich krankenversichert ist. Ich unterstreiche: Das noch Betriebsrente zu nennen, ist Etikettenschwindel
Mich hat in Ihrem Buch „Die große Rentenlüge“ eine Rechnung besonders beeindruckt: Wie die rot-grüne Bundesregierung den Arbeitgeber-Anteil eingefroren hat, um im Gegenzug dem Arbeitnehmer seit dem Jahr 2000 peu à peu immer höhere Kosten aufzuhalsen. Könnten Sie uns das kurz vorrechnen?
Den Arbeitgebern wurden ja mit den Riester-Reformen niedrige Rentenbeiträge quasi zugesichert.
Die sollen von heute 18,7 Prozent bis 2030 auf maximal 22 Prozent steigen, also maximal 11 Prozent für die Arbeitgeber.
Gleichzeitig soll die Gesamtbelastung aus gesetzlicher Rente, Riester-Rente und betrieblicher Vorsorge auf 29 Prozent steigen. Nach Adam Riese müsste der Arbeitnehmer davon dann 18 Prozent alleine zahlen.
Für wen macht unsere Regierung eigentlich ihre Renten-Politik, wenn die breite Mehrheit dabei das Nachsehen hat?
Profiteure sind derzeit eindeutig die Arbeitgeber und die Finanzwirtschaft. Auch die Beamten kann man als Gewinner sehen, so lange ihre Stellung weitgehend unangetastet bleibt, während die gesetzlichen Renten relativ immer mehr an Wert verlieren.
Das Argument für die Absenkung des Rentenniveaus war ja: Wenn wir in Deutschland keine Massenarbeitslosigkeit wollen, müssen wir die Arbeitgeber bei den Sozialabgaben entlasten. Ist das ganz von der Hand zu weisen - würde man kleine Arbeitgeber nicht tatsächlich überfordern, wenn die Sozialabgaben weiter ungebremst stiegen?
Ein schönes Beispiel dafür ist Österreich: Dort hat man sich gegen verstärkte private Vorsorge entschieden und stattdessen die Beiträge auf 22,8 Prozent festgesetzt. Und die Arbeitgeber zahlen davon nicht nur die Hälfte, sondern sogar 12,55 Prozent. Das hat der wirtschaftlichen Entwicklung keineswegs geschadet. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist höher als bei uns. Aber das Wichtigste: Die ausgezahlten Renten liegen in allen Bereichen erheblich über dem deutschen Niveau.
Jeder fünfte Beschäftigte hat einen Niedriglohn-Job und ist damit prädestiniert für eine Rente auf Grundsicherungs-Niveau. Die Verteidiger der Hartz-Gesetzgebung sagen: Die Alternative zu Hartz IV sei eine deutlich höhere Arbeitslosenquote und damit wiederum ein großer Prozentsatz an armen Rentnern. Ist diese Argumentation stichhaltig?
Was die spätere Rente angeht ist es praktisch egal, ob jemand über lange Zeit einen Niedriglohn-Job hatte oder arbeitslos war. Solange keine Mindestrente existiert, landet er mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Altersarmut. Doch das genannte Szenario würde ich ohnehin stark anzweifeln. Wer sagt denn, dass höhere Löhne zu mehr Arbeitslosigkeit führen müssen? Die Schweiz belegt das Gegenteil. Auch die Einführung des Mindestlohns bei uns brachte nicht mehr Arbeitslosigkeit. Was wir brauchen, ist eine Kombination aus höheren Löhnen für die Beschäftigten und höheren Renten für die Ruheständler.
Eine gängige These lautet: Wir haben die Wahl – entweder auskömmliche Renten für die heutige Rentnergeneration oder Generationen-Gerechtigkeit. Müssen wir uns wirklich zwischen diesen zwei Gütern entscheiden?
Natürlich nicht. Was soll denn gut und gerecht daran sein, dass die Renten nach unten gefahren werden und die Jungen gleichzeitig gezwungen werden, über die Schmerzgrenze hinaus privat vorzusorgen. Davon hat doch niemand etwas, außer den Anbietern dieser Vorsorgeprodukte.
Die Riester-Rente ist laut DIW „nicht besser als ein Sparstrumpf“ – worin besteht denn der Webfehler dieser staatlich geförderten Zusatzrente?
Das Grundproblem ist: Wenn ich ein effizientes, umlagefinanziertes Verfahren teilweise durch ein deutlich teureres Verfahren ersetze, ist es unwahrscheinlich, dass am Ende mehr herauskommt als vorher. Wenn nun noch eine Nullzinspolitik dazukommt, ist es gänzlich unmöglich. Das einzige, was eine Riester-Rente aus Kundensicht positiv erscheinen lässt, ist eine im Einzelfall sehr hohe staatliche Förderquote. Doch dieses Geld sollte besser direkt in die gesetzliche Rente fließen.
Die Riester-Rente ist auch deshalb ein Flop, weil weniger als die Hälfte der Förderberechtigten überhaupt einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben. Inwiefern kann man das denn der Politik vorwerfen?
Gar nicht. Sie tut nun wirklich alles, um die Menschen in die Riester-Rente hineinzutreiben. Doch die Menschen spüren, dass die Riester-Rente Teil eines gewaltigen Rentenschwindels ist. Sie haben schlicht das Vertrauen verloren.
Sie fordern, dass alle, besonders die Zahlungskräftigen einzahlen sollen in die Rentenkasse, so wie es ja Länder wie Österreich vormachen. Geht diese Rechnung denn auf – kommen denn dann nicht immense Kosten auf das System zu, wenn diese „starken Schultern“ dann entsprechend hohe Renten beanspruchen?
Zunächst mal wird ein System gerechter und stabiler, wenn alle Erwerbstätigen nach den gleichen Kriterien einzahlen und ihre Rente beziehen. Das wäre das Ende der Rosinenpickerei, wie wir sie derzeit erlauben. Richtig ist, dass den Einzahlungen auch spätere Rentenzahlungen gegenüberstehen.
Da man gegenwärtig die Beamten und Freiberufler, die ja bereits hohe Anwartschaften gegen den Staat oder ihre Versorgungswerke erworben haben, nicht mehr in die staatliche Rente überführen kann, bietet sich eine schrittweise Integration der jüngeren Jahrgänge an. Dieses Vorgehen führt erst zu Rentenzahlungen in rund 40 Jahren. Im Jahre 2060 haben wir aber die für die Rentenkasse angenehme Situation, dass die Generation der Babyboomer statistisch gesehen verstorben ist und keine Rente mehr bezieht. Das verschafft Luft für die Rentenzahlung auch an Beamte und ehemalige Freiberufler. Die extrem positiven Effekte einer solchen schrittweisen Eingliederung hat übrigens die Bertelsmann Stiftung eindrucksvoll bestätigt.
Welche gesellschaftlichen Kräfte könnten denn zu einer Umkehr in der Rentenpolitik beitragen?
Da fehlt mir derzeit leider ein wenig die Fantasie. Neben der Partei DIE LINKE sollte eigentlich die SPD ein klassischer Bündnispartner sein. Außerdem die Gewerkschaften, doch die fahren ihre Rentenkampagne aktuell leider nur mit halbem Herzen. Doch wenn die Altersarmut noch deutlicher wird, mag sich das ja vielleicht ändern.
Sie loben ja das Umlagesystem als effizient (niemand verdient daran) und krisenfest (unabhängig vom Kapitalmarkt). Doch wie krisenfest ist es in Zeiten stagnierenden oder sehr mäßigen Wirtschaftswachstums? Und: Wie sinnvoll ist es, die Renten abhängig zu halten vom Wirtschaftswachstum angesichts der ungelösten ökologischen Probleme durch unseren ungebremsten Ressourcenverbrauch?
Na ja, wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot. Soll heißen: Wenn das Wirtschaftssystem in der bisherigen Form kollabiert, wird das auch die Renten treffen, denn die müssen ja irgendwie finanziert werden. Selbstverständlich muss man die Rente immer an veränderte Rahmenbedingungen anpassen. Wenn also beispielsweise die kommende Digitalisierung zu einer massenhaften Freisetzung von Arbeitskräften führen sollte, könnte man über eine veränderte Beitragszahlung nachdenken: Die Arbeitgeber könnten statt des Arbeitgeberanteils eine Wertschöpfungsabgabe zahlen.
In Ihrem Buch decken Sie nicht nur die Missstände in der Rentenpolitik auf, sondern präsentieren auch einen „Masterplan“, der Mut macht. Könnten Sie kurz skizzieren, welche Alternativen es zur jetzigen Armut produzierenden Rentenpolitik gibt?
Das Erste ist, dass man sich vom Dogma niedriger Rentenbeiträge verabschiedet. Weiterhin sollte man die fehlgeschlagenen Privatisierungsschritte mit Riester-Rente und Betriebsrente per Entgeltumwandlung beenden. Zentral ist auch die Einführung einer echten Erwerbstätigenversicherung, also die Einbeziehung von Beamten, Selbstständigen, Freiberuflern, Spitzenmanagern und Politikern. Wenn man dann noch eine vernünftige Mindestrente einführt, sind die wichtigsten Punkte genannt.
Wagen wir eine Vision: Was spricht dagegen, Rentenbeiträge künftig nicht mehr ausschließlich von Arbeitseinkommen abzuführen, sondern auch Vermögen, Dividenden, Unternehmensumsätze und -gewinne rentenbeitragspflichtig zu machen? Wäre das nicht der richtige Weg zu mehr Gerechtigkeit?
Ich denke, man sollte die Reform zunächst mit den von mir genannten Punkten beginnen. Die lassen sich problemlos mit den gegenwärtigen Strukturen der Deutschen Rentenversicherung bewerkstelligen. Die Einbeziehung von Gewinnen und Kapitaleinkünften ist unserem gehalts- und beitragsbezogenen System zunächst fremd. Es wäre aber, wie die Schweiz zeigt, durchaus denkbar. Die Einbeziehung dieser Quellen könnte allerdings auch über eine konsequentere Besteuerung und eine Erhöhung der Bundesanteils an der Rente erfolgen. Unstrittig ist aus meiner Sicht: Die wirklich Leistungsfähigen in dieser Gesellschaft müssen künftig stärker für die Alterssicherung herangezogen werden, ganz gleich auf welchem Weg.
Herr Balodis, vielen Dank für das Interview!
Mehr fundierte Analyse finden Sie im neuen Buch:
Holger Balodis, Jahrgang 1960, Diplom-Volkswirt, lebt in Köln, hat über 25 Jahre als Autor für ARD-Magazine wie Monitor und Plusminus gearbeitet. Seit 2010 arbeitet er ausschließlich als Buchautor und hält Vorträge zu Altersvorsorge und Rente. 2012 erschien der Spiegel-Bestseller "Die Vorsorgelüge", 2015 mit "Garantiert beschissen" eine kritische Abrechnung mit privater Altersvorsorge. Im August 2017 erschien „Die große Rentenlüge - warum ein gute und bezahlbare Alterssicherung für alle möglich ist“.
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